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Das Märchen von den drei Königssöhnen

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In alter Zeit lebte ein mächtiger und guter König; derselbe herrschte über ein großes, gewaltiges Reich; doch wird nicht berichtet, wo dasselbe lag oder welches der Name des Königs war. Er hatte mit seiner Königin drei Söhne, welche alle hoffnungsvolle junge Männer waren und von dem Könige sehr geliebt wurden.
Der König hatte eine Königstochter aus dem Nachbarreiche zur Erziehung angenommen und zog dieselbe mit seinen Söhnen auf. Sie stand ungefähr im selben Alter wie diese und war das schönste und sittsamste Mädchen, welches man in der damaligen Zeit gesehen hatte; der König liebte sie denn auch nicht weniger als seine Söhne.
Als die Königstochter in die heirathsfähigen Jahre gekommen war, verliebten sich alle drei Königssöhne in dieselbe und zwar so ernstlich, daß sie alle drei um ihre Hand anhielten. Da der eigene Vater des Mädchens gestorben war, hatte der König über ihre Verheirathung zu bestimmen; da er aber alle seine Söhne gleich lieb hatte, gab er ihnen zur Antwort, daß die Königstochter selbst sich denjenigen zum Bräutigam wählen möge, welchen sie am liebsten habe.
Er ließ deshalb an einem bestimmten Tage die Königstochter zu sich rufen und theilte ihr mit, es sei sein Wille, daß sie sich einen seiner Söhne zum Manne auserwähle.
Die Königstochter sagte:
»Es ist meine Pflicht zu thun, was du gebietest; wenn ich aber einen Deiner Söhne erwählen soll, so gerathe ich in keine geringe Verlegenheit, denn ich muß gestehen, daß sie mir alle gleich theuer sind und daß ich keinen dem Anderen vorziehen kann«.
Als der König diese Antwort erhielt, schien es ihm, daß die Schwierigkeiten noch größer geworden, und er grübelte lange nach, um einen Ausweg zu finden, mit dem alle zufrieden sein könnten. Er traf endlich die Entscheidung, daß jeder der Söhne im Verlauf eines Jahres sich ein Kleinod verschaffen und derjenige die Königstochter erhalten solle, welcher das kostbarste aufzuweisen habe.
Die Königssöhne waren mit dieser Entscheidung zufrieden und kamen überein, daß sie nach Ablauf eines Jahres alle drei in einem Lustschlosse auf dem Lande zusammentreffen und sich von hier aus gemeinschaftlich in die Stadt begeben wollten, um ihre Kleinode zu zeigen. Die Königssöhne wurden nun auf das Beste für die Reise ausgestattet.
Es wird zuerst von dem Aeltesten berichtet, daß er von Land zu Land und von Stadt zu Stadt zog, ohne jedoch ein Kleinod zu finden, welches ihm werthvoll genug erschien. Endlich hörte er von einer Königstochter erzählen, welche ein Fernglas besitze, das für das größte Kleinod gehalten werde. Durch dieses Fernglas konnte man, so hieß es, über die ganze Welt hin, jeden Ort, jeden Menschen und jedes Thier und ebenso auch, was jedes lebende Geschöpf verrichte, sehen. Der Königssohn dachte, daß man wohl nie einen kostbareren Gegenstand erhalten könne als dieses Fernglas, und machte sich daher auf den Weg zur Königstochter, um ihr dasselbe abzuhandeln. Allein die Königstochter wollte sich zuerst um keinen Preis von ihrem Kleinod trennen; als jedoch der Königssohn nicht abließ, sie darum zu bitten, und ihr erzählte wie die ganze Sache sich verhalte, ließ sie sich endlich doch herbei, ihm das Fernglas zu verkaufen. Er bezahlte dafür eine sehr große Summe und zog nun wieder heim, ganz vergnügt über seinen guten Fang und voll Hoffnung, daß er die Königstochter erhalten werde.
