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Märchenbasar

Das Märchen vom armen Schuster

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An einem Waldrand in einer alten Hütte, lebte einst eine sehr arme Familie. Diese armselige Behausung hätte dringend eine Reparatur nötig gehabt, doch woher sollten sie das Geld dafür nehmen? Der Vater hatte schon lange keine Arbeit mehr und die Mutter war krank. Einen Arzt konnten sie sich nicht leisten. Es gab nicht einmal genug zu Essen und ausreichend Kleidung für alle. Ja früher, da ging es ihnen besser. Vater machte die schönsten und feinsten Schuhe weit und breit. Seit jedoch ein reicher Mann eine Schuhfabrik im Dorf baute, ging es mit ihnen bergab. Niemand mehr wollte seine Schuhe kaufen, denn in der Fabrik konnten sie durch Maschinen viel schneller hergestellt und dadurch auch billiger verkauft werden.

Eines Tages war es dann soweit. Der Schuster saß in seiner Werkstatt und hatte nichts mehr zu tun. Wie sollte es jetzt nur weitergehen? Er ging zu dem reichen Fabrikbesitzer und fragte um Arbeit nach, doch dieser jagte ihn von dannen mit den Worten: „Was kümmert mich dein Elend? Wenn ich dir Arbeit gebe muss ich dich bezahlen, und das geht mir dann von meinem Gewinn ab. Ich will alles für mich.“ Ja, er machte seinem Namen als hartherziger und geiziger Mensch alle Ehre. Seine Frau war auch nicht besser, und obendrein noch sehr hochnäsig. Andere Menschen kümmerten sie nicht, Hauptsache es ging ihnen selbst gut.

Traurig und verzweifelt ging der Schuster nach Hause zu seiner kranken Frau und den Kindern. Die Sorgen drückten schwer auf seinen schmalen Schultern. Die Vorräte waren fast aufgebraucht. Richtig warm wurde es in der Hütte auch nicht. Im Sommer war es stickig heiß darin, und im Winter pfiff der bitterkalte Wind durch die Ritzen. Schon früh am Abend ging die ganze Familie immer zu Bett, weil sie sich dann eng aneinander kuscheln konnten, so dass ihnen ein wenig wärmer wurde. Wenn sie des Morgens aufwachten, waren dicke Eisblumen an den Fenstern.

Trotz ihrer Armut wiesen sie niemanden der in noch größerer Not war von der Tür. Sie teilten mit so manchem Bettler ihre bescheidenen Mahlzeiten und hatten ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte ihrer Mitmenschen. Die Mutter sagte immer: „Anderen geht es noch viel schlechter als uns. Sie haben kein Dach über dem Kopf und keine Familie. Wir aber haben uns, dafür wollen wir dankbar sein.“
Auf dem Weg nach Hause traf der Schuster seine älteste Tochter. Sie kam gerade aus dem Wald wo sie Holz und Reisig für den Ofen sammelte. Schon von weitem sah sie ihm an, dass er bei dem Fabrikbesitzer kein Glück hatte. Nur mit Mühe konnte sie ihre Tränen zurückhalten. Nein, er sollte nicht sehen das sie weinte, er hatte es schon schwer genug. So nahm sie nur stumm seine Hand, und zusammen gingen sie weiter.

Plötzlich blieb das Mädchen stehen: „Du, Vater“, sagte sie, „ich habe eine Idee. Du hast doch noch dieses eine paar Schuhe in deiner Werkstatt. Sie stehen schon sehr lange dort hinten im Regal, man könnte sie glatt übersehen. Wunderschön hast du sie gemacht, aus feinstem Leder. Wollen wir nicht versuchen sie zu verkaufen?“
Traurig sah er sie an und sagte mit leiser Stimme: „Das kommt nicht in Frage mein Kind. Die habe ich von meinem letzten Leder gemacht. Niemand anderes soll sie tragen außer dir, denn sie sollten dein Geburtstagsgeschenk sein. Und außerdem, wer kauft denn noch selbstgemachte Schuhe? Alle wollen jetzt die modernen aus der Fabrik.“
„Aber ich habe doch welche“, entgegnete sie.
Zärtlich nahm er seine Tochter in den Arm. Leise sagte er: „Ja, du mit deiner Bescheidenheit. Sieh sie dir mal genau an, deine Schuhe. Sie sind voller Löcher und abgelaufene Absätze haben sie auch. Ich habe noch nicht einmal mehr das Material um sie zu flicken wie es sich für einen ordentlichen Schuster gehört.“

