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Märchenbasar

Das gläserne Schloss

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In einem fernen Land lebte einst ein Königspaar, dem nichts zu seinem vollkommenen Glück fehlte, als ein Kind. Obwohl die Königin viele Heiler und Kräuterfrauen zu sich rief, blieb ihr Wunsch unerfüllt und die Jahre verstrichen, während ihre Hoffnung mehr und mehr erlosch. Eines Tages hörte sie durch Zufall von einer alten Frau, die sich auf viele Zauber verstand. Schwere Wunden solle sie schon kuriert und schlimme Seuchen besiegt haben. Manche munkelten sogar, sie hätte Tote wieder zum Leben erweckt. So ließ die Königin die Hexe rufen und sagte zu ihr: “Wenn auch nur ein Teil von dem stimmt, was man von Euch erzählt, so wird es Euch ein Leichtes sein, mir endlich zu einem Kind zu verhelfen. Zum Lohn sollt Ihr so viel Gold und Edelsteine erhalten, wie Ihr Euch nur ausmalen könnt!”
Da lachte die Alte und erwiderte höhnisch: “Zweifellos kann ich Euren Wunsch erfüllen, doch all die Reichtümer bedeuten mir nichts.”
“Dann sagt, was Ihr verlangt, und Ihr sollt es auf der Stelle haben!”, rief die Königin, doch wieder schüttelte die Hexe den Kopf.
“Ihr könnt den Preis nicht abbezahlen, werte Königin – das muss Euer Sohn schon selbst tun, wenn die Zeit gekommen ist. Denn ein Leben, das aus der Magie hervorgegangen ist, muss der Magie dienen.”
Da erschrak die Königin, doch sie sehnte sich so verzweifelt nach einem Kind, dass sie rasch antwortete: “Es soll alles sein, wie Ihr wünscht, solange ich nur ein gesundes Kind zur Welt bringen darf!”
Lächelnd reichte ihr die Alte einen Trank und wies sie an, ihn bis auf den letzten Tropfen zu leeren. Bevor die Königin noch den ersten Schluck genommen hatte, war sie aus dem Gemach gehumpelt und wie vom Erdboden verschluckt.

Schon bald darauf spürte die Königin, dass sie ein Kind unter dem Herzen trug. Als der Winter den Sommer abgelöst hatte und daraufhin wieder lieblich der Frühling ins Land zog, gebar sie einen hübschen Jungen. Der kleine Prinz wuchs zu einem stillen, nachdenklichen Kind heran, das lieber träumend im Schlossgarten saß, als mit den Söhnen und Töchtern der anderen Edelleute zu spielen. Ganz anders war das kleine Mädchen, das die Königin schon wenige Jahre nach der Geburt des Prinzen zur Welt gebracht hatte. Hitzköpfig und lebensfroh fand die Prinzessin Freude an den wilden Spielen, die ihr Bruder verschmähte.

So verstrichen die Jahre und die beiden Königskinder wuchsen zu jungen Leuten heran, während die Königin ihr Versprechen an die Hexe beinahe vergessen hatte. Als der Prinz fünfzehn Jahre alt war, brach schreckliches Unheil über das Königsreich herein: Die Ernte verdorrte auf den Feldern, Menschen starben an einer seltsamen Seuche und plündernde Räuberbanden fielen über die Grenzen des bisher so friedlichen Landes ein. König und Königin wussten nicht ein noch aus und guter Rat war teuer. Eines Tages schließlich trat eine in Lumpen gehüllte alte Frau vor sie.
“Wie können wir Euch helfen, gute Frau?”, fragte die Königin freundlich, die dachte, sie sei nur eine arme Bittstellerin. Die Alte jedoch lachte rau und erwiderte: “Habt Ihr mich tatsächlich schon vergessen, meine teure Königin? Ich hätte wohl ein wenig mehr Dankbarkeit verdient, nachdem Euch durch meine Hilfe nicht nur ein hübscher Junge, sondern auch ein kluges Mädchen geschenkt wurden! Aber sei’s drum! Ich bin hier, weil für den jungen Prinzen die Zeit gekommen ist, seiner Bestimmung zu folgen!”
Da begriff die Königin und voll plötzlichem Schrecken rief sie: “Ihr könnt mir mein Kind nicht nehmen! Ich gab Euch das Versprechen vor langer Zeit und gewiss ist es längst verjährt!”
“Wenn Ihr mir Euren Sohn nicht aus freien Stücken gebt, so muss ich ihn Euch mit Gewalt nehmen”, sagte die Alte leise und als der König seine Wachen rufen ließ, war sie mit einem Fingerschnippen verschwunden, noch ehe die sie anrühren konnten.
Schreckensbleich schickte die Königin nach Dienern, ließ ihren Sohn in seine Kammer bringen und ihre besten Krieger vor der Tür des Prinzen wachen, auf dass ihm kein Unheil geschehe.