Dem zweiten Königssohn erging es ganz gleich wie seinem älteren Bruder; auch er fand nirgends einen Gegenstand, der ihm werthvoll genug erschien, und reiste lange umher ohne irgendwie Hoffnung zu erhalten, daß er seinen Wunsch werde in Erfüllung gehen sehen.
Einmal kam er wieder in eine große und starkbevölkerte Stadt und suchte, wie an den anderen Orten, nach werthvollen Gegenständen; er fand aber nichts, was ihm gefiel. Da hörte er, daß ganz nahe der Stadt ein Zwerg wohne, der an Klugheit und Geschlicklichkeit ein zweiter Völund (der berühmte Schmied Wieland der deutschen Heldensage) sei. Es kam ihm nun der Gedanke, diesen Zwerg zu besuchen und ihn dahin zu bringen, daß er ihm irgend einen sehr kostbaren Gegenstand verfertige. Er ließ sich zu dem Zwerge führen, traf diesen zu Hause an und sagte ihm sein Begehren.
Der Zwerg antwortete, daß er die Schmiedekunst beinahe ganz aufgegeben habe und daher den Wunsch des Königssohnes nicht erfüllen könne. Doch besitze er ein Kleid, sagte er, welches er in seinen jüngeren Jahren verfertigt habe; er wolle sich aber nur ungern von demselben trennen.
Der Königssohn fragte ihn, was für eine Eigenschaft das Kleid besitze und was für einen Nutzen man von demselben haben könne.
Der Zwerg entgegnete, daß man auf diesem Kleide die ganze Erde durchwandern könne, sowohl in der Luft wie auf dem Meere; »aber es sind Runen in das Kleid eingeschnitten, welche Derjenige verstehen muß, der es lenken will«.
Der Königssohn dachte nun, daß man wohl kaum einen kostbareren Gegenstand finden könne und bat deshalb den Zwerg, daß er ihm um jeden Preis das Kleid verkaufen möge. So wenig dieser auch dazu geneigt war, so ließ er sich endlich doch bewegen, als er hörte, wie wichtig es für den Königssohn sei, dasselbe zu erhalten, und verkaufte ihm das Kleid für eine ungeheure Summe Geldes. Der Königssohn sah, daß das Kleid, ein herrliches Kleinod, überall mit Gold durchwirkt und mit Edelsteinen besetzt war. Hierauf zog er wieder heimwärts, voll Hoffnung, daß er bei der Freierei den Sieg davontragen werde.
Der jüngste Königssohn zog am spätesten fort und wanderte zuerst im Lande selbst von einem Orte zum anderen. Wo er auf seinem Wege einen Kaufmann antraf oder anderwärts, wo er Kleinode zu finden hoffte, erkundigte er sich eifrig nach solchen; aber alle seine Anstrengungen blieben fruchtlos und der größte Theil des Jahres ging dahin, ohne daß er zu seinem Ziele gelangte. Er begann deshalb schon an dem guten Ausgang seiner Sache zu verzweifeln.
Endlich kam er auch in eine dichtbevölkerte Stadt, wo eben ein großer Markt abgehalten wurde und unzählige Menschen aus allen Gegenden der Welt beisammen waren. Er durchwanderte die Stadt von einem Kaufmann zum andern, bis er auch auf einen Mann stieß, der mit Aepfeln handelte. Dieser Kaufmann sagte, er besitze einen Apfel, welcher die Eigenschaft habe, daß er einem Menschen, der schon ganz dem Tode verfallen ist, in die rechte Hand gelegt, diesen sogleich von seiner Krankheit heile und ihn wieder zum Leben erwecke. Diesen Apfel hätten schon seine Ahnen besessen, sagte er, und er habe stets als Heilmittel gedient. Als der Königssohn dies hörte, wünschte er um jeden Preis in den Besitz dieses Apfels zu gelangen; denn er meinte, daß er kaum einen anderen Gegenstand finden würde, welcher mehr nach dem Geschmacke der Königstochter wäre. Er bat deshalb den Kaufmann, ihm den Apfel zu verkaufen, erzählte ihm seine ganze Geschichte und wie all sein zeitliches Wohl daran hänge, hinter seinen Brüdern in der Beschaffung kostbarer Kleinode nicht zurückzustehen.
