Geschäfte hielten den Verwandten noch einen und den andern Tag im Orte und bei den Leuten, die ihn aufgenommen, fest, sonst wäre er lieber gegangen, denn am zweiten Tage zeigte sich dieselbe Erscheinung; das bleiche Kind kam zur Stubentüre herein und ging schweigend in die Kammer – ohne daß die Leute es nur zu gewahren schienen. Dasselbe geschah am dritten Tage, da hielt der Fremde nicht länger an sich, sondern fragte: »Ei, saget doch, was ist das für ein Kind, das jeden Mittag Glock zwölf so still durch die Stube und in die Kammer geht?«
»Ich weiß von keinem solchen Kinde, ich sah noch keins«, antwortete der Vater, die Mutter aber begann zu weinen.
Jetzt ging der Fremde zu der Kammertüre, öffnete sie ein wenig und blickte in die Kammer. Da gewahrte er das Kind. Es saß an der Erde und grub mit den Fingern in einer Ritze zwischen zwei Dielen gar emsiglich und wühlte und seufzete leise: »Ach, das Hellerlein! Ach, das Hellerlein!« als aber die Kammertüre ein wenig knarrte, fuhr das Kind erschrocken zusammen und verschwand.
Nun sagte der Gast den Leuten an, was er gesehen, und beschrieb des Kindes Gestalt, da rief die Mutter schluchzend aus: »Ach Gott, ach Gott! Das war unser Kind, das wir vor vier Wochen begraben haben! Warum nur hat es keine Ruhe im Grabe?« Nun gab der Gast den Rat, die Diele aufzubrechen, und als das geschah, so fand sich darunter ein armseliges Hellerlein, das hatte das Kind in der Kirche in den Klingelbeutel legen sollen, hatte es aber behalten, bis es noch eines zweiten habhaft würde, dann hatte es sich wollen Pfennigsemmel kaufen. Zu Hause aber hatte das Kind das Hellerlein fallen lassen, und es war zwischen den Dielen in die Ritze gefallen. Deshalb hatte das Kind keine Ruhe im Grabe. Am Tage darauf warf des Kindes Mutter das Hellerlein in den Klingelbeutel, und von nun an kam das Kind nicht wieder.
Quelle:
Ludwig Bechstein