Als der Junge aber allein am Fenster saß und betrübt hinaus in den Sonnenschein blickte, öffnete sich die Tür und die Alte trat ein.
“Guten Tag, Mütterchen”, sagte der Prinz, der dachte, sie sei eine Dienerin und von seinen Eltern geschickt. “Was führt dich zu mir? Hast du eine Nachricht von Mutter und Vater?”
“Guten Tag, mein Junge”, erwiderte die Hexe. “Ich habe wohl eine Botschaft für dich, doch nicht auf Befehl deiner Eltern. Möchtest du sie dennoch hören?”
Verwundert antwortete der Prinz: “Nun, wo du schon deshalb hergekommen bist, warum sollte ich sie nicht hören wollen?”
Da lächelte die Alte und nickte dem Jungen zufrieden zu.
“Gewiss weißt du, welch schreckliches Unheil über das Reich deiner Eltern hereingebrochen ist. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, wie du weiteres Unglück verhindern kannst. Wenn ich es dir aber sage, musst du mir versprechen, danach auch dein Bestes zu tun, das Land zu retten.”
Nach kurzem Zögern willigte der Prinz ein und die Hexe berichtete: “Am Ende der Welt, wo die großen Meere tosend ineinanderfließen, liegt in einem gläsernden Schloss verborgen der Teppich, in den das Schicksal der Erde gewoben ist. Jeder bunte Faden, jedes neue Muster zeigt das Leben eines Menschen. Doch um Gedeih und Verderben im Einklang zu halten, kämpfen ein roter und ein weißer Drache um ihn und wenn der Teppich in die Klauen des roten fällt, dann zerreißt er ihn. Erlangt ihn aber der andere zurück, so flickt er all die Risse und Löcher und spinnt weiter am Glück der Menschen.”
“Der Teppich muss arg zerrissen sein”, sagte der Junge traurig, der mit großen Augen ihren Worten gelauscht hatte. “Aber was soll ich tun?”
“Du musst hingehen und sehen, warum der weiße Drache nicht dabei ist, die zertrennten Fäden wieder zu einen. Der Welt ergeht es von Tag zu Tag schlimmer und gewiss hätte er schon lange eingreifen müssen.”
“Ich soll ans Ende der Welt reisen und zwei kämpfende Drachen suchen?!”, rief der Prinz erschrocken aus. “Ich würde gerne helfen, doch meine Eltern werden mich nicht gehen lassen! Ich soll doch einmal König werden.”
“Das wird dir kein Hindernis sein”, sagte die Hexe streng, “du zögerst doch nicht etwa? Das Versprechen, das du mir gabst, muss eingelöst werden! Und wie willst du einst König werden, wenn du das Land wissentlich diesem Unheil überlassen hast?”
“Nein, gewiss will ich tun, was ich kann”, antwortete der Prinz da schnell. “Doch wie soll ich die Burg verlassen?”
Da winkte ihm die Hexe nur schelmisch lachend und als er ihr aus seinem Gemach folgte, sah er, dass all die Wachen und Höflinge schlafend am Boden lagen.
“Wie soll ich nun den Weg finden?”, fragte der Prinz vor den Toren des Schlosses und blickte hilflos umher. Er hatte die schützenden Mauern selten verlassen und ringsum breiteten sich nur verdorrte Felder aus, soweit das Auge reichte.
“Ich will dir einen Begleiter geben”, antwortete die Alte und stieß einen hellen Pfiff aus, woraufhin eine große Krähe aus den Wolken herabstieß und sich auf ihrer Hand niederließ. “Der Vogel kennt den Weg und wird dich führen. Nun geh!”