Als der Kaufmann die Geschichte des Königssohnes angehört hatte, wurde er von solchem Mitleid für ihn erfaßt, daß er ihm den Apfel verkaufte, und froh und glücklich machte sich der Königssohn auf den Heimweg.
Es verlautet früher nichts Weiteres von den Brüdern, als bis sie alle drei an dem verabredeten Orte zusammentrafen, wo sie sich sogleich die merkwürdigsten Begebenheiten ihrer Reise erzählten. Der älteste Bruder gedachte sich jetzt ein Vergnügen damit zu machen, daß er der erste sein werde, welcher die Königstochter sehen und erfahren werde, wie es ihr ergehe; er nahm deshalb sein Fernrohr und richtete dasselbe gegen die Stadt.
Was sieht er aber?
Weiß wie der Schnee liegt die Königstochter in ihrem Bette. Sein Vater, der König, und die vornehmsten Hofleute umstehen in schwarzen Trauerkleidern und mit kummervollen Gesichtern ihr Lager und erwarten den letzten Athemzug der schönen Königstochter.
Als sich dem Königssohn dieser schmerzliche Anblick darbot, wurde er ganz überwältigt von Kummer; auch seine Brüder, denen er mittheilte, was er sah, wurden von großer Traurigkeit erfüllt. Gerne würden sie ihre ganze Habe dafür hingegeben haben, sagten sie, wenn sie diese Reise nicht unternommen hätten, denn sie hätten dann der schönen Königstochter wenigstens den letzten Dienst erweisen können.
Während sie so in lauten Klagen jammerten, fiel dem mittleren Bruder sein Kleid ein, das ihn ja augenblicklich in die Stadt bringen konnte. Er erzählte dies seinen Brüdern und sie waren nun sehr erfreut über diese unerwartete Hilfe. Sie breiteten das Kleid auf die Erde aus und stiegen darauf. Augenblicklich erhob sich dasselbe mit ihnen in die Luft und in einigen Minuten schon hatten sie die Stadt erreicht.
Sie begaben sich, so schnell sie konnten, in die Kammer der Königstochter, wo sie alle Anwesenden in tiefem Kummer fanden. Man erzählte ihnen, daß jeder Athemzug der letzte sein könne. Da dachte der jüngste Bruder an seinen Apfel; niemals konnte es ihm nützlicher sein, die Kraft desselben zu versuchen, als gerade jetzt, das schien ihm gewiß zu sein. Er trat daher unverweilt an das Bett der Königstochter und legte den Apfel in ihre rechte Hand. In diesem Augenblicke war es, als ob ein neues Leben durch ihren ganzen Körper ströme, ihre Augen öffneten sich und nach Verlauf weniger Minuten begann sie auch schon mit den Umstehenden zu sprechen. Wie Jedermann begreift, gab es nun eine unbeschreibliche Freude am Hofe des Königs über die Heimkunft der Brüder und die Wiederbelebung der Königstochter.
Als die Königstochter ihre volle Gesundheit wieder erlangt hatte, wurde ein großes Thing (Versammlung) einberufen, vor welchem die Brüder ihre Kleinode zeigen sollten.
Zuerst trat der älteste Bruder vor mit seinem Fernrohr; er zeigte dasselbe herum, indem er erklärte, was für ein köstlicher Schatz dies sei, da man nur diesem es zu verdanken habe, daß die schöne Königstochter vom Tode gerettet wurde, denn durch dieses Fernrohr habe er gesehen, wie es in der Stadt stehe. Er habe deshalb gewiß berechtigten Anspruch darauf, daß er die Königstochter erhalte.
Hierauf trat der mittlere Bruder vor, zeigte sein Kleid und erklärte, wozu es nütze. Was hätte es ohne das Kleid geholfen, wenn auch sein Bruder zuerst gesehen habe, daß die Königstochter krank sei? »denn auf demselben kamen wir noch rechtzeitig genug in die Stadt, um ihr das Leben zu retten; ich meine deshalb, man habe es wohl am meisten der Macht des Kleides zu verdanken, daß die Königstochter nicht todt ist«, meinte er.