Seine Tochter hatte sich jedoch die Idee mit dem Verkauf in den Kopf gesetzt. So bettelte sie: „Ach, bitte lass es mich versuchen. Vielleicht kauft sie ja doch irgendjemand. Dann hätten wir erst mal wieder für ein paar Tage genug zu essen. Meine Schuhe werden wohl noch ein Weilchen halten. Wenn es Frühling wird laufe ich barfuss. Sicher werden wir eines Tages Hilfe bekommen, dann kannst du mir so viele Schuhe machen wie du willst. Bist du einverstanden? Bitte sag ja.“
Nun konnte der Vater nicht mehr anders. Voller Rührung gab er nach. Er liebte seine Tochter sehr. Was würde er nur ohne sie machen? Trotz ihrer Jungend war sie schon jetzt eine unersetzliche Hilfe für ihn. Sie half ihm im Haushalt, bei der Pflege der kranken Mutter, sie kümmerte sich um die Kleinen und sammelte Holz im Wald. Sie schuftete schwer. Nie kam ein Klagen über ihre Lippen.
„Gleich morgen früh werde ich losgehen und versuchen die Schuhe zu verkaufen.“, sagte sie fest.

Am nächsten Morgen half das Mädchen ihrem Vater beim Versorgen der Familie. Dann holte sie die Schuhe aus der Werkstatt. Liebevoll streichelte das Kind das weiche Leder. Ja, sie waren wunderschön, ihre Schuhe. Innerlich weinte sie bei dem Gedanken, dass sie jemand anderes tragen würde. Energisch schob sie diesen Gedanken beiseite, packte sie sorgfältig in ihren Korb, und legte ein wollenes Tuch darüber. Ihr Vater hatte sie die ganze Zeit beobachtet. Es zerriss ihm fast das Herz als er seine Tochter da so stehen sah.
Warm sagte er: „Überleg es dir doch noch mal.“
„Nein, nein“, antwortete sie schnell und schluckte, ich muss jetzt los.“ Er gab ihr ein kleines Päckchen in die Hand mit den Worten: „Hier mein Kind, du wirst vielleicht lange unterwegs sein. Ich habe dir ein wenig Brot und Käse eingepackt.“
„Aber Vater“, rief das Mädchen, „wir haben kaum noch Vorräte!“
„Nimm nur“, sagte er, „es ist nicht von den Vorräten. Ich hatte heute Morgen keinen Hunger.“ Da stieg es heiß in ihr auf. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Innig umarmte sie ihren Vater und lief schnell hinaus.

In der Nacht hatte es wieder geschneit. Die Sonne schien und es war ihr, als würde sie über ein Diamantenfeld laufen, so herrlich glitzerte der frische Schnee. Für einen Moment vergaß sie darüber ihre drückenden Sorgen. Ein paar Spatzen hüpften vor ihr her, vergeblich suchten sie nach etwas Futter. Voller Mitleid brach sie ein kleines Stückchen von ihrem Brot ab und gab es ihnen. Dann schritt sie kräftig aus, denn wenn man schneller ging, fror man nicht so. Im Dorf ging sie von Tür zu Tür und bot die Schuhe an, doch niemand wollte sie haben. Tief enttäuscht lief das Kind weiter, immer der Straße nach. Jeden den es unterwegs traf, sprach es an, nichts. Alle hatten es eilig weiter zu kommen. Langsam verließ sie der Mut. Es war schon fast Nachmittag und Schneefall setzte erneut ein. Der Himmel wurde zusehends grauer, ein scharfer Wind kam auf. Ihr war kalt, und sie rieb die rotgefrorenen Hände aneinander. Tapfer ging sie weiter und weiter. Sie wollte einfach nicht glauben, dass niemand diese schönen Schuhe haben wollte.

