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Das Mädchen ohne Hände

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Irgendwo in einem Zarenreich, nicht in unserm Reich, lebte einst ein reicher Kaufmann. Er hatte zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Als der Vater und die Mutter gestorben waren, sprach der Bruder zu seiner Schwester: »Laß uns diese Stadt verlassen, Schwesterlein; ich will ein Kaufmann sein und Handel treiben, für dich aber eine Wohnung nehmen; und so werden wir unser Auskommen finden.« Sie wanderten nun in ein anderes Gouvernement. Und als sie dort angelangt waren, richtete sich der Bruder ein und mietete einen Laden mit Schnittwaren. Es kam ihm aber in den Sinn zu heiraten, und da nahm er sich ein Weib, das war jedoch eine Zauberin.
Als der Bruder dann in seinen Laden gehn wollte, um Handel zu treiben, befahl er seiner Schwester: »Gib acht im Hause, Schwester.« Die Frau aber grollte darüber, weil er der Schwester die Aufsicht anvertraut hatte. Sie paßte die Zeit ab, da der Mann nach Hause zurückkehren wollte, und zerschlug alle Möbel. Dann ging sie ihm entgegen und sagte: »Sieh nur, was für eine Schwester du hast, sie hat alle Möbel in der Stube zerschlagen!« – »Nun, das läßt sich schon ersetzen«, antwortete ihr Mann.
Am nächsten Tage ging er wieder in den Laden, nahm Abschied von seinem Weibe und von der Schwester und befahl ihr: »Gib acht im Hause, so gut du nur kannst.« Da wartete die Frau die Zeit ab, da der Mann heimkehren wollte, ging in den Stall und schlug dem Lieblingspferd ihres Mannes mit einem Säbel den Kopf ab. Dann trat sie auf die Treppe hinaus und erwartete den Gatten. »Sieh nur, wie schändlich deine Schwester ist! Deinem Lieblingspferd hat sie den Kopf abgehauen!« – »Ach, mögen die Hunde das Aas fressen«, antwortete der Mann.
Am dritten Tage machte er sich wieder in seinen Laden auf, nahm Abschied und sagte zur Schwester: »Gib, bitte, auf die Frau acht, damit sie sich nicht selbst oder dem Kinde ein Leid antut, denn vielleicht gebiert sie eher, als es zu erwarten ist.« Kaum gebar aber die Frau ein Kind, als sie ihm gleich den Kopf abschlug. Nun saß sie da und weinte über dem toten Kinde. Als jedoch der Mann zurückkehrte, rief sie: »Schau nur, was du für eine Schwester hast! Kaum hatte ich das Kind geboren, da nahm sie es und schlug ihm mit dem Säbel den Kopf ab!« Der Mann erwiderte nichts darauf, fing bitterlich an zu weinen und ging fort.
Die Nacht kam heran. Um Mitternacht stand der Bruder auf und sprach zu seiner Schwester: »Liebes Schwesterlein, mach dich zurecht und komm mit zur Messe!« Sie antwortete: »Lieber Bruder, heut ist doch gar kein Feiertag, scheint mir.« – »Doch, Schwesterlein, es ist schon Feiertag; komm nur mit.« – »Es ist noch zu früh, Bruder, um fortzufahren«, sagte sie. »Nein«, erwiderte er, »ihr Weiber trödelt ja so lange; mach dich rasch fertig!« Die arme Schwester fing an sich anzukleiden, aber konnte nicht zu Ende kommen, denn immer wieder sanken ihr die Arme herab. Der Bruder kam zu ihr und sagte: »Mach flinker, Schwester, zieh dich an!« – »Es ist noch früh, Bruder!« – »Nein, Schwesterlein, es ist nicht mehr früh, sondern schon hohe Zeit.« Endlich war die Schwester fertig. Sie setzten sich in den Wagen und fuhren zur Messe.
