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Märchenbasar

Das Märchen von der schönen Zelandine

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Es war ein einmal ein fahrender Ritter mit Namen Troylus, der zog von Abenteuer zu Abenteuer durch die Welt. So gelangte er einstmals auf seinen Fahrten auf eine Insel, welche dem bretonischen Festlande vorgelagert war und kehrte im Schlosse des Herren dieser Insel, welcher Zeland hieß, ein. Troylus schloß mit dessen Sohn Zelandin einen Freundschaftsbund und erkor die liebliche Zelandine, die Tochter des Schloßherrn, zur Dame seines Herzens; und auf seinen weiteren Fahrten – denn nicht lange hielt es ihn im gastlichen Hause des Herrschers – brach er manche Lanze ihr zu Ehren.
Schließlich trieb ihn die Sehnsucht in die Heimat Zelandinens zurück. Da er vor Einbruch der Nacht das Schloß ihres Vaters nicht mehr erreichen konnte, nahm er im Hause einer vornehmen Dame Quartier und erkundigte sich nach seinem Freunde Zelandin, denn nach der Jungfrau selbst zu fragen, traute er sich nicht. »Herr,« sagte die Dame, »der Ritter, von dem Ihr da sprecht, ist nicht hier, sondern hält sich, wie man sagt, auf dem bretonischen Festlande auf. Er ist im Auftrage seines Vaters Zeland eilends dorthin gereist, denn seine Schwester ist schwer erkrankt, und niemand kennt ein Heilmittel für sie. Dieserhalb hat Zeland seinen Sohn in die große Bretagne geschickt, daß er dort erfahre, was zu tun sei, und ob er vielleicht einen Meister fände, der ein Mittel gegen ihre Krankheit wüßte.« – »Edle Frau,« erwiderte Troylus, »es ist schade um die Jungfrau, denn sie ist verständig und züchtig, aber, ich bitte Euch, sagt mir doch, an welchem Übel sie leidet.« – »Herr,« sagte die Dame, »heute ist es ein Monat, daß die Jungfrau von einem Fest aus der großen Bretagne zurückkam. Bei ihrer Rückkehr war eine größere Anzahl von Damen dieses Landes bei ihr versammelt, um sich mit ihr zu vergnügen. Als nun die Feier beendet war, verblieb sie mit zwei jungen Mädchen, ihren Basen, in ihrer Kammer.
Es ereignete sich am selben Tage, daß sie aus den Händen eines dieser Fräulein einen Spinnrocken mit Flachs darauf entgegennahm und zu spinnen begann. Aber noch hatte sie den ersten Faden nicht vollendet, als sie sich schlafbefangen niederlegte, und seitdem ist sie nicht erwacht, hat auch nicht getrunken noch gegessen, und doch ändert sich die Farbe ihres Fleisches nicht, und jedermann nimmt es Wunder, wie sie so leben kann. Aber man sagt, daß die Göttin Venus, der sie ihr ganzes Leben lang gedient hat, sie gesund erhalte.« Die Dame merkte bald an Troylus‘ Gebaren, daß er Zelandine liebe, und da sie die Jungfrau ihrem eigenen Sohne zugedacht hatte, so belegte sie den Ritter mit einem starken Zauber, so daß er ohne Erinnerung an das Vergangene und fast von Sinnen in Zelands Schloß einritt.