Plötzlich hörte sie hinter sich ein Geräusch auf der Straße. Als sie sich umblickte, sah sie den Fabrikbesitzer. Er fuhr mit seiner Frau in einem großen Schlitten, der von prächtigen Pferden gezogen wurde. Beide hatten dicke Pelzmäntel an, und auf ihren Beinen lag zusätzlich eine Wolldecke. Als sie auf gleicher Höhe mit dem Mädchen waren hielten sie an und fragten, wo sie hin wolle, und was sie in ihrem Korb habe. Nachdem das Kind ihnen Auskunft gegeben hatte lachte der Mann. Hämisch sagte er: „Du findest sicher keinen Menschen der dir die Schuhe abkauft. Warum ziehst du sie nicht selber an? Sieh dich doch mal an. Deine Zehen schauen ja schon durch die Löcher.“
Beschämt sah die Kleine an sich herunter. Er hatte ja recht. Auch waren ihre kleinen Füße vor Kälte schon ganz gefühllos. Trotzdem sagte sie fest zu ihm: „Diese Schuhe hier im Korb sind das Einzige was uns geblieben ist. Ich muss einfach einen guten Menschen finden der mir ein wenig Geld dafür gibt.“
Dann nahm sie ihr Herz in beide Hände und fragte: „Wollt ihr sie mir nicht abkaufen? Ihr seid doch reiche Leute.“

Daraufhin brachen diese hartherzigen Menschen in schallendes Gelächter aus.
„Das ist ein guter Witz.“, brüllte der Mann, „Wir sollen dir dieses armselige paar Schuhe abkaufen? Falls du es noch nicht wissen solltest, wir haben eine ganze Schuhfabrik.“
Niedergeschlagen sah sie ihn an: „Könnt ihr mich denn wenigstens ein Stückchen in eurem warmen Schlitten mitnehmen? Mir ist so kalt.“
„So runtergekommen wie du aussiehst?“, rief die Frau entrüstet „Außerdem haben wir keine Zeit.“ Der Fabrikbesitzer ließ die Peitsche knallen. Eilig fuhren sie davon ohne sich noch einmal umzusehen.

Mit hängendem Kopf stand das arme Mädchen an der Straße und schaute dem Schlitten hinterher. Es schneite noch immer. Müde und erschöpft ging sie etwas abseits, und setzte sich auf einen Baumstumpf am Waldesrand. Ein trauriges kleines Mädchen in der Dämmerung, einsam und allein. Was sollte sie nur tun? Der Wind hatte nachgelassen. Leise fielen die Schneeflocken auf sie herab. Verzweifelt fing sie bitterlich zu weinen an. Sie wusste nicht mehr weiter, und so weinte sie sich ihre ganze Not und ihren Kummer von der Seele.

Ein leises Geräusch ließ sie plötzlich aufblicken. Vor ihr stand eine uralte, verhutzelte Frau. Sie war in Lumpen gekleidet, und um den Kopf hatte sie einen geflickten Schal geschlungen. Ihre Füße steckten in Stiefeln, die auch schon mal bessere Zeiten gesehen hatten. Sofort regte sich das Mitleid in dem Mädchen.
„Was machst du hier, wer bist du?“, fragte sie und schnäuzte sich.
„Ich bin nur eine arme Greisin auf dem Weg zum Dorf.“, bekam sie zur Antwort. „Dein Weinen hat mich hergeführt. Was für ein Kummer brennt dir auf der Seele mein Kind?“
Nun erzählte die Kleine unter schluchzen von dem Leid ihrer Familie, und von den Schuhen die niemand haben wollte. Dabei waren sie doch ihr letzter Ausweg. Als sie geendet hatte, strich die alte Frau ihr behutsam über den Kopf und sagte leise: „Das ist ja alles schrecklich. Ich werde dir helfen.“

„Du?“, fragte das Mädchen ungläubig. „So wie du aussiehst geht es dir ja noch schlimmer als mir.“
Darauf ging die Greisin nicht ein. Stattdessen bat sie um ein wenig zu essen. Das Mädchen schlug das wollene Tuch vom Korb zurück. „Hier nimm“, sprach sie, „es ist alles was ich habe.“ Sie reichte ihr die karge Mahlzeit aus Brot und Käse. Nachdem die alte Frau schweigend gegessen hatte, schaute sie zu dem Korb hinüber.
„Die Schuhe sind wirklich schön. Sicher hat man herrlich warme Füße darin.“, meinte sie, und sah auf ihre eigenen zerlöcherten Stiefel.
„Du kannst sie haben“, sagte das Kind kaum hörbar und seufzte, „es kauft sie mir eh keiner ab. So habe ich wenigstens noch ein gutes Werk getan. Es tut mir leid dich so zerlumpt zu sehen.“

