Das Mädchen ging zu ihrer Mutter und sagte ihr, was die Sonne ihr aufgetragen hatte. Darauf antwortete die Mutter: »Sag der Sonne, dass es noch zu klein ist«, und das Mädchen richtete es der Sonne aus, als sie wieder zur Schule ging. Eines Tages, als das Mädchen das zwölfte Jahr vollendet hatte, raubte die Sonne sie, während sie auf dem Schulwege war, und brachte sie in ihr Haus. Die Mutter wartete, aber als die Tochter nicht kam, sah sie ein, dass die Sonne sie geraubt hatte. Da ließ sie das ganze Haus schwarz anstreichen, verschloss die Tür, öffnete sie niemals, sondern saß allein drinnen und weinte und klagte.
Die Sonne hatte auch einen Drachen im Hause; als der das Mädchen merkte, sagte er: »Es riecht mir nach Königskind«, die Sonne aber sprach: »Das ist mein Mädchen, das darfst du nicht anrühren.« Eines Tages schickte die Sonne das Mädchen in den Garten, einen Kohlkopf zu holen, und sie ging. Als sie den Kohl abschnitt und der knirschte, dachte sie: »Wie dieser Kohl, so knirscht und schreit das Herz meiner Mutter«, und sie weinte. Als die Sonne sie weinen sah, fragte sie: »Warum weinst du? Hast du etwa Sehnsucht nach deiner Mutter?« Das Mädchen antwortete: »Große Sehnsucht.« Da sagte die Sonne: »Wenn du nach Hause willst, rufe die Tiere, dass sie dich hinbringen.« Als nun das Mädchen die Tiere rief, rief auch die Sonne den Drachen herbei und sagte zu ihm: »Wenn du Hunger bekämst, was würdest du essen?« – »Das Mädchen würde ich essen.« – »Und wenn du Durst bekämst, was würdest du trinken?« – »Ihr Blut würde ich trinken.« Die Sonne sah nun, dass der Drache das Mädchen nicht nach Hause bringen würde und sagte zu ihr: »Ruf ein andres Tier.« Da rief sie den Hirsch; den fragte die Sonne: »Bringst du dies Mädchen nach Hause?« Der Hirsch antwortete: »Ja.« – »Wenn du Hunger bekämst, was würdest du essen?« – »Grünes Gras.« – »Wenn du Durst bekämst, was würdest du trinken?« – »Frisches Wasser, aber wenn ich sie nach Hause gebracht habe, soll mir ihre Mutter drei Oka Heu geben.«
Darauf nahm der Hirsch das Mädchen auf sein Geweih; unterwegs bekam er Hunger und sagte zu ihr: »Steig auf den Baum da, und wenn einer kommen sollte und dir sagen: steig herab, so darfst du es nicht tun, ehe ich komme.« Sie stieg nun auf den Baum; da kam ein Drache, sah sich um, hierhin und dahin, bemerkte das Mädchen auf dem Baum und sagte zu ihr: »Komm herab, wir wollen uns unterhalten.« Sie aber antwortete: »Ich komme nicht herab, denn ich habe Angst, du frißt mich.« Der Drache sagte darauf: »Ich fresse dich nicht.« Aber das Mädchen antwortete: »Geh erst wieder nach Hause, dann komm zurück und hole mich.« Damit ging der Drache fort, da kam auch der Hirsch, und das Mädchen, das den Drachen schon kommen sah, rief ihm zu: »Nimm mich schnell auf, es kommt ein Drache, uns zu fressen.« Der Hirsch nahm sie und eilte davon, und jedem, dem er unterwegs begegnete, sagte er: »Wenn ein Drache kommt, verrate ihm nicht den Weg, den wir gegangen sind, sondern sage, das Mädchen und der Hirsch sind einen anderen Weg gegangen.« Sie kamen so an die Tür der Mutter und pochten, aber die Mutter machte nicht auf. Da pochte das Mädchen noch einmal und rief dabei: »Mach auf, Mutter, ich bin’s, deine Tochter.« Da machte sie die Tür auf und freute sich, als sie ihre Tochter sah. Als die Mädchen des Ortes hörten, dass die Tochter der Königin wiedergekommen war, kamen sie und baten die Mutter: »Lass das Mädchen mit uns gehen, wir wollen ihr da und da eine Freude machen.« Die Mutter übergab sie ihnen, und die Mädchen brachten sie zu einem Garten, der hatte eine große Tür, die sich nicht öffnen ließ. Die andern Mädchen stießen gegen die Tür, konnten sie aber nicht öffnen. Da machte sich die Tochter der Königin daran, und sowie sie gegen die Tür stieß, tat die sich auf, und das Mädchen fuhr hinein, denn sie hatte einen starken Anlauf genommen, um die Tür zu öffnen; die Tür aber ging wieder zu. Als nun die andern Mädchen sahen, dass die Tür nicht wieder aufging und sie die Tochter der Königin nicht wieder mitnehmen konnten, gingen sie betrübt in das Haus der Mutter und erzählten ihr, was geschehen war. Als die Mutter das vernommen hatte, weinte sie unaufhörlich.