Viele Tage wanderten Prinz und Krähe durch die Lande, bis schließlich die letzten Städte hinter ihnen zurückblieben und die Wälder und Felder kalten Felsen wichen. Nebel, die sich niemals lichteten, lagen über dem seltsamen Land und in der Ferne hörte man ein Tosen und Brüllen.
“Das sind die Meere, die in die Tiefe stürzen”, krächzte die Krähe und der Prinz schauderte.
Mit bangem Herzen wagte sich der Jüngling weiter und endlich gelangte er in einem schmalen Tal zwischen zerklüfteten Felsen zu einem seltsamen Schloss. Wie die Hexe erzählt hatte, war es ganz und gar aus Glas – all die hübschen Türme und Erker, die Fenster und Türen waren in feinste Formen geschliffen und gewiss hätte es gefunkelt und geschimmert wie frisch gefallener Schnee, wäre die Sonne am Himmel aufgetaucht. Doch in diesem unseligen Teil der Welt wirkte das Glas grau wie trübes Wasser.
“Es ist tatsächlich wahr”, flüsterte der Prinz. “All das ist keine alte Geschicht – und nun glaube ich auch wirklich, dass hinter diesen Toren die zwei Drachen auf mich warten. Aber was soll ich nun tun?” Doch als er sich zu seiner schwarzgefiederten Begleiterin umwandte, stand da statt dem Vogel ein Mädchen mit zerzausten Locken und schmutzigen Kleidern.
“Bitte erschrecke nicht!”, rief die junge Frau, als sie seinen erstaunten Blick bemerkte. “Dies ist meine wirkliche Gestalt, die ich nun endlich zurückerhalten habe. Einst war ich die Tochter eines Holzfällers, doch meine Eltern starben früh und die Hexe, die auch dich auf diese Reise geschickt hat, nahm mich als ihr Ziehkind an. Sie lehrte mich manch einen Zauber und viele Geheimnisse dieser Welt. Ich war dankbar und doch liebte ich das einsame Leben nicht, weit fort von allen Freunden und Verwandten, die ich je hatte, wo mir nur alte Zauberbücher und Hexenkessel zur Gesellschaft blieben. So lief ich eines nachts fort, aber die Zauberin ertappte mich, noch ehe ich durch ihren Kräutergarten geschlichen war. Sie verwandelte mich zur Strafe in eine Krähe und ich glaubte schon, für immer in dieser Gestalt bleiben zu müssen. Dann, eines Tages, als ich schon beinahe alle Hoffnung aufgegeben hatte, befahl sie mir, dich hierherzuführen, und versprach, mir zum Dank meine menschliche Gestalt wiederzugeben.”
“Wie furchtbar!”, rief der Prinz. “Was für ein Glück, dass der Zauber gebrochen ist!” Aber dann fügte er traurig hinzu: “Gewiss wirst du nun nach Hause zurückkehren, wo dich nichts mehr hier hält.”
Das Mädchen senkte den Blick und antwortete leise: “Oh ja, ich möchte endlich heimgehen. Ich wünsche dir alles Glück, das in dieser unseligen Zeit noch zu finden ist.”
Es war ein schmerzliches Lebewohl, denn auf dem langen gemeinsamen Weg waren sie gute Freunde geworden. Als schließlich das Mädchen gegangen und der Nebel seine Gestalt in der Ferne eingehüllt hatte, trat der Prinz schweren Herzens durch das gläserne Tor in die kalten, stillen Hallen des Schlosses am Ende der Welt.