Nun kam der jüngste Bruder mit dem Apfel und sagte: »Wenig würden das Fernrohr und das Kleid genützt haben, hätten wir nicht meinen Apfel gehabt, um der Königstochter das Leben zu retten. Denn was hätten wir Brüder davon gehabt, Augenzeugen ihres Todes zu sein? Dies hätte in uns nur Kummer und Schmerz erweckt. Dem Apfel allein ist es zuzuschreiben, daß die Königstochter noch am Leben ist, und ich glaube deshalb, daß ich am Würdigsten bin, sie zu erhalten«.
Es wurde nun im Thing besprochen und berathen, welches Kleinod wohl das werthvollste sei, bis sich die Leute endlich dahin einigten, daß alle drei Kleinode in gleichem Maße dazu beigetragen hätten, der Königstochter das Leben zu retten; denn hätte eines davon gefehlt, so würden die anderen wenig genützt haben. Das Urtheil lautete denn dahin, daß alle Kleinode gleich gut seien und daher noch nicht entgiltig entschieden werden könne, welcher von den Brüdern die Königstochter erhalten solle.
Da kam der König auf den Gedanken, alle drei Brüder um die Wette schießen zu lassen; derjenige von ihnen, welcher sich als der beste Schütze erweisen würde, sollte die Königstochter zum Weibe bekommen. Es wurde ein Ziel bestimmt, und der älteste Bruder trat zuerst vor mit Bogen und Köcher.
Er schoß; allein der Pfeil fiel weit vor dem Ziele zur Erde nieder.
Hierauf trat der zweite Bruder vor, und sein Pfeil kam dem Ziele ganz nahe.
Endlich kam der dritte und jüngste Bruder, und es schien, als ob sein Pfeil am Weitesten geflogen wäre; aber unglücklicher Weise konnte man denselben nicht finden, obgleich man mehrere Tage hindurch gesucht hatte. Der König fällte daher die Entscheidung, daß der mittlere Bruder die Königstochter erhalten solle. Sie wurden denn auch getraut, und da der König, der Vater der Braut, wie erzählt, vor einiger Zeit gestorben war, zogen sie in dessen Reich und der Königssohn übernahm die Regierung desselben. Beide kommen in dem Märchen nicht mehr vor.
Der älteste Bruder verließ ebenfalls die Heimat; er verblieb im Auslande und kommt ebenfalls in dieser Geschichte nicht weiter mehr vor.
Der jüngste Bruder jedoch blieb daheim bei seinem Vater und war sehr unzufrieden über den Ausgang, den die Sache genommen hatte. Jeden Tag irrte er an den Orten herum, wo er glaubte, daß der Pfeil liegen müsse. Endlich fand er denselben auch und sah nun, daß er weit über das Ziel hinausgeflogen und in einer Eiche im Walde stecken geblieben war. Er führte Zeugen dahin, wo der Pfeil gefunden worden war, und hoffte, daß seine Sache neuerdings aufgenommen werden würde; allein davon war nicht die Rede, denn der König sagte, er könne die Entscheidung, die er einmal gefällt, nicht mehr abändern.
War der Königssohn schon früher mit seinem Schicksale unzufrieden, so wurde er es jetzt noch mehr, und es war ihm bald nicht mehr möglich, mit Anderen Umgang zu pflegen. Er faßte deshalb eines Tages den Entschluß, aus dem Lande fortzuziehen, und machte das Gelübde, niemals wieder seinen Fuß in dieses Reich zu setzen. Er nahm alle seine Kleinodien mit sich, doch wußte Niemand etwas von seinem Entschlusse, nicht einmal sein Vater, der König.
