Suche

Märchenbasar

Das Auge des Flusses

1
(1)

In einem fernen, sehr fernen Land lebten einmal ein junger Mann und eine junge Frau, die einander so lieb hatten, dass sie für immer zusammenleben wollten. Es war ein alter Brauch, dass alle Liebenden eine Prüfung bestehen mussten, bevor sie Hochzeit halten durften. Diesem Paar wurde auferlegt, hinunter zum Fluss zu gehen, um den Fährmann und seine Frau abzulösen. Sie waren alt geworden und ihr Tagwerk bereitete ihnen viel Mühe. Nach einem Monat gemeinsamer Arbeit sollten die Jungen alle Aufgaben gut beherrschen. Die Prüfung war auf sieben Monate begrenzt. Wenn die junge Frau und der junge Mann – sie hießen Mara und Leon – nach dieser gemeinsamen Zeit einander noch immer liebten, sollte Hochzeit gefeiert werden.
Nachdem ein Monat vergangen war, beherrschten sie ihre Aufgaben so gut, dass sich der Fährmann und seine Frau voller Vertrauen zurückzogen. Mara hielt die kleine Hütte sauber, pflegte den Gemüsegarten und sorgte für das Wohl ihres Liebsten. Leon übernahm das Ziehseil des Fährmannes und brachte die Reisenden sicher über den Fluss. Die beiden Liebenden hatten viel Freude aneinander. Wenn er am Abend heimkehrte, stand sie im Garten und hielt Ausschau nach ihm. Sie umarmten und küssten einander, als wären sie Jahre getrennt gewesen.
Eines Tages brachte Leon einen Gast mit. Mara fühlte sich in seiner Nähe nicht wohl. Er hatte nur ein Auge, mit dem er sie durchdringend anschaute. Als die beiden Männer nach dem Essen allein waren, fragte der Gast: „Was liebst du an dieser Frau?“
„Ja, hast du nicht gesehen, was für wunderschöne Augen sie hat? Mir wird immer ganz wohl ums Herz, wenn sie mich anschaut“, schwärmte der junge Mann.
„Hast du denn gar nicht bemerkt, dass sie ein blaues und ein braunes Auge hat? Das bringt Unglück. Solche Frauen haben kein Herz. Sobald ihr verheiratet seid, wirst du keinen guten Tag mehr haben“, warnte der Gast und verabschiedete sich. Seine Worte legten sich wie eine Schlange um Leons Brust und nagten an seinem Herzen. Mara fragte ihn, was geschehen sei, doch er antwortete ihr nicht. Drei Tage lang ertrug sie sein Schweigen. Am vierten Tag aber schrie sie wütend: „Ich möchte endlich wissen, was ich dir getan habe!“ Er schwieg noch immer.
Am nächsten Morgen war das Bett neben ihr leer. Sie warf sich ihr Tuch über und lief zum Fluss. Die Fähre lag am anderen Ufer. Leon war nirgends zu sehen. Was war geschehen? Hatte er von dem seltsamen Gast eine neue Aufgabe erhalten, über die er nicht sprechen durfte?
Sie schöpfte neue Hoffnung, ging in den Garten, pflückte Erdbeeren und kochte eine köstliche Marmelade. Der süße Duft strömte durch das Fenster, breitete sich über den Garten aus und zog weiter bis hinunter zum Fluss.
Am Abend setzte sie sich auf die Bank, die ihr Liebster gezimmert hatte und wartete. Ein Mann kletterte den Hang hinab. Als er näher kam, erkannte sie ihren Vater. Er war unterwegs zur fernen Stadt und musste den Fluss überqueren, aber erst half er seiner Tochter, die Fähre zurückzuholen. Als er weitergezogen war, übernahm sie die Aufgabe des Fährmannes.
In der Nacht wurde Mara unsanft aus dem Schlaf gerissen. Fernes Grollen kündete von einem nahenden Gewitter. Den ganzen Tag lang hatte sie Reisende übergesetzt. Es war ihr am Abend nicht genug Kraft geblieben, die Fähre fest zu verankern. Gefahr drohte! Mara stieg zum Fluss hinab. Das tosende Wasser riss am Seil. Vom anderen Ufer her hörte sie Hilferufe. Geschwind setzte sie die Fähre in Bewegung. Die Strömung war stark. Mit aller Kraft zog sie am Seil. Ihre Arme schmerzten. Endlich wurde der Fluss flacher und sie erreichte das Ufer. Ein Blitz warf sein grelles Licht zwischen die Baumriesen. Ein zartes, fast durchsichtiges Mädchen lag zusammengekrümmt am Boden. Schwer atmend bat es, zurück zum Fluss getragen zu werden. Jetzt erst bemerkte Mara dessen Fischschwanz. Der Gewittersturm musste es an das Ufer geworfen haben. Sie brachte die Nixe zum Wasser zurück. Glücklich tauchte sie unter. Kurz darauf leuchtete der Fluss golden. Die Nixe schwamm ans Ufer. In ihren Händen hielt sie eine goldene Schüssel, in deren Mitte ein smaragdgrüner Stein funkelte.
„Ich heiße Undine und bin des Flusses jüngste Tochter. Mein Vater ist sehr froh über meine Rettung. Als Dank für deine mutige Tat schenkt er dir eines seiner zwölf Augen. Mein Vater ist überall zugleich, in den hohen Bergen an der Quelle bis zur Mündung im fernen Meer. Du musst die Schüssel mit Flusswasser füllen. Ist der Smaragd nass, so nimm ihn heraus und lege ihn in die Sonne. Beginnt er von innen her zu leuchten, werden auf seiner Oberfläche Bilder entstehen. Du wirst alles sehen können, was am Ufer des Flusses geschieht.“