Niemand war zu sehen, doch durch die gläsernen Wände zu seiner Rechten sah der Jüngling einen schwachen roten Schimmer dringen. Je weiter er durch die leeren Zimmer und Flure ging, desto stärker wurde der Schein und zuletzt trat der Prinz durch ein Tor in eine weite Halle, in deren Mitte zusammengerollt ein gewaltiger Drache schlief. Die Schuppen an seinem Leib leuchteten wie Feuer und seine mächtigen Klauen ließen den Prinzen schaudern. In den Pranken des Ungeheuers lag ein Stück Stoff, das in so lieblichen Farben und Mustern schimmerte, dass der Jüngling seine Augen kaum davon wenden konnte. Aber die feinen Fäden waren zerrissen und an einer Seite war der Teppich vom heißen Atem des Drachens geschwärzt.
Rasch sah sich der Prinz nach dem zweiten Drachen um, doch nirgends war auch nur der Schimmer einer weißen Schuppe zu sehen. Musste er nicht in der Nähe sein? Sollte er nicht längst gegen seinen roten Bruder kämpfen?
Sorgenvoll beobachtete der Prinz, wie der Drache im Schlaf seine Klauen bewegte und dem Teppich einen weiteren langen Riss zufügte. Verzweifelt fasste er sich ein Herz und schlich näher. Er begann zaghaft, den Stoff mit höchster Vorsicht Stück für Stück aus den Pranken des Untiers zu ziehen, um nicht noch mehr Löcher hineinzubringen. Als er den Stoff aber gerade heil in Händen hielt und leise davonschleichen wollte, streifte in einem unbedachten Moment sein Mantel das Maul des Drachens und das Untier erwachte mit einem Niesen, das den ihn fast zu Boden warf. Ängstlich drückte er den Teppich an sich, als der rote Drache in ein Wutgebrüll ausbrach und seinen feurigen Blick auf der Suche nach dem Dieb durch die Halle wandern ließ. Schon hatte er den Prinzen entdeckt, als leichte Schritte auf dem gläsernen Boden zu hören waren und in der Tür die zerzauste Gestalt des Krähenmädchens erschien. Die junge Frau hob beide Hände und der Prinz sah, wie sich ihre Lippen bewegten. Der Saal erstrahlte in so hellem Licht, dass er kaum mehr etwas sehen konnte, doch er tastete sich an der Wand entlang zu ihr und die beiden flohen aus der Halle, während der Drache noch blind von dem hellen Licht wütend umhertaumelte.
“Ich danke dir”, keuchte der Jüngling, während sie durch die Gänge hasteten, ohne zu wissen, wohin sie sie führen würden. “Aber warum bist du zurückgekehrt? Ich glaubte, der Abschied wäre für immer.”
“Das glaubte ich auch. Aber als ich durch die kalten Nebel meinen Weg zurück suchte, da dachte ich daran, wie du vielleicht ohne meine Hilfe nie mehr zurückfinden würdest und auf einmal konnte ich den Gedanken nicht mehr ertragen, den langen Weg alleine hinter mich zu bringen. Wir wollen gemeinsam gehen, wenn du deine Aufgabe erfüllt hast”, flüsterte das Mädchen und zog den Prinzen dann sorgenvoll weiter, als hinter ihnen das Gebrüll des Drachens anschwoll.
“Ich bin keine mächtige Hexerin und gewiss wirkt mein Zauber nicht lange”, warnte es.