Mittlerweile war es dunkel geworden. Es hatte aufgehört zu schneien. Der Mond schien hell vom Himmel, die Sterne funkelten. Eine Sternschnuppe jagte mit ihrem langen Schweif über den Abendhimmel. Zusammengesunken saß das Mädchen auf dem Baumstumpf und hing ihren traurigen Gedanken nach. Es wurde nun Zeit sich auf den Heimweg zu machen. Sicherlich war die Familie schon in Sorge um sie. Gerade wollte sie der alten Frau Lebewohl sagen, als sie ein leises Rascheln im Unterholz hörte. Sie drehte sich um und sah staunend wie Tiere aus dem Wald traten. Eine Rehmutter mit ihrem Jungen legte sich zu ihren Füßen nieder, gefolgt von einer Hasenfamilie. Auch Füchslein kamen angelaufen und gesellten sich zu ihr. Eine kleine Truppe von Waldmäusen huschte eilig hinter ihnen her. Auf einem Baum ließ sich ein Kauz nieder. Selbst ein Dachs kam aus der Dunkelheit. Zwei Eichhörnchen sprangen flink von Baum zu Baum, um sich dann neben den Kauz zu setzen.

Obwohl es tiefster Winter war, umgab das Mädchen nun eine wohlige Wärme. Hell schien das Mondlicht, über allem lag ein flirrender Glanz. Stumm, mit großen Augen, betrachtete sie das ganze Geschehen. Die alte Frau fiel ihr wieder ein. Als sie sich ihr zuwenden wollte, kam die nächste Überraschung. Dort wo sie ihr eben noch Gesellschaft geleistet hatte, stand doch tatsächlich eine helle zarte Gestalt, die von einem wunderbaren Glanz umgeben war. Das konnte nur eine Fee sein.
„Siehst du“, sprach diese das staunende Kind an, „ich versprach doch dir zu helfen. Du hast ein gutes Herz. Wer so viel Mitleid und Liebe für seine Mitmenschen hat, der verdient es, dass ihm geholfen wird. Als ich dir in Gestalt der alten Frau erschien, wollte ich wissen, ob es wirklich noch Menschen gibt, die Mitgefühl für Arme haben und mit ihnen ihr Brot teilen. Du hattest in deiner bitteren Armut nichts mehr außer dem bisschen Brot und Käse und das gabst du mir. Selbst die Schuhe schenktest du mir obwohl du selbst nichts Warmes an den Füßen hast. Dafür werde ich dich jetzt belohnen. Schau dort hinüber.“

Noch immer sprachlos sah das Mädchen zur Straße. Ein Schlitten mit goldenen Kufen wie er schöner nicht sein konnte stand da im Schnee. Gezogen wurde er von zwei großen Hirschen die geduldig warteten.
„Dieser Schlitten wird dich sicher nach Hause bringen.“, sagte die Fee sanft. „Eure Not soll ein Ende haben.“ Sie gab ihr eine reichverzierte Schatulle mit den Worten: „Da ist genug Geld drin um sorgenfrei leben zu können. Ihr könnt einen Arzt bezahlen der eure Mutter wieder gesund macht, und ein schönes Haus kaufen. Dein Vater wird wieder Schuhe herstellen. Du wirst sehen alle Leute werden sie kaufen wollen.“

Heiße Tränen der Dankbarkeit rannen dem Kind nun über die blassen Wangen. Zärtlich drückte die Fee sie an sich und sagte: „Nun geh. Deine Familie sorgt sich schon um dich. Behalte dein gutes Herz und vergiss das hier alles nicht.“
Das Mädchen sah sich noch einmal im Kreise um. Sie streichelte jedes der Tiere liebevoll. Mit strahlenden Augen bedankte sie sich bei der Fee und setzte sich mit ihrer Schatulle in den Schlitten. Dort lagen warme weiche Decken bereit in die sie sich hüllte. Als die Hirsche sich in Bewegung setzten sah sie sich ein letztes Mal um. Leise erklangen silberhelle Glöckchen die sie auf ihrer Fahrt begleiteten. Das Mädchen war überglücklich. Endlich, endlich würde alles gut werden.