Er wanderte hinaus in einen großen Wald und irrte viele Tage umher, ohne zu wissen, wohin er kam. Er wurde bald hungrig und müde und es kam endlich soweit mit ihm, daß er sich nicht mehr getraute, weiter zu gehen. Da setzte er sich neben einem großen Steine nieder und meinte, daß er nun hier sein elendes, sorgenvolles Leben beschließen werde; als er aber eine Weile dort gesessen und hingebrütet hatte, sah er plötzlich zehn wohlbewaffnete und feingekleidete Männer herankommen. Sie waren alle zu Pferde und ritten direct auf den Stein zu, wo er saß.
Sowie sie bei ihm anlangten, stiegen sie von ihren Pferden und begrüßten ihn. Sie luden ihn ein, ihnen auf dem ledigen, prächtig aufgesattelten Pferde zu folgen, welches sie mitgebracht hatten. Er danke ihnen für ihr Anerbieten und bestieg das Pferd. Sie ritten hierauf des Weges dahin, bis sie zu einer großen und prächtigen Stadt kamen. Die Reiter stiegen von ihren Pferden und führten den Königssohn hinein in die Stadt.
In dieser Stadt regierte eine junge und überaus schöne königliche Jungfrau. Die Reiter führten den Königssohn zu ihr, und sie empfing denselben mit der größten Freundlichkeit. Sie erzählte ihm, daß sie von all‘ den Leiden seines Lebens gehört und auch erfahren habe, daß er seinem Vater entlaufen sei. »Da entflammte in meiner Brust die heißeste Liebe zu Dir und es erfüllte mich sehnsüchtiges Verlangen, Dir in Deinem Unglücke beizustehen. Wisse, daß ich die zehn Reiter aussandte, um Dich aufzusuchen und hierher zu bringen. Nun lade ich Dich ein, hier zu bleiben und über mein ganzes Reich zu herrschen; ich will, soweit es in meiner Macht steht, versuchen, Deinem Kummer ein Ende zu machen.«
Obgleich der Königssohn sehr verstimmt und voll Kummer war, blieb ihm doch nichts Anderes übrig, als dieses Anerbieten anzunehmen und um die königliche Maid zu freien. Man traf hierauf Vorbereitungen zu einem großen Festmahle, und die Beiden wurden nach der Sitte dieses Landes getraut. Der junge König trat sogleich die Regierung des ganzen Reiches an und Alles nahm einen guten Fortgang.
So verstrich einige Zeit.
Wir kehren wieder zurück zu dem alten Könige.
Nach dem Verschwinden des Sohnes wurde er des Lebens überdrüssig, da er ja auch bereits hoch an Jahren war und vor nicht langer Zeit seine Königin verloren hatte. Da geschah es eines Tages, daß ein umherwanderndes Weib in des Königs Halle kam. Sie war sehr erfahren in vielen Dingen und wußte viel zu erzählen. Es war für den alten König ein großes Vergnügen, ihre Geschichten anzuhören, und sie erwarb sich recht bald sein Wohlwollen.
So dauerte es eine Weile, bis der König endlich große Liebe zu diesem Weibe faßte, und das Ende vom Liede war, daß er dasselbe zu seiner Königin machte, obschon der ganze Hof dagegen war. Es währte nicht lange, so mischte die neue Königin sich stark in alle Regierungsgeschäfte, und wo sie nur konnte, machte sie Schlimmes noch schlimmer – so schien es den Leuten. Einmal sagte sie zum König:
»Es kommt mir ganz merkwürdig vor, daß Du Deinem fortgelaufenen Sohne nicht auf die Spur zu kommen suchst; man straft doch oft ein geringeres Verbrechen, so viel ich weiß. Du hast doch wohl gehört, daß er König über eines der benachbarten Reiche geworden ist, und alle Leute sagen, er werde Dich, sowie er sich dazu im Stande sieht, mit seinem Heere angreifen, um sich für das Unrecht zu rächen, welches er bei der Freierei um die Königstochter erlitten zu haben glaubt. Ich will deshalb, daß Du ihm zuvorkommst und diese Gefahr von Dir abwendest.« Der König ging jedoch nicht weiter auf die Sache ein und kümmerte sich wenig um dieses Geschwätz; allein die Königin fuhr fort, ihm so lange vorzureden, bis er endlich ihren Worten doch Glauben schenkte. Er bat sie um ihren Rath, wie er es anfangen solle, damit Alles so heimlich als möglich geschehen könne.