Leon war flussabwärts gezogen. Am Abend legte er sich unter freiem Himmel zum Schlafen nieder. Er dachte an Mara.
An den folgenden Tagen veränderte sich die Landschaft. Der Fluss wurde breiter, das andere Ufer war kaum noch zu sehen. Auf den Feldern arbeiteten Bauern. Als er am Abend bei ihnen saß, erzählten sie ihm von der nahen Stadt: Sie erstrecke sich zu beiden Seiten des Flusses. Eine große Fähre befördere nicht nur Menschen, sondern setze auch Pferdefuhrwerke über. Wie kann ein Mann allein eine solche Last auf dem Wasser bewegen? Das wollte er sehen.
Der Größe der Stadt übertraf all seine Erwartungen. Die Hänge waren bebaut. Bis weit hinauf sah er Häuser. Auf dem Markt wurden Waren angeboten, die er noch nie gesehen hatte. Das größte Wunder aber war die Fähre. Drei Fuhrwerke fanden Platz auf ihr.
Leon bat den Fährmann, bei ihm bleiben zu dürfen. Er wolle von ihm lernen, ein so großes Boot wie dieses überzusetzen. Der Fährmann lud ihn ein, bei seiner Familie zu wohnen. Als Leon des Fährmanns Frau begrüßte, war er sehr überrascht. Sie hatte auch ein blaues und ein braunes Auge. Nachdem er drei Wochen lang bei ihnen gelebt hatte, wusste er, dass sie eine liebevolle Ehefrau und Mutter war. Leon hörte kein böses Wort von ihr. Der Einäugige hatte gelogen. Darüber war er sehr glücklich. Schon bald würde er heimkehren zu seiner Liebsten und sie um Verzeihung bitten.

