nur der Rüssel glänzt, als sei er poliert, und das ist er auch von den vielen hundert Kindern und den Bettlern, die ihn mit den Händen anfassen und ihren Mund an den Rüssel des Tieres legen, um zu trinken. Es ist ein ganzes Gemälde, das wohlgestaltete Tier von einem hübschen, halbnackten Knaben umfasst zu sehen, der die frischen Lippen an den Rüssel des Schweines legt.
Es war ein später Winterabend – die Berge waren mit Schnee bedeckt, aber es war Mondschein. Im Schloßgarten hatte ein kleiner, zerlumpter Knabe den ganzen Tag gesessen, hungernd und dürstend, ohne daß jemand ihm eine Gabe reichte. Als es dunkelte und der Garten geschlossen werden sollte, jagte der Pförtner ihn hinaus. Lange stand er träumend auf der Brücke, die über den Arno führt, und blickte die Sterne an, die im Wasser sich spiegelten. Dann schlug er den Weg zu dem ehernen Schwein ein, kniete halb nieder, schlang seine Arme um den Hals des Tieres, legte seinen Mund an den glänzenden Rüssel und trank das frische Wasser in großen Zügen. Dicht daneben lagen ein paar Salatblätter
und ein paar Kastanien – sie wurden seine Abendmahlzeit. Kein Mensch außer ihm war auf der Straße, sie gehörte ihm allein, und getrost setzte er sich auf den Rücken des Schweines, neigte sich vor, daß sein
lockiges Haupt auf dem Kopfe des Tieres ruhte, und ehe er sich’s versah, war er eingeschlafen.
Es war Mitternacht. Das eherne Schwein regte sich, der Knabe hörte es geduldig sagen: „Du kleiner Knabe, halt dich fest, denn nun laufe ich fort!“ Und da lief es auch schon mit ihm davon. Es war ein wunderbarerer Ritt.
Von Straße zu Straße, von Platz zu Platz ging es; die Statuen von Gruppen, an denen sie vorbeikamen, wurden lebendig, und endlich kamen sie nach einem großen, Palaste, in dessen Erdgeschoß sie eine lange Galerie betraten; der Knabe war schon früher einmal dagewesen. An den Wänden prangten Malereien, und Statuen und Büsten standen umher, alles im schönsten Lichte, als sei es heller Tag. In einem der Seitengemächer stand eine weibliche Gestalt, so schön, wie nur des Marmors größter Meister sie formen konnte. Die schönen Glieder schienen sich zu bewegen, Delphine sprangen zu ihren Füßen, Unsterblichkeit leuchtete aus ihren Augen. Die Welt nannte sie mediceische Venus. Ihr zur Seite standen standen andere Marmorbilder, an den Wänden hingen herrliche Gemälde, alles war Leben und Bewegung. Welcher Glanz und welche Schönheit von Saal zu Saal! Das Metallschwein ging Schritt für Schritt durch all diese Pracht und Herrlichkeit, und der Kleine sah alles, doch verdrängte immer ein Eindruck den andern. Nur ein Bild prägte sich tief in seine Seele ein; er stellte Christus dar, wie er hinabsteigt in die Unterwelt, aber es sind nicht die Verdammten, die man um ihn her sieht, sondern Heiden. Der Florentiner Angiolo Brozino hat dieses Bild gemalt. Am herrlichsten ist der Gesichtsausdruck der Kinder, das volle Vertrauen, daß sie in den Himmel kommen werden; zwei Bürschchen umarmen sich schon und ein Kleiner streckt die Hand nach einem andern, tiefer stehend aus und zeigt auf sich, als wolle er sagen: „Ich werde in den Himmel kommen!“ Die älteren stehen ungewiß, hoffend, oder beugen sich anbetend vor Christus. Länger als auf einem der andern Bilder weilte des Knabens Blick gerade auf diesem, als er aber seine Hände zu den lächelnden Kindern erhob, lief das Tier mit ihm durch den offenen Vorsaal fort. – „Dank und Segen dir, du liebes Tier!“ sagte der kleine Knabe und liebkoste das eherne Schwein, das mit ihm die Treppe hinabsprang.
„Dank und Segen dir selbst!“ sagte das eherne Schwein.
„Ich habe dir und du hast mir geholfen, denn nur mit einem unschuldigen Kinde auf dem Rücken erhalte ich die Kraft zum Laufen. Ich darf sogar, wenn du bei mir bist, durch eine offene Kirchentür sehen. Steig nicht von meinem Rücken herunter, sonst bleibe ich tot liegen, wie du mich am Tage siehst!“ – „Ich bleibe bei dir, mein treues Tier!“ sagte der Kleine, und so ging sie in sausender Eile durch die Straßen von Florenz, hinaus auf den Platz vor der Kirche Santa Croce.