Nachdem die beiden lange durch das Schloss geirrt waren, gelangten sie endlich durch ein kleines Tor hinaus. Der Nebel lag wie eh und je schwer über der trostlosen Landschaft, doch schienen die Felsen hier weiß statt wie gewöhnlich grau in grau. Erschöpft ließ sich der Prinz nieder und betrachtete den zerrissenen Teppich.
“Ach, was sollen wir nur damit tun?”, fragte er. “Bestimmt sucht das Untier bereits danach. Wenn wir nur den weißen Drachen finden könnten!”
Kaum hatte er die Worte gesprochen, da bebte der Boden. Ein Felsvorsprung schlug große gelbe Augen auf und erschrocken erkannten die beiden, dass es der weiße Drache war, der reglos unter ihren Füßen lag.
“Was tun zwei Menschen hier am Ende der Welt?”, grollte das mächtige Tier. “Und warum fragt ihr nach mir?”
Der Prinz nahm all seinen Mut zusammen und antwortete: “Wir sind hier, um dir den Teppich zurückzugeben. Du musst ihn flicken, damit endlich Glück und Frieden in die Welt zurückkehren.”
Da ließ der Drache ein leises Lachen hören.
“Kommt damit nicht zu mir. Behaltet ihn oder werft ihn in die aufgewühlte See, es ist mir einerlei.”
“Oh bitte!”, rief das Mädchen. “Du musst ihn nehmen! Der rote Drache sucht bereits danach.”
“Dann gebt ihn ihm zurück. Ich will ihn nicht. Immerzu kämpfen, ohne Ende an dem Teppich weben und nie die gläsernen Hallen verlassen – ich bin all dem überdrüssig! Mein Bruder erfüllt weiterhin gewissenhaft seine Pflicht, doch auch er ist müde.”
“Aber was soll mit uns allen geschehen, wenn ihr euch weigert?”, rief der Jüngling und der Drache senkte den Kopf. Lange verharrte er regungslos und hielt den Blick grüblerisch auf den Boden gerichtet, während der Prinz und das Mädchen das Warten kaum ertragen konnten.
“Ich will nicht mehr um das Schicksal der Welt kämpfen”, sagte der weiße Drachen schließlich. “Aber ich kann euch helfen, wenn ihr bereit seid, etwas dafür zu tun.”
“Alles!”, rief der Prinz voller Hoffnung, doch das Mädchen fragte: “Was können wir weiter tun, als dich um Hilfe zu bitten?”
“Wir werden sehen”, antwortete der Drache und verschwand durch das gläserne Tor im Schloss. Der Prinz und das Mädchen warteten lange voller Hoffnung, ehe der Boden erneut unter dem dröhnenden Schritt des Drachens erbebte und das mächtige Tier an der Seite seines roten Bruders – nun ruhig und gar nicht mehr so furchtbar – erschien.
“Wenn euch das Heil der Welt so am Herzen liegt”, schnaubte der weiße Drache, “dann kümmert euch selbst darum. Wir sind uns einig – wenn ihr versprecht, hierzubleiben, dann wird mein Bruder euch den Teppich überlassen und es soll fortan eure Aufgabe sein, das Schicksal der Welt zu spinnen.”
Da wurde der Prinz traurig, denn er hatte sich darauf gefreut, nach Hause zurückzukehren und seine Eltern und die Schwester wiederzusehen. Aber weil es ihm der einzige Ausweg zu sein schien, stimmte er zu und hielt den Teppich fest umklammert, als die Drachen sich in die Lüfte erhoben und mit mächtigen Flügelschlägen gen Himmel entschwanden.
“So”, sagte das Mädchen, als sie allein waren, “nun weiß ich endlich, warum die alte Hexe mich mit dir geschickt hat. Am Ende der Welt zu leben, in Gesellschaft kalter Steine und tosender Meere! Ich kann mir Schöneres denken, doch so muss es wohl sein.”
“Aber nun kannst du nach Hause gehen”, sagte der Prinz, doch die junge Frau schüttelte den Kopf.
“Ich weiß wohl, dass du bleiben wolltest, als du den Drachen dein Wort gabst”, sagte sie, “aber auf dich wartet doch ein großes Reich, das einst einen König braucht. Du bist es, der nach Hause geht.”
Der Prinz wollte sich erst weigern, doch das Mädchen blieb beharrlich und drängte ihn, dass er als junger König des Reiches eines Tages regieren müsse, bis er sich schließlich traurig auf den Rückweg machte.