Die Königin antwortete:
»Schicke Leute mit großen Geschenken zu ihm und lasse ihn bitten, daß er zu Dir komme und mit Dir spreche, damit Ihr Euch über die Regierung des Reiches nach Deinem Tode berathen und die Freundschaft und die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Euch befestigen könnt. Ich werde Dir dann schon sagen, was noch weiter zu thun sein wird.«
Dem König gefiel dieser Rath und er schickte Boten ab mit guten Geschenken. Dieselben traten damit vor den jungen König und brachten klare Beweise vor, daß sein Vater ihn so schnell als möglich zu sehen und zu sprechen wünsche.
Der König ging willig darauf ein, und traf sogleich Vorbereitungen zu seiner Abreise. Als jedoch die Königin dies sah, wollte ihr sein Vorhaben durchaus nicht gefallen, und sie sagte, daß er diese Reise gewiß noch bereuen werde. Nichtsdestoweniger zog der König fort, und es wird von seiner Reise früher nichts berichtet, als bis er heim kam in die Stadt seines Vaters.
Der alte König empfing ihn ziemlich kalt, worüber der Sohn nicht wenig verwundert war. Nachdem er kurze Zeit dort geweilt, rief der Vater ihn zu sich und tadelte ihn mit strengen Worten, daß er ihm entlaufen sei. Er sagte, daß er ihm dadurch Geringschätzung bezeigt und Kummer verursacht habe, der ihn leicht hätte in’s Grab bringen können. »Du würdest deshalb dem Tode verfallen sein nach dem Gesetze der Gerechtigkeit; da Du Dich aber selbst in meine Gewalt begeben hast und außerdem mein Sohn bist, so kann ich es nicht über das Herz bringen, Dich tödten zu lassen; aber drei schwierige Arbeiten will ich Dir auferlegen, die Du nach Ablauf eines Jahres ausgeführt haben mußt, sonst gilt es Dein Leben. Das erste besteht darin, daß Du mir ein Zelt bringst, in welchem hundert Menschen Platz haben, das man aber doch in einer Hand verbergen kann; die zweite darin, daß Du mir das Wasser bringst, welches alle Krankheiten heilt; die dritte aber besteht in nichts Geringerem, als daß Du mir einen Mann bringst und zeigst, der allen übrigen Menschen in der Welt unähnlich ist.«
»Wohin weisest Du mich, um diese Arbeiten auszuführen?« fragte der junge König.
»Das ist Deine Sache«, entgegnete der Vater. Der alte König ging sodann fort, der junge König aber machte sich sogleich wieder auf den Heimweg, und es gab keinen freundlichen Abschied. Er kam ohne weitere Ereignisse heim in sein Reich.
Als er nun aber sehr in sich gekehrt und schwermüthig war, drang seine Königin in ihn, und bat ihn, daß er ihr doch sagen möge, worüber er nachgrüble. Er antwortete ihr, dies gehe sie nichts an. Die Königin sagte:
»Ich weiß, daß man Dir einige beschwerliche Arbeiten auferlegt hat, welche nicht leicht auszuführen sein werden; aber was nützt es Dir, deshalb so bekümmert zu sein? Ermanne Dich und versuche, ob sich diese Unternehmungen nicht doch ausführen lassen. Es wäre ja auch nicht unmöglich, daß ich Dir dabei ein wenig behilflich sein kann; laß mich deshalb wissen, was Dich beunruhigt«.
Der König sah nun ein, daß es am Besten sei, der Königin die ganze Wahrheit mitzutheilen und er erzählte ihr Alles, wie es sich verhielt.