Die Flügeltür sprang auf, Lichter strahlten von dem Altare. Ein heller Glanz entströmte dem einen der Grabmonumente im linken Seitengange – es war das Grab des großen Galilei. Rechts im Kirchengange schien jede der Bildsäulen auf den reichen Sarkophagen Leben erhalten zu haben; da standen Michel Angelo, Dante, Alfieri, Macchiavelli, Seite an Seite ruhten hier die großen Männer, Italiens Stolz. Es war, als regten sich die marmornen Gewänder, las reckten die großen Gestalten ihre Häupter höher empor und schauten hinauf zu dem bunten, strahlenden Altar. Der Knabe streckte seine Hand nach dem Lichtglanz aus, und sogleich eilte das Metallschwein weiter. Er mußte sich an seinem Halse festhalten, der Wind sauste ihm um die Ohren, er hörte die Kirchentür in den Angeln kreischen, fühlte eine eisige Kälte – und schlug die Augen auf.
Es war Morgen; er saß halb hinabgeglitten, auf dem Rücken des Schweines, das an seinem gewohnten Platze vor der Markthalle stand. Angst erfüllte den Knaben bei dem Gedanken an die, welche er seine Mutter nannte, und die ihn gestern zum Betteln ausgesandt hatte. Er hatte nichts, und ihn hungerte und dürstete. Er erhob sich und wanderte fort nach einer der engen Gassen, die kaum für einen bepackten Esel breit genug waren.
Eine große, eisenbeschlagene Tür war dort halb angelehnt, hier stieg er eine gemauerte Treppe an schmutzigen Wänden und einem Seil, das als Geländer diente, hinan und gelangte an eine offene, mit Lumpen behängte Galerie. Von hier führte eine Treppe in den Hof hinab, wo vom Brunnen große Eisendrähte nach allen Etagen des Hauses gezogen waren, und ein Wassereimer neben dem andern schwebte, während die Rolle knarrte, und der Eimer in der Luft tanzte, daß das Wasser in den Hof hinunter plätscherte. Wieder führte eine verfallene, gemauerte Treppe aufwärts, und eine nicht mehr junge, doch üppige Frauengestalt mit vollem schwarzen Haar kam dem Knaben in dem ärmlichen Stübchen, das er nun betrat, entgegen.
„Was bringst du nach Hause?“ fragte sie. – „Sei nicht böse!“ bat der Knabe, „Ich bekam nichts, gar nichts!“
Und er ergriff der Mutter Kleid, als wollte er es küssen.
„O, sicher hast du Geld bekommen!“ schrie sie.
Das Kind weinte, sie aber stieß es mit dem Fuße, daß es laut jammerte. „Wirst du schweigen? Ich schlage dir den Schädel ein!“ – Und sie schwang den eisernen Henkeltopf, den sie in der Hand hielt. Der Knabe bückte sich mit einem Schrei zur Erde – da trat die Nachbarin zur Tür herein. „Felicita! Was tust du?“ rief sie laut.
„Das Kind ist mein!“ antwortete Felicita. „Ich kann es ermorden, wenn ich will, und dich mit dazu, Gianinna!“
Und sie schwang wieder ihren Henkeltopf, Die beiden gerieten aneinander – und inzwischen schlüpfte der Knabe aus der Tür und über den Hof aus dem Hause.
Das arme Kind lief, daß es bald nicht mehr atmen konnte; es hielt bei der Kirche an, deren große Tür sich in voriger Nacht vor ihm aufgeschlossen hatte, und ging hinein. Der Knabe kniete zur Rechten nieder, es war das Grab Michel Angelos, und begann laut zu schluchzen.
Leute kamen und gingen, die Messe wurde gelesen, doch niemand bemerkte den Knaben. Nur ein ältlicher Bürger blieb stehen, blickte ihn an – und ging fort wie die andern. Hunger und Durst plagte den Kleinen, er war ganz entkräftet und krank; er kroch in einen Winkel zwischen den Marmormonumenten und schlief da ein.
Es war gegen Abend, als er durch ein Zupfen geweckt wurde, und als er aufsah, stand derselbe alte Bürger vor ihm. – „Bist du krank? Wo bist du zu Hause? Bist du den ganzen Tag hier gewesen?“ waren einige der vielen Fragen, die der Alte an ihn richtete. Sie wurden beantwortet, und der alte Mann nahm ihn mit sich in sein kleines Haus, dicht nebenan an einer Seitenstraße.