Zeland befand sich gerade im Saale, und bei ihm waren alle Meister der Heilkunst des ganzen Landes, welche die schöne Zelandine behandelten, aber es war keiner darunter, der ihre Krankheit zu heilen verstand. Als Troylus den Saal betrat, betrachtete er sogleich die Bildnisse und Historien, die rings an den Wänden hingen, wie einer, der seiner Sinne nicht in vollem Maße mächtig ist. Es geschah aber, daß Zelands Narr eintrat, und, sobald dieser Troylus bemerkt hatte, betrachtete er ihn eingehend nach Narrenart; als er ihn aber genugsam betrachtet hatte, sagte er zu ihm: »Meister, komm und setze dich zu den andern, denn du wirst die schöne Zelandine heilen.«
Mit diesen Worten zog er ihn am Rock, so fest er konnte. Als Troylus bemerkte, daß ihn der Narr also zerrte, riß er sich so hastig von ihm los, daß der arme Narr zu Boden purzelte. Aber kaum hatte er sich wieder erhoben, so begann er von neuem, Troylus fortzuzerren, um ihn zu den Ärzten zu führen, welche sich, Rats zu pflegen, zurückgezogen hatten, damit sie Zelands Anfrage beantworten könnten. Als Zeland sah, wie sein Narr mit dem eben angekommenen Narren stritt, und daß dieser ihm nicht gehorchen wollte, da verwunderte er sich sehr, woher jener komme, und er fragte sich, was sein Narr von ihm wolle. Dann aber hörte er, wie dieser zum fremden Narren sagte: »Komm und heile Zelandine!« Dieses Drängen setzte der Narr eine Weile fort, endlich aber ließ er ab, kam zu seinem Herrn und sagte zu ihm: »Herr, lasse alle Ärzte gehen und nimm diesen Narren ohne die andern, denn er ist es, der deine Tochter heilen wird.« – »Geh, Narr!« sagte Zeland, der diesen Worten wenig Glauben beimaß. »Wie, Zeland,« entgegnete der Narr »glaubst du mir nicht? So wisse, daß sie nie geheilt werden wird außer durch ihn, denn er ist im Besitze des Heilmittels.« Dann ging er ganz bestürzt über seinen Mißerfolg davon. Obwohl Zeland den Worten des Narren wenig Bedeutung beilegte, erhob er sich doch alsbald und trat auf Troylus zu, der sich in der Mitte des Saales aufhielt und fragte ihn, woher er käme, und wo seine Heimat sei. Troylus war durch Zauberkräuter von Sinnen gekommen, er antwortete daher so einfältig, daß Zeland ihn für einen echten Narren hielt und sich wieder zu den Meistern wandte, die auf ihn warteten, um seine Frage zu beantworten. Sie sagten ihm aber, daß sie wirklich kein Heilmittel für die Krankheit seiner Tochter wüßten, und daß ihr Übel kein natürliches sein könne. Er möge sie in seinem alten Turm unterbringen und dort eingeschlossen halten. Dann solle er den Willen der Götter abwarten, die im Geheimen handeln und ihre Hilfe im Verborgenen angedeihen lassen. Als Zeland sah, daß er keinen andern Rat in Betreff seiner Tochter bekommen könne, wurde er sehr betrübt, schloß sich aber der Meinung der Ärzte an. Da nämlich keine Heilkunst hier etwas vermochte, so beschloß er, sie ganz allein in den alten Turm einsperren zu lassen und dort so abgeschlossen zu halten, daß kein Lebender zu ihr gelangen könne mit Ausnahme von ihm selbst und einer alten Dame, seiner Schwester; sie beide wollten täglich hingehen, sie zu besuchen. Wie die Ärzte es geraten hatten, so geschah es. Er ließ die Jungfrau in das oberste Gemach des Turmes tragen und sie dort in ein Bett niederlegen, das auf das herrlichste hergerichtet war. Hierauf ließ er alle Eingänge des Turmes vermauern, außer einem Fenster, das gegen Sonnenaufgang ging und ganz oben im Turme gebrochen war, da, wo die Jungfrau lag. Täglich einmal ging er mit seiner Schwester dorthin, um sie zu sehen und um zu erfahren, ob die Götter noch kein Mitleid mit ihr hätten. Aber jeden Tag fanden sie die Jungfrau im gleichen Zustand, weder schlimmer noch besser. Troylus seinerseits blieb im Schlosse, ohne den vollen Gebrauch seiner Sinne wiedererlangt zu haben, dennoch schätzte Zeland ihn hoch.