Unterwegs wurde sie plötzlich von einem anderen Schlitten mit hoher Geschwindigkeit überholt. Die armen Pferde schnaubten, sie waren schweißnass. Es war der Fabrikbesitzer der laut mit der Peitsche knallend an ihr vorbei fuhr. Vor Staunen fielen ihm fast die Augen aus dem Kopf als er sah wer in diesem herrlichen Schlitten saß.

Als das Mädchen vor der alten Hütte hielt, öffnete sich sogleich die Tür und alle liefen ihr aufgeregt entgegen. Überwältigt starrten sie auf das was sie sahen. Die Kleine stieg aus und verabschiedete sich von den beiden Hirschen. Strahlend lief sie auf ihre Familie zu, die das Mädchen mit Fragen nur so bestürmte. Aufgeregt erzählte sie ihnen von ihrer Begegnung mit der alten Greisin die sich in eine gute Fee verwandelte, den Tieren am Waldesrand und dem reichen Leuten, die sie so schäbig behandelt hatten. Nicht die geringste Kleinigkeit durfte sie auslassen. An diesem Abend wurde es recht spät ehe sie das Licht löschten.

In der nächsten Zeit tat sich viel bei der Schusterfamilie. Nachdem die Mutter wieder ganz gesund war, bezogen sie ein neues Haus mit einem schönen Garten. Der Vater richtete sich eine neue Werkstatt ein, in der er sogleich mit seiner Arbeit begann. Die ersten Schuhe die er anfertigte bekam seine älteste Tochter. Sie waren wunderschön, er hatte sie mit all seiner Liebe und Zärtlichkeit für sie angefertigt.

Unterdessen hörte der reiche Fabrikbesitzer vom Wohlstand der früher so armen Familie. Im ganzen Dorf sprach man davon wie gut es ihnen ging. Der Neid ließ ihm Tag und Nacht keine Ruhe. Eines Tages hielt er es nicht mehr aus und machte sich auf den Weg zum Schuster. Dieser staunte nicht schlecht als er sah wer da vor seiner Tür stand. Höflich bat er ihn herein. Doch der reiche Mann fuhr ihn barsch an: „Papperlapapp. Ich will bloß von dir wissen wie du zu all diesem hier, er schaute sich neidvoll um, gekommen bist. Rasch, ich habe es eilig.“
„Das kann dir meine Älteste erzählen.“, antwortete der Schuster freundlich. Er rief seine Tochter und brachte ihr das Anliegen des hartherzigen Mannes vor. „Ja, warum nicht?“, meinte sie nur. „Wir haben nichts zu verbergen.“ So erzählte sie ihm die ganze Geschichte. Nachdem sie endete, starrte er das Kind wortlos an und stürzte davon.

In seinem Hause angekommen rannte der Fabrikbesitzer zu seiner Frau. Ihr erzählte er alles was er in Erfahrung gebracht hatte. Grün vor Neid im Gesicht zischte diese: „So, so. Da werden wir uns etwas einfallen lassen. Versuche es doch auch bei der tüddeligen Alten. Wir legen sie mit einem Trick herein. Vielleicht bekommst du auch eine Schatulle mit Geld.“
Am nächsten Abend schon machte er sich auf den Weg. Seine Frau hatte ihm einen Korb mitgegeben, gefüllt mit den feinsten Delikatessen und einer guten Flasche Wein. Auch an ein paar Schuhe hatte sie gedacht, die elegantesten die sie in der Fabrik auftreiben konnte. Sie verabschiedete ihn mit den Worten: „Wenn dieses Mädchen für ein Stück Brot und Käse schon so viel Geld bekommen hat, schenkt dir die Alte sicher einen ganzen Sack voll. Das du mir aber bloß alles richtig machst.“ Ihre gierigen Augen funkelten.