In dem Garten fand das Mädchen Menschen und Tiere, die in Stein verwandelt waren, auch einen König, ebenfalls zu Stein geworden, der hatte ein offenes Schriftstück in der Hand. Das las sie, und die Schrift besagte: »Das Mädchen, das imstande ist, drei Tage und drei Nächte und drei Wochen nicht zu schlafen, werde ich zur Frau nehmen, denn dann werde ich wieder lebendig.« Da setzte sie sich hin und schlief nicht, sondern nahm Schriften und las. So waren drei Tage, drei Nächte und zwei Wochen vergangen; da kam dort ein Sklavenhändler vorbei. Sie trat ans Fenster und fragte ihn: »Wie viel verlangst du für eine Sklavin?« Er antwortete: »Soviel du geben willst.« Darauf nahm sie eine Schaufel voll Goldstücke, warf sie ihm zu, ließ dann ein Seil herab, die Sklavin hing sich daran, und sie zog sie hinauf. Darauf sagte sie zu der Sklavin: »Du darfst zwei, drei Nächte nicht schlafen, damit ich etwas schlafen kann, denn ich habe lange Zeit ohne Schlaf zugebracht, wie es hier auf dem Schriftstück in des Königs Hand steht; wenn aber der König erwacht, musst du mich auch wecken.« Dabei erzählte sie ihr alles, was die Schrift des Königs besagte, legte sich nieder und schlief. Die Sklavin aber nahm die Kleider des Mädchens und zog sie selbst an, damit der König, wenn er wieder lebendig würde, sie zur Frau nehme. Als die drei Wochen um waren, wurde der König wieder lebendig und sagte: »Wer bist du?« Die Sklavin antwortete: »Ich bin die, die drei Tage, drei Nächte und drei Wochen ohne Schlaf zugebracht hat«, und er nahm sie zur Frau. Nachher fragte er: »Wer ist die, die da schläft?« Sie antwortete: »Das ist eine Sklavin, die ich genommen habe, weil ich mich fürchtete.« Da erwachte auch die Tochter der Königin, und der König sagte zu seiner Frau: »Was sollen wir mit der Sklavin machen?« Die hatte das gehört und sagte: »Lass mich die Gänse hüten.« Der König machte sie zum Gänsehirten und ließ ihr eine Hütte bauen, worin sie wohnen sollte.
Dort saß sie und weinte unaufhörlich und sagte alle ihre Leiden eins nach dem andern vor sich her. Der König, der sie mehrmals weinen hörte, ging hin und fragte sie: »Warum weinst du?« Sie antwortete: »Soundso ist es mir ergangen.« Darauf machte der König sie zu seiner Frau, und die Sklavin hieb er in Stücke, das größte war nur so groß.
Quelle:
(August Leskien: Balkanmärchen aus Albanien)