Eines Tages trat Troylus mit Zeland in den Tempel der drei Göttinnen, um zu beten. Troylus schlief im Tempel ein, und sein Gefährte verließ ihn. Um Mitternacht erschien ihm eine weibliche Gestalt: es war die Göttin der Liebe selbst, die ihm die Augen berührte und ihm dadurch Gedächtnis und Verstand zurückgab. In einem Kampfe mit seinem Nebenbuhler, der sich seine im Schlosse der Zauberin zurückgelassene Rüstung angemaßt hatte, gelangte er wieder in den Besitz seiner Waffen, und nun erinnerte er sich auch wieder der Dame seines Herzens, der schönen Zelandine, und seine Liebe zu ihr erwachte von neuem, so daß er beschloß, sie aufzusuchen.
Als er im Tempel der Göttinnen betete, ermahnte ihn die Stimme der Venus, das Wagnis zu bestehen und die Frucht zu pflücken. Ohne den Sinn dieser Worte zu fassen, ritt er weiter und gelangte zum Turme, in welchem, wie er erfuhr, Zelandine schlief. Lange versuchte er, den türenlosen Turm zu erklimmen, bis er klagend von diesem Wagnis abstehen mußte. Da trat ein Jüngling zu ihm und sprach: »Ich weiß wohl, daß du Troylus bist und daß du, von der Göttin Venus aufgefordert, diesen Turm betreten willst. Wenn du da hineingelangen willst, so mußt du dich an mich wenden.« Da Troylus sah, daß der Jüngling trockenen Fußes über das Wasser eines Baches schritt, faßte er Vertrauen zu seiner Kunst. Der Jüngling jedoch, welcher kein anderer war, als Zephyr, der Diener der Liebesgöttin, hieß den Ritter auf seine Schultern steigen und trug ihn so zum Fenster auf der Höhe des Turmes. Er ermahnte ihn ausdrücklich, die Nacht bei der Jungfrau zu verbringen, am nächsten Morgen wolle er ihn wieder abholen. Troylus betrat das Gemach der schönen Schläferin und entzündete eine Kerze, die auf dem Rande ihres Lagers stand. Von der Schönheit der Jungfrau überwältigt, bedeckte er sie mit Küssen, aber sie rührte sich nicht und erwachte nicht. Von Venus nochmals ermahnt, die Frucht zu pflücken, wurde er kühner und kühner und teilte schließlich mit ihr das Lager. Am anderen Morgen erschien der himmlische Bote wieder am Turmfenster, und Troylus mußte sich losreißen, denn schon erklangen die Schritte der Muhme auf der Stiege; schnell vertauschte er seinen Ring mit dem Zelandinens, dann zog er wieder in die weite Welt hinaus, um neue Abenteuer zu suchen. Die Muhme hatte noch einen letzten Schimmer seiner Rüstung gesehen und glaubte nichts anderes, als daß der Schlachtengott Mars ihrer Nichte beigewohnt habe. Sie richtete das Bett auf und verließ den Turm, ohne des Vorfalls irgendwie Erwähnung zu tun.