Sie traten in eine Handschuhwerkstatt – die Frau saß eifrig nähend da, als sie kamen. Einkleiner weißer Spitz, so kurz geschoren, daß man seine rosenfarbene Haut sehen konnte, hüpfte auf den Tisch und machte vor dem kleinen Knaben seine Sprünge. – „Die unschuldigen Seelen kennen sich“, sagte die Frau und liebkoste Hund und Knaben. Dieser erhielt Speise und Trank von den guten Leuten, und sie sagten, es soll ihm erlaubt sein, die Nacht bei ihnen zu verweilen; am nächsten Tage würde Vater Giuseppe mit seiner Mutter sprechen.
Er erhielt ein ärmliches kleines Bett, für ihn aber, der oft auf dem harten, steinernen Fußboden hatte schlafen müssen, war es von königlicher Pracht. Er schlief so süß und träumte von den herrlichen Bildern und dem ehernen Schwein. Vater Giuseppe ging am nächsten Morgen aus; das arme Kind war darüber nicht froh, denn es wußte, daß dieser Ausgang nur stattfand, um es seiner Mutter wieder zuzuführen. Der Knabe küßte den munteren kleinen Hund, und die Frau nickte beiden zu.
Welchen Bescheid brachte wohl Vater Giuseppe?
Er sprach, sprach viel mit seiner Frau, und diese nickten und streichelten den Knaben. – „Es ist ein reizendes Kind!“ sagte sie. „Er kann ein netter Handschuhmacher werden, wie du warst, und Finger hat er, so fein und biegsam! Die Madonna hat ihn zum Handschuhmacher bestimmt!“ Und der Knabe blieb im Hause, die Frau lehrt ihn selbst nähen, er aß gut, schlief gut, wurde munter und begann Bellissima – so hieß der kleine Hund – zu necken. Die Frau drohte mit dem Finger, schalt und wurde böse. Das ging dem Knaben zu Herzen, gedankenvoll saß er in seiner kleinen Kammer.
Diese hatte die Aussicht nach der Straße, in der Felle getrocknet werden; die Eisenstangen waren vor den Fenstern. Er konnte nicht schlafen, das eherne Schwein erschien ihm immer wieder in Gedanken, und plötzlich hörte er draußen: klatsch, klatsch! Das war doch gewiß ein Schwein! Er sprang ans Fenster, doch es war nichts zu sehen, es war schon vorüber.
„Hilf dem Signor seinen Farbenkasten tragen!“ sagte Madame am folgenden Morgen zu dem Knaben, als der junge Nachbar, ein Maler, mit dem Kasten und einer großen, zusammengerollten Leinwand vorüberschritt.
Der Knabe nahm den Kasten und folgte dem Maler.
Sie schlugen den Weg nach der Galerie ein und stiegen dieselbe Treppe hinan, die ihm seit jener Nacht, als er auf dem ehernen Schweine hierher ritt, wohl bekannt war. Er kannten die Statuen und Bilder, die schöne Marmor-Venus und all die Gemälde; er sah auch die Muttergottes mit Jesus und Johannes wieder.
Nun blieben vor dem Gemälde von Bronzino stehen, wo Christus in die Unterwelt hinabsteigt, und die Kinder um ihn her in süßer Erwartung des Himmels lächeln.
Der arme Knabe lächelte gleichfalls, denn hier er in seinem Himmel. – „Geh nun nach Hause!“ sagte der Maler, der inzwischen seine Staffelei aufgestellt hatte, zu dem Knaben, der immer noch stand und guckte.
„Darf ich Euch malen sehen?“ fragte der Knabe, „darf ich zusehen, wie Ihr das Bild auf diese Leinwand bringt?“ – „Noch male ich nicht!“ antwortete der Maler und nahm seine schwarze Kreide hervor. Schnell bewegte sich die Hand, das Auge maß das große Bild, und obgleich erst nur ganz feine erst nur ganz feine Striche sichtbar waren, schwebte Christi Gestalt doch schon auf der Leinwand, wie auf dem farbigen Bilde.
„Aber so geh doch!“ sagte der Maler, und still wanderte der Knabe heim, setzte sich an den Tisch und – lernte Handschuhe nähen.