»Dies geschieht gewiß auf den Rath Deiner Stiefmutter«, sagte die Königin, »und es würde recht gut sein, wenn sie nicht noch andere schlimme Pläne gegen Dich oder Andere schmiedete. Sie hat sich wohl gedacht, daß es nicht so leicht sein werde, aus diesen Schwierigkeiten herauszukommen; indessen kann ich vielleicht doch etwas in der Sache thun. Das Zelt besitze ich selbst, und somit ist diese Sorge beseitigt. Das Wasser, welches Du bringen sollst, befindet sich nicht weit von hier; es ist jedoch nicht leicht, dasselbe zu erhalten; denn es ist in einem Brunnen und dieser Brunnen befindet sich in einer sehr finsteren Höhle. Sieben Löwen und drei Kreuzottern bewachen den Brunnen, und kein Mensch entkommt lebend diesen Ungeheuern. Das Wasser aber besitzt die Eigenschaft, daß es seine ganze Heilkraft verliert, wenn dieses Gezücht nicht wach ist. Ich will es aber doch versuchen, zu diesem Wasser zu gelangen.«
Die Königin begab sich zur Höhle und nahm sieben Ochsen und drei Schweine mit sich dahin. Als sie zur Höhle kam, ließ sie die Ochsen und die Schweine schlachten und warf sodann jene den Löwen, diese aber den Schlangen vor. Während nun diese Ungeheuer damit beschäftigt waren, die todten Körper zu verschlingen stieg die Königin in den Brunnen hinab und holte das Wasser, welches sie haben wollte. Es traf sich so glücklich, daß die Königin gerade die Höhle verließ, als die Thiere mit ihrem Fraß fertig waren. Hierauf kehrte dieselbe in die Stadt zurück, und es war somit auch die zweite Arbeit geleistet.
Nun sagte die Königin zum König:
»Die zwei ersten Schwierigkeiten sind überwunden; noch bleibt aber die dritte und schlimmste Arbeit übrig, und diese mußt Du überdies selbst ausführen; aber ich kann Dir vielleicht doch angeben, wie Du dabei zu Werke gehen sollst. Ich habe einen Halbbruder, der eine kleine Insel beherrscht, die nicht weit von diesem Lande sich befindet. Er ist drei Fuß hoch, hat mitten in der Stirne ein Auge, und einen dreißig Ellen langen Bart, der so steif ist wie Schweineborsten. Außerdem hat er eine Hundeschnauze und ein Paar Katzenaugen, und ich halte es nicht für wahrscheinlich, daß er einem anderen Menschen in der weiten Welt ähnlich sieht. Wenn er an irgend einen Ort gelangen will, so schwingt er sich mit Hilfe einer 50 Ellen langen Stange vorwärts, und schießt so schnell dahin wie ein fliegender Vogel. Als mein Vater einmal auf der Jagd war, wurde er von einem Riesenweibe, welches in einer Höhle unter einem Wasserfalle wohnte, verzaubert und zeugte mit ihr dieses Ungeheuer. Die Insel, auf der er sich aufhält, bildet ein Drittel von dem Reiche meines Vaters, aber er findet dieselbe doch zu klein für sich. Mein Vater hatte einen Ring, ein wunderbares Kleinod, welchen wir alle beide gerne besitzen wollten; er fiel jedoch mir zu. Seit dieser Zeit verfolgt er mich mit Haß und Feindschaft. Nun will ich versuchen an ihn zu schreiben und ihm den Ring zu senden; vielleicht läßt er sich dadurch milder stimmen, um unseren Willen zu erfüllen. Ziehe deshalb mit einem prächtigen Gefolge zu ihm, und nimm, wenn Du zum Thore seiner Halle kommst, die Krone ab, und tritt so baarhaupt hin vor seinen Thron. Küsse sodann seinen Fuß und überreiche ihm Brief und Ring. Wenn er Dich dann auffordert, aufzustehen, hast Du etwas ausgerichtet, sonst nicht.«
Der König machte Alles genau so, wie die Königin es ihm aufgetragen hatte, und als er zu dem einäugigen Könige kam, entsetzte er sich über das häßliche und wilde Aussehen desselben; aber er ermannte sich doch und überreichte ihm Brief und Ring.