Mit dem Schlitten fuhr er über den hartgefrorenen Schnee zu der Stelle, die ihm beschrieben wurde. Er peinigte seine Pferde damit sie schneller liefen. Am Ziel angekommen nahm er den Korb und schlenderte auf den Baumstumpf zu. Neugierig sah er sich um. Mittlerweile war es fast dunkel geworden. Kein Laut klang aus dem Wald zu ihm herüber. Er wartete. Wenn der Mond doch wenigstens scheinen würde damit er besser sehen könnte. Dieser versteckte sich jedoch hinter dicken grauen Wolken. Langsam kroch die Kälte in ihm hoch. Verflixt kalt heute dachte der Hartherzige, wo bleibt nur dieses alte Weib? Es rührte sich immer noch nichts. Allmählich bekam er Hunger. Wenn sie nicht gleich käme, würde er sich über die Köstlichkeiten in seinem Korb hermachen.

Als er Zweige knacken hörte fuhr er herum. Da stand sie vor ihm, mit einem geflickten Schal um den Kopf und erbärmlichen Stiefeln an den Füßen. Na endlich dachte er bei sich, das wurde ja auch langsam Zeit. Die Alte keuchte vor Anstrengung, denn auf ihrem gebeugten Rücken trug sie ein schweres Reisigbündel. „Wer bist du und wer hat dir gesagt wo ich zu finden bin?“, fragte sie.
„Mir gehört die Schuhfabrik im Dorf. Es war die Tochter des Schusters die mir den Weg beschrieb.“, antwortete er selbstgefällig und sah sie abschätzend an. Ein Lächeln flog über das runzelige Gesicht der alten Frau.
„Ja, das Mädchen“, sagte sie leise, „es hat ein gutes Herz.“
„Ach was gutes Herz“, entgegnete der Fabrikbesitzer unwirsch, „dafür kann man sich nichts kaufen. Komm setz dich zu mir. Ich habe Hunger und lade dich ein mit mir zu essen. Meine Frau hat mir allerlei Leckeres eingepackt.“

Mit großem Appetit verschlang er ein Stück nach dem anderen. Der alten Frau aber gab er von allem nur das, was er selbst nicht mochte. Vom Schinken den Fettrand, vom Käse die Rinde, vom Brot die trockene harte Kruste. Von dem Wein bekam sie nur den letzten Schluck. Nach der Mahlzeit meinte er zufrieden: „Das war gut meinst du nicht? Solch ein Essen bekommt man nicht alle Tage.“
„Wohl wahr“, stimmte sie zu, „hast du nicht zufällig ein paar warme Schuhe für mich in deinem Korb? Schau doch mal nach. Sieh mal, meine Stiefel haben ein Loch neben dem anderen.“
Er überlegte schnell. Diese feinen teuren Schuhe für die da? Das war wirklich nicht nötig. Er könnte sie noch für viel Geld verkaufen. Und so log dieser geizige Mensch: „Nein, Schuhe habe ich nicht zufällig dabei.“

„So, so“, sagte die alte Frau bedächtig, “was willst du von mir, warum bist du hergekommen?“
„Ich will auch eine Schatulle mit Geld von dir.“, antwortete er gierig. „Ich möchte meine Fabrik vergrößern, außerdem wünscht sich meine Frau ein neues Haus.“
Daraufhin sagte sie eine Weile nichts und betrachtete ihn mit brennenden Augen.
„Nun gut“, meinte sie, „aber trage mir erst mein schweres Bündel nach Hause.“
„Was soll ich?“, rief er entrüstet aus. „Das habe ich nicht nötig, schließlich bin ich ein Fabrikbesitzer wie du weißt. Mit solch niedrigen Arbeiten gebe ich mich nicht ab. Meine schöne Kleidung würde schmutzig dabei. Ich habe dich zum Essen eingeladen. Ist das nicht genug? Ich will jetzt meine Belohnung!“