Eben wollte Mara in das Flussauge schauen, um Leon zu suchen, als der Einäugige vom anderen Ufer rief. Schnell verbarg sie den Smaragd und holte den Mann über.
„Na, ist dir dein Liebster davongelaufen? Ich habe ihn in der Stadt Arm in Arm mit einer schönen Frau gesehen“, begrüßte er sie höhnisch grinsend. Schweigend nahm sie ihren Lohn entgegen. Sie konnte es gar nicht erwarten, dass er endlich verschwand.
Gleich wird sie Leon sehen können. Sie benetzte den Smaragd mit dem Wasser des Flusses und legte ihn in die Sonne. Als er im Inneren zu leuchten begann, erblickte sie als erstes ihren Vater, der sich mit einem prall gefüllten Rucksack der Anlegestelle näherte. Auf den nächsten Bildern sah sie, wie der Fluss immer breiter wurde. Eine große Fähre, schwer mit Fuhrwerken beladen, wurde sichtbar. Am Ruder stand Leon. Eine schöne Frau brachte ihm das Mittagessen. Der Stein fiel Mara aus der Hand. Der Einäugige hatte also die Wahrheit gesagt.
„Willst du mich gar nicht übersetzen, Mara“, rief der Vater vom anderen Ufer. Sie erschrak. Als sie sich nach dem Smaragd bückte, war er verschwunden. Sie setzte die Fähre in Gang und erzählte ihrem Vater, was ihr der Edelstein Trauriges offenbart hatte.
„Es ist gut so, ich will Leon nicht mehr sehen“, sagte sie.
„Geh hin und finde selbst die Wahrheit heraus. Ich werde inzwischen Fährmann sein“, entschied der Vater.
Mara verließ den Wald und staunte über die großen Felder und Wiesen. In der Ferne erkannte sie die Umrisse der Stadt. Am Abend des dritten Tages kam sie zur Fähre.

Leon hatte gerade die letzten Fuhrwerke übergesetzt und ging zu des Fährmanns Haus. Eine junge Frau kam ihm entgegen. Ihr Gang war ihm sehr vertraut. Es musste Mara sein. Glücklich lief er auf sie zu und schloss sie in seine Arme. Da wusste sie, dass Leon sie noch immer liebte. Er erzählte seiner Liebsten, warum er sie verlassen hatte. Der Einäugige habe ihn bewusst getäuscht, das wisse er jetzt.
Am nächsten Morgen begann Leons letzter Arbeitstag. Mara begleitete ihn. Am Nachmittag übernahm der Fährmann das Ruder, weil Leon seiner Liebsten die Stadt zeigen wollte. Er kaufte ihr auf dem Markt ein Tuch, das in allen Farben des Regenbogens leuchtete.
Am Abend verabschiedeten sie sich und wanderten am Fluss entlang nach Hause zurück. Der Vater war sehr froh, die beiden Arm in Arm auf sich zukommen zu sehen. Zur Begrüßung überreichte er Mara den Smaragd und erzählte:“Der Einäugige hat ihn gefunden. Als er einen hohen Finderlohn verlangte, kam plötzlich ein Wind auf und wehte zarte Klänge vom anderen Ufer herüber. Eine Flussnixe sang zur Harfe. Der Kerl schien alles um sich herum vergessen zu haben, ließ den Stein fallen, warf sich in die Fluten und schwamm auf die Nixe zu. Er geriet in einen Strudel, der ihn in die Tiefe zog.“
Mara war erleichtert, als sie das hörte. Gemeinsam schauten sie in das Auge des Flusses, bewunderten die Landschaften und staunten über die Größe des Meeres.
Als die Probezeit von sieben Monaten abgelaufen war, stimmte der Dorfälteste der Hochzeit zu und es wurde ein großes Fest gefeiert.
Der Tischler des Dorfes baute gemeinsam mit Leon eine neue Fähre und das Fährhaus bekam einen Anbau. Im Laufe der nächsten Jahre wuchs die Familie. Mara gebar sieben Kinder. Zwei von ihnen hatten ein blaues und ein braunes Auge, ebenso wie ihre liebe Mutter.

Quelle: nicht angegeben

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content