Als er nach langer Wanderschaft das düstere Reich der zwei Drachen hinter sich gelassen hatte und das Land seiner Eltern erreichte, wunderte er sich sehr, denn alles schien friedlich, auf den Felder stand das Korn dicht und reif und die Bauern wirkten fröhlich bei der Arbeit.
“Sagt mir, was ist mit diesem Land geschehen? Herrschte nicht vor kurzem noch eine schlimme Hungersnot?”, fragte er einen Mann, der ihn verwundert ansah.
“Nein, mein Herr. Als vor zehn Jahren unsere gnädige Königin den Thron bestieg, hatte das ein Ende. Wo seid Ihr bloß gewesen?” Kopfschüttelnd machte er sich wieder an die Arbeit und der Prinz setzte seinen Weg voller Verwunderung fort. Als er aber an einer Pfütze vorüberkam und sein Blick zufällig auf sein Spiegelbild fiel, erkannte er sich kaum wieder. Am Ende der Welt war das Wasser trüb und voller Nebel gewesen und nun, da er sich seit langem sah, blickte ihm das Bild eines Mannes mit Bart und langem Haar statt dem eines Jungen entgegen und er erschrak darüber, dass während seiner Reise so viel Zeit vergangen war. Die Zeiten des Hungers und Schreckens waren vorbei und seine Schwester Königin.
Schon bevor der Prinz die Silhoutte der mächtigen Burg seiner Eltern am Horizont erkannte, hatte er eine Entscheidung getroffen.

Die Aufregung im Schloss war groß, als nach vielen Jahren der totgeglaubte Prinz und Thronfolger des Landes heimkehrte. Die Königin weinte vor Freude, als sie ihren Bruder in die Arme schloss und ließ auf der Stelle ein großes Fest bereiten. Als aber nach dem fröhlichen Tag der Abend kam, aller Wein ausgetrunken und alle köstlichen Speisen gegessen waren, rief sie den Prinzen in ihr Gemach.
“Ich habe dieses Reich seit dem Tod unserer Eltern für dich regiert”, sagte sie zu ihrem Bruder, “und gebe das Wohl dieses Reiches nur ungern in andere Hände. Aber da ich weiß, dass du deinen Anspruch einfordern wirst, und du als mein Bruder gewiss ein guter König bist, gebe ich dir die Krone gerne zurück.”
Der Prinz aber schüttelte den Kopf und erwiderte: “Ich bin dankbar dafür, dass du mir den Thron überlassen willst, doch verzeih mir, dass ich dir bisher verschwiegen habe, dass ich nicht bleiben werde. Du bist nun Königin hier und eine bessere Herrscherin, als dieses Land sich wünschen kann. Als ich das sah, wusste ich, dass meine Aufgabe an einem anderen Ort liegt, und schon morgen werde ich wieder aufbrechen. Am Ende der Welt wartet jemand auf mich.”
So nahmen die Geschwister Abschied, als sich die Sonne am nächsten Tag hinter den Hügeln erhob, und der Prinz machte sich erneut auf den langen Weg zum gläsernen Schloss. Gemeinsam mit dem Krähenmädchen spann er fortan an dem Schicksalsteppich und sie fügten wunderbare neue Muster und Farben hinzu. Und nur hin und wieder, um das Gleichgewicht der Welt im Einklang zu halten, griffen sie zu dem ein oder anderen dunklen Faden.

Quelle: Miyax

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