Den ganzen Tag aber waren seine Gedanken in dem Bildersaale, und darum stach er sich in die Finger, betrug sich linkisch, neckte aber dafür auch Bellissima nicht. Als es Abend wurde und die Haustür gerade offen stand, schlich er sich hinaus; es war kalt draußen, aber sternenhell, so recht schön und heiter. Rasch ging er durch die öden Straßen und stand bald vor dem ehernen Schweine, über das er sich beugte, um seinen blanken Rüssel zu küssen. Und dann setzte er sich auf den Rücken des Schweines. – „Du liebes Tier“, sagte er, wie habe ich mich nach dir gesehnt! Wir müssen in dieser Nacht einen Ritt machen!“ – Das eherne Schwein lag unbeweglich, und die frische Quelle sprudelte ihm aus dem Rüssel. Der Kleine saß als Reiter auf ihm – da zupfte ihn etwas an den Kleidern. Er blickte zur Seite:
Bellissima, die kleine kahlgeschorene Bellissima stand da und bellte, als wollte sie sagen: „Sieh, ich bin auch da, warum setzest du dich hierher?“ – Kein feuriger Drachen hätte den Knaben so erschrecken können, wie der kleine Hund an diesem Orte. Bellissima auf der Straße, und zwar ohne „angekleidet“ zu sein, wie die alte Mutter es nannte! Was sollte das heißen?
Der Hund kam im Winter nur heraus, nachdem ihm zuvor ein kleines Lammfell übergezogen worden, das eigens für ihn zugeschnitten und genäht war. Das Fell, mit Schleifen und Schellen geschmückt, wurde mit einem roten Bande um den Hals und unter dem Bauch festgebunden. Wenn der Hund in diesem Anzug mit Signora hinaustrippeln durfte, sah er ganz so aus wie ein junges Zicklein. Nun war Bellissima draußen, und nicht angekleidet: was sollte daraus werden!
Alle Phantasiebilder waren verschwunden, und der Knabe küßte zum Abschied das eherne Schwein, und nahm Bellissima in den Arm. Das Tier zitterte vor Kälte, und der Knabe lief mit ihm, so schnell er konnte.
„Was läufst du da? Was trägst du?“ riefen zwei Polizisten, denen er begegnete, und die Bellissima anbellte. „Wo hast du den hübschen Hund gestohlen?“
fragten sie und nahmen ihm das Tier weg.
„O, gebt ihn mir wieder!“ jammerte der Knabe.
„Hast du ihn nicht gestohlen, so magst du zu Hause sagen, daß der Hund auf der Wache abgeholt werden kann!“ Sie nannten den Ort und gingen mit Bellissima fort. Das gab nun einen großen Jammer. Der Knabe wußte nicht, ob er in den Arno springen oder nach Hause gehen und alles gestehen sollte. Sie würden ihn gewiß totschlagen, dachte er. – „Aber ich will gern totgeschlagen werden“, dachte er, „ich will sterben – so gelange ich doch zu Jesus und der Madonna!“
Und er ging heim, hauptsächlich um totgeschlagen zu werden. Die Tür war verschlossen, er konnte den Klopfer nicht erreichen. Niemand war auf der Straße, doch ein Stein lag da, und mit diesem donnerte er gegen die Tür. – „Wer ist da?“ rief es drinnen. „ Ich bin’s!“ sagte er. – „Bellissima ist fort! Macht mir auf und schlagt mich dann tot!“
Das gab aber einen Schreck wegen der armen Bellissima, besonders bei Madame! Sie blickte zuerst nach der Wand, wo der Anzug des Hundes zu hängen pflegte – und das kleine Lammfell hing dort.
„Bellissima auf der Wache!“ rief sie ganz laut. „Du böses Kind! Wie konntest du sie nur hinauslocken?
Sie erfriert ja! Das gute Jahr Tier bei den rohen Soldaten!“ – Der Vater mußte sogleich hin – die Frau jammerte, der Knabe weinte. Alle Hausgenossen kamen zusammen, unter ihnen auch der Maler; er nahm den Knaben auf seine Knie, fragte ihn aus, und in Bruchstücken bekam er die ganze Geschichte von dem ehernen Schweine und die Galerie zu hören. Sie war
ziemlich unverständlich. Der Maler tröstete den Kleinen
und versuchte die Alte zu besänftigen, aber sie gab sich damit nicht zufrieden, bis der Vater mit Bellisama ankam, die unter den Soldaten gewesen war. Das war eine Freude! Der Maler liebkoste den Knaben und schenkte ihm eine Handvoll Bilder. O, das waren herrliche Sachen! Was für komische Köpfe! Und wirklich: auch das eherne Schwein war darunter. O, konnte es so etwas Herrliches geben? Mit ein paar Strichen hingeworfen, stand es auf dem Papiere, und selbst das dahinter stehende Haus war angegeben.