Über kurz oder lang kamen sie in einen Wald. Da fragte die Schwester: »Was ist das für ein Wald?« Der Bruder antwortete: »Es ist der Wald, der um die Kirche steht.« Bald darauf verfing sich ein Wagenrad in einem Strauch. Der Bruder sagte: »Steh auf, Schwesterlein, und mach das Rad frei.« – »Ach, liebes Brüderlein, ich kann ja nicht, mein Kleid wird schmutzig werden.« – »Ich werde dir ein neues Kleid kaufen, Schwesterlein, ein besseres als dieses hier.« Da stieg sie vom Wagen und wollte das Rad frei machen, der Bruder aber hackte ihr die Hände bis zum Ellenbogen ab, schlug dann auf die Pferde ein und fuhr davon. Die Schwester blieb zurück, brach in Tränen aus und wanderte durch den Wald. So weit sie auch ging, und so lange sie auch herumirrte, sie zerstach sich, und ihre Kleider wurden zerfetzt, sie fand aber keinen Weg, der sie aus dem Walde hinausführte. Endlich, nach langen Jahren, stieß sie auf einen Fußpfad und gelangte ins Freie. Sie verließ den Wald und kam in eine Kaufmannsstadt und bettelte bei einem sehr reichen Kaufmann unter den Fenstern um ein Almosen. Dieser Kaufmann aber hatte einen Sohn, einen einzigen, seinen Augapfel, und der verliebte sich in die Bettlerin. Er sprach zu seinen Eltern: »Väterchen und Mütterchen, verheiratet mich!« – »Mit wem sollen wir dich denn verheiraten?« – »Mit dieser Bettlerin.« – »Ach, mein Lieber, haben denn die Kaufleute in unserer Stadt keine schönen Töchter?« – »Gebt mir aber diese hier zur Frau; wollt ihr es nicht, so tu ich mir irgendein Leid an.« Der Handel gefiel ihnen aber nicht recht, denn es war ja ihr einziger Sohn, ihr Augapfel. Sie riefen alle Kaufleute und die ganze Geistlichkeit zusammen und fragten sie: »Was meint ihr, sollen wir ihn mit der Bettlerin verheiraten oder nicht?« Da sprachen die Priester: »Es wird wohl so das Schicksal sein, daß Gott ihm bestimmt hat, die Bettlerin zu heiraten.«
Und so lebte er denn mit ihr ein Jahr und ein zweites und machte sich dann auf in das andere Gouvernement, wo ihr Bruder in seinem Laden saß. Er nahm Abschied und bat seine Eltern: »Väterchen und Mütterchen! verlaßt mein Weib nicht; gleichviel, was sie auch gebären wird, schreibt mir sofort!« Und als der Sohn weggefahren war, da gebar seine Frau nach zwei oder drei Monaten einen Sohn: bis zu den Ellenbogen waren die Arme in Gold, auf den Hüften schimmerten Sterne, auf der Stirne glänzte der helle Mond, auf dem Herzen die goldene Sonne! Wie freuten sich da der Vater und die Mutter! Gleich schrieben sie ihrem lieben Sohn einen Brief und schickten schnell einen Alten mit der Botschaft fort. Die Schwägerin aber, die Zauberin, hatte schon davon erfahren und rief den Alten zu sich: »Komm herein, Väterchen, erhol dich!« – »Nein, ich hab keine Zeit, mit eiliger Bestellung schickte man mich.« – »Aber komm nur, Väterchen, erhol dich und iß bei mir Mittagbrot.« Sie setzte ihn an den Tisch, seinen Ranzen aber trug sie fort, zog den Brief hervor, las ihn, riß ihn in Fetzen und schrieb einen andern: »Dein Weib hat einen Sohn geboren: zur Hälfte ein Hund, zur Hälfte ein Bär; hat ihn im Walde von den Tieren empfangen.« Kam der Alte zum Kaufmannssohn und überbrachte den Brief; der Sohn las ihn durch und weinte bitterlich. Dann schrieb er zurück und befahl, der Frau bis zu seiner Rückkehr kein Leides anzutun: »Ich komme selbst und werde sehen, was für ein Kind sie mir geboren hat.« Und abermals rief die Zauberin den Alten zu sich: »Komm herein, setz dich nieder und ruh dich aus.« Er trat ein, sie schwatzte ihm irgend etwas vor, las den Brief, zerriß ihn und schrieb: Sobald der Brief in ihre Hände käme, sollten sie sie gleich von Haus und Hof jagen. Der Alte brachte diesen Brief heim; die Eltern lasen ihn und betrübten sich sehr. »Was soll das heißen? Was tut er uns an? Wir haben ihn heiraten lassen, und nun ist ihm sein Weib zuwider geworden!« Nicht so sehr die Frau, als das Kind tat ihnen leid. Sie segneten Mutter und Kind, banden ihr den Säugling vor die Brust und schickten sie fort.
Nun wanderte sie davon und weinte bittere Tränen. War es lang darauf oder kurz? – ringsumher war nichts als freies Feld, kein Wald und kein Dorf. Sie kam in ein Tal und hatte großen Durst. Da erblickte sie zur rechten Hand einen Brunnen. Nun hätte sie gern getrunken, aber wollte sich nicht vorbeugen, um das Kind nicht fallen zu lassen. Plötzlich schien es ihr jedoch, als reiche das Wasser jetzt höher hinauf. Sie bückte sich; da entglitt ihr das Kind und stürzte in das Wasser. Sie ging um den Brunnen herum und weinte; wie sollte sie nun das Kind herausziehen? Da kam aber ein alter Mann zu ihr und fragte: »Warum weinst du, Magd?« – »Wie sollt ich nicht weinen! Ich beugte mich vor, um Wasser zu trinken, und da fiel mein Kind hinein.« – »Bücke dich nur und zieh es heraus.« – »Ich hab ja keine Hände, Väterchen, nur Arme bis zum Ellenbogen.« – »Beug dich nur hinunter und nimm dein Kind heraus!« Da trat sie zum Brunnen und streckte die Arme hinunter, der Herrgott aber hatte Erbarmen mit ihr und mit einemmal waren ihre Hände heil wie zuvor! Sie beugte sich nieder und zog das Kind heraus; und dann betete sie zu Gott und verneigte sich nach allen vier Seiten.