Als der Einäugige den Ring zu Gesichte bekam, zeigte er sich ungemein erfreut und sagte:
»Etwas Wichtiges soll ich wohl für meine Schwester thun, da sie mir diesen Schatz sendet?«
Nachdem er den Brief gelesen hatte, hieß er den König sich erheben, und sagte, er sei sogleich bereit nach dem Wunsche seiner Schwester mit ihm zu ziehen.
Er nahm hierauf seine Stange und war im Augenblicke verschwunden. Von Zeit zu Zeit wartete er auf die Anderen und schalt den König aus wegen seiner Langsamkeit. Sie setzten so die Reise fort bis sie zur Halle des Königs kommen. Sie waren kaum dort angelangt, als auch der Einäugige schon seine Schwester rief und fragte, was sie denn wünsche, daß sie ihn bemühe, einen so langen Weg zu machen.
Sie erzählte ihm nun den ganzen Stand der Sache, und bat ihn, ihren königlichen Eheherrn aus den Bedrängnissen zu befreien, welche über ihn verhängt waren. Er erklärte sich dazu bereit, ohne einen Augenblick zu zögern. So machten sie sich denn sogleich auf den Weg und kamen ohne weitere Abenteuer zu dem alten Könige.
Der junge König verkündete seinem Vater seine Ankunft und meldete ihm, daß er nun die Dinge bringe, welche er vor einem Jahre von ihm verlangt habe. Er wünsche, daß ein Thing einberufen werde, damit er vor demselben zeigen können, wie er sich seines Auftrages entledigt habe. Dies geschah auch, und außer dem Könige und der Königin waren auch Häuptlinge in großer Menge auf dem Thing anwesend.
Zuerst wurde das Zelt vorgezeigt, und niemand hatte daran etwas auszusetzen. Hierauf übergab der junge König das heilkräftige Wasser seinem Vater, und man ließ die Königin dasselbe kosten, damit sie prüfen könne, ob es das richtige Heilwasser sei oder nicht, und ob es zur richtigen Zeit geholt wurde. Die Königin gab zu, daß es sich so verhalte.
Da sagte der alte König:
»Nun ist noch das Dritte und Schwerste übrig; sieh zu daß Du es schnell machst.«
Da schickte der junge König nach dem Einäugigen. Als derselbe auf dem Thing erschien, wurden Alle, insbesondere aber der alte König von Furcht und Entsetzen vor solcher Häßlichkeit erfüllt. Nachdem er sich kurze Zeit gezeigt, setzte er seine Stange an die Brust der Königin, hob sie mit derselben empor und schleuderte sie hierauf so stark auf den Boden nieder, daß alle ihre Knochen zerbrachen; in diesem Augenblicke wurde sie zu dem schlimmsten Riesenweibe. Nachdem er dies gethan hatte, eilte der Einäugige wieder aus dem Thing fort.
Man ging nun daran, den alten König zu pflegen, welcher aus bloßem Schreck dem Tode nahe war. Er wurde mit dem heilkräftigen Wasser besprengt und kam wieder zu sich. Nach dem Tode der Königin kehrte auch seine volle Besinnung wieder zurück und er erkannte nun, daß alle Beschwerden, welche er seinem Sohne auferlegt hatte, unverschuldet waren, und daß er dies Alles auf den Antrieb der Königin gethan hatte. Er ließ den Sohn zu sich rufen und bat ihn demüthig um Verzeihung für Alles, was er ihm Schlimmes zugefügt hatte. Er wolle all‘ dies wieder gut machen, sagte er, indem er ihm dieses Reich übergebe; er selbst wolle den Rest seiner Tage in Ruhe und Frieden bei ihm verleben.
Der junge König schickte nun nach seiner Königin und nach den bravsten Leuten seines Reiches. Um uns kurz zu fassen sei nur berichtet, daß sie das Reich, welches sie früher besaßen, verließen und es dem Einäugigen schenkten, um ihn damit für seinen Beistand zu belohnen. Sie selbst aber beherrschten das Reich des alten Königs bis an das Ende ihres Lebens.

[Island: Jos. Cal. Poestion: Isländische Märchen]

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