Wer doch zeichnen könnte! Die ganze Welt könnte der um sich versammeln!
Am folgenden Tage, in dem ersten einsamen Augenblicke, ergriff der Kleine den Bleistift, und auf der weißen Rückseite eines der Bilder, versuchte er die Zeichnung des ehernen Schweines wiederzugeben.
Sie gelang; – etwas schief zwar, etwas auf und ab, ein Bein dick, ein anderes dünn, aber es war doch zu erkennen, er jubelte selbst darüber. Der Bleistift wollte nur nicht so recht gerade gehen, wie er sollte, das bemerkte er wohl. Am folgenden Tage stand wieder ein ehernes Schwein an der Seite des andern, und das war hundertmal besser; das dritte war schon so gut, daß es jeder erkennen konnte. – Schlecht aber ging es mit dem Handschuhnähen, langsam mit den Bestellungen in der Stadt, denn das eherne Schwein hatte ihn gelehrt, daß alles auf Papier gebracht werden kann, und die Stadt Florenz ist ein recht inhaltsvolles Bilderbuch, wenn man darin blättern will. Auf der Piazza del Trinita steht eine schlanke Säule und oben drauf die Göttin der Gerechtigkeit, mit verbundenen Augen und der Wagschale in der Hand. Bald stand sie auf dem Papiere, und es war der kleine Bursche des Handschuhmachers, der sie hingestellt. Die Bildersammlung wuchs, aber noch enthielt sie nur Zeichnungen von leblosen Gegenständen.
Da hüpfte eines Tages Bellissima vor ihm her. „Steh still!“ sagte er, dann sollst du schön werden und in meine Bildersammlung kommen!“ – Aber Bellissama
wollte nicht stillstehen, sie mußte festgebunden werden; Kopf und Schwanz wurden angebunden; sie bellte und machte Sprünge, die Schnur mußte straff gespannt sein,
da kam Signorina. – „Du gottloser Knabe! Das arme Tier!“ war alles, was sie hervorbringen konnte.
Sie stieß den Knaben zur Seite, stieß ihn mit dem Fuße, verwies ihn aus ihrem Hause – ihn, der, der undankbarste Taugenichts, das gottlose Kind war, und weinend küßte sie ihre kleine, halberwürgte Bellissima.
In demselben Augenblick kam der Maler die Treppe herauf – und hier ist der Wendepunkt.
Im Jahre 1834 war zu Florenz in der Akademie der Künste eine Ausstellung. Zwei nebeneinander aufgestellte Gemälde, versammelten eine Menge Zuschauer. Auf dem kleineren war ein kleiner, munterer Knabe dargestellt, der dasaß und zeichnete. Als Modell diente ihm ein kleiner weißer Spitz, aber das Tier wollte nicht stillstehen und war daher mit Bindfaden am Kopfe wie am Schwanze festgebunden. Es war Leben in dem Bilde und eine Wahrheit, die jeden ansprechen mußte.
Der Maler, erzählte man, sei ein junger Florentiner, der, als Kind auf der Straße aufgegriffen, von einem alten Handschuhmacher erzogen worden sei, und von sich selbst das Zeichnen gelernt habe. Ein jetzt berühmter Maler habe sein Talent entdeckt, als der Knabe einmal fortgejagt werden sollte, weil er den Liebling der Madame, den kleinen Spitz, gebunden und zum Modell machte. – Der Handschuhmacherjunge war ein großer Maler geworden, das zeigte dieses Bild, das zeigte besonders das größere daneben.
Hier war nur eine einzige Figur – ein in Lumpen gekleideter, aber schöner Knabe, der schlafend auf der Straße saß; er lehnte sich an das bekannte eherne Schwein vor der Markthalle der Porta Rosa.
Alle Beschauer kannten die Stelle. Die Arme des Kindes ruhten auf dem Kopfe des Schweines; der Kleine schlief ganz fest; die Lampe vor dem Madonnenbilde warf ein starkes, wirkungsvolles Licht auf das blasse, entzückende Gesicht des Kleinen.
Es war ein wunderschönes Gemälde; ein großer vergoldeter Rahmen umgab es, an seiner Ecke war ein Lorbeerkranz gehängt. Zwischen den grünen Blättern schlängelte sich ein schwarzes Band hindurch, und ein langer Trauerflor hing daran herunter.
Der junge Künstler war in diesen Tagen gestorben.
Quelle: Hans Christian Andersen