In dem Moment dachte der Mann die Welt ginge unter. Es wurde stockfinster ringsherum. Grelle Blitze zuckten über den tiefschwarzen Himmel. Erschrocken liefen die Pferde mitsamt dem Schlitten davon. Ein plötzlich auftretender starker Wind wirbelte die Schneeflocken auf. In der Ferne hörte man einen Wolf schaurig heulen. Ein Wolf? Wo kam denn hier ein Wolf her? Starr vor Angst blickte er sich um. Was ging hier vor sich, wo war diese alte Frau? Ein gewaltiger Donnerschlag ließ ihn zusammenfahren. Dicht vor ihm stand eine hohe dunkle Gestalt, von einem unwirklichen Licht umgeben. Ihre schwarzen Augen sahen ihn durchdringend an. Sie sprach mit lauter drohender Stimme: „Ich bin die Schwester der guten Fee, zuständig für Leute wie dich. Für habgierige, hartherzige Menschen die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Die das Leid und die Not anderer nicht interessiert, für die helfen ein Fremdwort ist. Du willst eine Belohnung? Wofür? Alles das was ich sagte trifft auf dich zu. Ich bin dir als alte Frau erschienen um dich zu prüfen. Ja, du hast mich zum Essen eingeladen. Das Beste jedoch hast du selbst gegessen, mir blieben nur die Abfälle. Und die warmen Schuhe ließest du im Korb, statt sie einer alten frierenden Frau zu schenken. Du warst auch nicht bereit ihr schweres Bündel ein kurzes Stück zu tragen.“

Am ganzen Körper zitternd stand der stolze Fabrikbesitzer da. Vor lauter Angst wusste er weder ein noch aus. Nie zuvor in seinem Leben hatte er sich so gefürchtet.
„Ich gebe dir nun deine verdiente Belohnung“, sprach die Gestalt mit schneidender Stimme weiter, „höre mir gut zu. Wenn du ins Dorf zurückkehrst, wirst du deine Fabrik und dein Haus nicht mehr vorfinden. Mit deiner hartherzigen, geizigen Frau, wirst du ruhelos bis ans Ende deiner Tage umherziehen. Niemand wird euch Arbeit geben. Ihr werdet betteln müssen um euren Hunger zu stillen. Am eigenen Leib sollt ihr nun erfahren wie es ist arm zu sein. Wie man fühlt wenn die anderen Menschen selbstsüchtig sind und kein Mitleid haben.“
Nach diesen Worten verschwand sie und mit ihr auch die zuckenden Blitze.

Der Mann war außer sich vor Entsetzen über das soeben Gehörte. So schnell wie möglich musste er nach Hause. Zu dumm, dass die Pferde mit dem Schlitten davongelaufen waren. In Panik rannte er die Straße entlang. Der eisige Wind schnitt ihm ins Gesicht. Er stolperte und rutschte aus, rappelte sich wieder auf, und lief und lief. Man konnte die Hand vor Augen nicht sehen so dunkel war es. Kein einziger Stern stand am Himmel und wollte ihm leuchten. Völlig erschöpft kam er endlich ins Dorf zurück. Vergeblich suchte er nach seiner Fabrik. Er erschrak jetzt fürchterlich. Sollte tatsächlich alles so eingetreten sein wie ihm vorausgesagt wurde?

Seine Frau fand er weinend auf dem Platz wo einst sein Haus stand, es war ebenfalls verschwunden.
„Was ist falsch gelaufen?“, schrie sie ihn schon von weitem an. „Die köstlichsten Sachen und die teuersten Schuhe hatte ich dir eingepackt. Eine Schatulle mit Geld hast du auch nicht dabei.“, sie heulte laut auf. „Sieh dir das an. Wir haben nichts mehr, nichts. Alles ist fort, unser ganzes Hab und Gut. Was sollen wir jetzt nur machen?“ Sie raufte sich die Haare.
„Ich habe alles falsch gemacht“, sagte ihr Mann kleinlaut nachdem er seiner Frau von dem Geschehen erzählt hatte.
„Wie? Was?“, kreischte diese wie von Sinnen. „Du bist der größte Dummkopf der mir je unter gekommen ist.“
Dann zogen beide durch die Dunkelheit davon in der Hoffnung, dass irgendeine gute Seele einen warmen Schlafplatz für sie hatte. Nie wieder hörte man etwas von ihnen.

Die Schusterfamilie jedoch lebte noch lange glücklich und zufrieden in ihrem neuen Heim. Sie waren gut zu jedermann und teilten ihren Wohlstand mit denen die bedürftig waren.

Quelle:
(Dagmar Buschhauer)

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