Und als sie Gott gedankt hatte, ging sie weiter, kam zu dem Hause, wo ihr Bruder und ihr Mann lebten, und bat um ein Nachtlager. Da sagte ihr Mann zum Bruder: »Laß die Bettlerin ein; die Bettelweiber verstehen Märchen und Geschichten zu erzählen, sie können aber auch Wahres berichten.« Die Schwägerin aber meinte: »Wir haben keinen Platz für ein Nachtlager, es ist zu eng!« – »Nein, laß sie, bitte, nur ein; ich hab es lieber als mein Leben, wenn die Bettelweiber Märchen und Geschichten erzählen!« Da ließ man sie denn ein, und sie setzte sich mit ihrem Kinde auf den Ofen. Sprach ihr Mann zu ihr: »Nun, meine Liebe, erzähl uns ein Märchen oder gib uns eine Geschichte zum besten.« Sie antwortete ihm: »Märchen und Geschichten versteh ich nicht zu erzählen, aber Wahres kann ich euch wohl berichten. Hört, ihr Herren, eine wahre Begebenheit!« Und sie fing an zu erzählen:
»Irgendwo in einem Zarenreich, nicht in unserm Reich, lebte einst ein reicher Kaufmann. Er hatte zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Als der Vater und die Mutter gestorben waren, sprach der Bruder zu seiner Schwester: ‚Laß uns fortgehen, Schwesterlein, aus dieser Stadt.‘ Sie gingen in ein anderes Gouvernement. Dort richtete sich der Bruder ein und mietete einen Laden mit Schnittwaren. Es kam ihm aber in den Sinn zu heiraten; und er nahm sich eine Frau, die war eine Zauberin …« Da brummte die Schwägerin dazwischen: »Was schwatzt sie für einen Unsinn zusammen, diese Hure!« Ihr Mann aber sagte: »Erzähle, erzähle nur, Mütterchen, lieber als mein Leben sind mir Geschichten!« Da fuhr die Bettlerin fort: »Und als sich der Bruder aufmachte, um in seinem Laden Handel zu treiben, befahl er der Schwester: ‚Gib acht im Hause, Schwester.‘ Die Frau aber war beleidigt, weil er alles der Schwester anvertraute; da zerschlug sie aus Wut alle Möbel …« Und als sie erzählte, wie der Bruder sie zur Messe gebracht und ihr die Hände abgeschlagen hatte und wie sie geboren und die Schwägerin den Alten zu sich gelockt hatte, schrie die Schwägerin abermals: »Was für einen Unsinn erzählt sie!« Aber der Mann der Bettlerin sagte zum Bruder: »Befiehl deinem Weibe zu schweigen! Die Geschichte ist doch wunderschön!« Und sie erzählte bis zum Ende, wie der Mann geschrieben hatte, daß man das Kind behalten solle bis zu seiner Rückkehr. Die Schwägerin aber brummte: »Was für einen Blödsinn redet sie!« Und dann erzählte die Bettlerin, wie sie in dieses Haus gekommen sei; die Schwägerin aber schrie: »Seht die Hure an, was sie euch vorzuschwatzen weiß!« Da rief jedoch der Mann dem Bruder zu: »Befiehl ihr, den Mund zu halten! Was unterbricht sie fortwährend?« Und dann erzählte sie zu Ende, wie man sie in die Stube gelassen und wie sie angefangen habe, die Wahrheit zu berichten. Und sie zeigte auf die drei und sagte: »Das ist mein Mann, das ist mein Bruder, diese aber ist meine Schwägerin!« Da sprang der Mann zu ihr auf den Ofen und sagte: »Nun, mein Lieb, zeig mir dein Kind; haben Vater und Mutter die Wahrheit geschrieben?« Und als sie das Kind aufwickelten, erleuchtete es das ganze Zimmer! »Es ist die reine Wahrheit, daß sie uns kein Märchen erzählt hat: hier ist mein Weib und dort mein Sohn: bis zu den Ellenbogen in Gold, an den Seiten schimmern Sterne, auf der Stirne glänzt der helle Mond und auf dem Herzen die goldene Sonne!«
Da führte der Bruder die allerbeste Stute aus dem Stall, band sein Weib an den Schwanz und ließ das Pferd hinaus auf das freie Feld. So lange jagte es herum, bis nur noch der Zopf von der Frau übrigblieb, der Leib aber war auf dem Felde in Fetzen geschleift. Dann spannten sie ein Dreigespann vor den Wagen und fuhren heim zu Vater und Mutter; sie lebten glücklich und zufrieden und mehrten ihr Hab und Gut.

Dort war auch ich,
Met und Wein trank ich,
Übern Schnurrbart floß es mir,
In den Mund nicht kam es mir.

[Rußland: August von Löwis of Menar: Russische Volksmärchen]

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