Zelandine lag auf ihrem Bette wie zuvor, neun Monate lang, ohne zu erwachen und ohne einen andern Besuch zu erhalten, als den ihrer Muhme, die sie jeden Tag aufsuchte. Sie hatte in all dieser Zeit keine andere Nahrung als ein wenig Ziegenmilch, die ihr die gute Alte durch den Mund einflößte. Nach Ablauf von neun Monaten aber geschah es eines Abends, daß die schöne Zelandine mit einem wunderhübschen Knaben niederkam. Kaum war dies geschehen, so kam die Muhme, um sie, wie gewöhnlich, zu besuchen. Als sie zum Bette trat, fand sie dort einen schönen Knaben an der Seite seiner Mutter, welche schlief wie zuvor. Wie die gute Frau das Kind sah und bemerkte, daß Zelandine immer noch schlief, erstaunte sie sehr, bald aber sollte ihre Verwunderung noch größer werden. Sie sah nämlich, wie das neugeborene Kind sich bemühte, zur Brust seiner Mutter zu gelangen. Dabei geschah es nun, daß es ihren kleinen Finger zu fassen bekam, an welchem es heftig zu saugen begann. Es sog so stark, daß es husten mußte. Die Muhme, welche diesem Beginnen zuschaute, wurde von Mitleid ergriffen, nahm das Kind in den Arm und sagte: »Ach, du kleines Geschöpf, kein Wunder, daß du husten mußt, denn da, wo du saugst, wirst du wenig Nahrung finden!«
Bei diesen Worten erwachte die junge Mutter und begann, ihre Arme auszustrecken, wie einer, der nicht weiß, was mit ihm vorgegangen ist. Die Muhme rief ihr zu: »Zelandine, liebe Nichte, wie geht es dir? So sprich doch mit mir!« Als Zelandine die Stimme ihrer Muhme vernahm, antwortete sie: »Liebe Muhme, gestern habe ich mich gesund niedergelegt und heute fühle ich mich krank, ich weiß nicht, wie mir das angeflogen ist.« – »Nein, nicht gestern,« sagte die Dame, »sondern viel länger, denn seitdem du kein Zeichen des Erwachtseins von dir gegeben hast, hast du neun Monate lang unter deinem Herzen diesen schönen Knaben getragen, von dem du heute entbunden bist. Aber ich weiß nicht, wer sein Vater ist.« Als die junge Frau diese Worte hörte und den schönen Knaben sah, geriet sie in Erstaunen; dann fing sie an zu weinen, da sie nicht ahnte, daß jemals ein Mann ihren Leib berührt hatte. Die Dame hatte Mitleid mit ihr und sagte: »Liebe Nichte, weine deshalb nicht, und damit du weißt, was dir zugestoßen ist, so will ich es dir sagen.« Dann erzählte sie ihr von Anfang bis zu Ende, wie sie eingeschlafen sei, und wie der König sie in diesen Turm habe tragen lassen, damit die Götter sie heimsuchen könnten. »Es hat sich aber ereignet, liebe Nichte,« fuhr die Dame fort, »daß der Schlachtengott Mars, von dem wir abstammen, dich ganz im geheimen, so wie es keiner der andern Götter getan, besucht hat. Aber, wie mir scheint, ist dies um deiner Gesundheit willen geschehen, und damit unseres Geschlechtes Adel erhalten bleibe. Er hat dir beigewohnt und diesen schönen Knaben erzeugt, der dir die Gesundheit wiedergegeben hat, deshalb sollst du ihm danken und ihn preisen und nicht in Sorge sein, denn ich werde dieses Abenteuer so geheim halten, daß es niemand erfährt.« Als die schöne Zelandine die näheren Umstände ihres Abenteuers hörte, fing sie dermaßen zu weinen an, daß sie nicht reden konnte. Da sagte die Muhme zu ihr: »Nichte, so bekümmere dich doch nicht, sondern sei guter Dinge, denn ich will dein Kind an einen so verborgenen Ort bringen, daß niemand etwas davon erfährt, bis es den Göttern gefällt, daß alles offenbar werde. Da ich gerade die unmittelbare Ursache deines Abenteuers erzählt habe, ist mir eine Geschichte ins Gedächtnis gekommen, die ich lange vergessen hatte, wie denn beim Reden oft die eine Erinnerung die andere nach sich zieht. Damit du nun Grund habest, dich zu trösten, werde ich sie dir erzählen, denn jetzt hast du den Zorn der Schicksalsgöttin, welche die dritte bei deiner Geburt war, überstanden, und so glücklich überstanden, daß du darüber über die Maßen froh sein solltest. Wisse also, liebe Nichte, daß deine Mutter an dem Tage, da sie dich gebar, mir auftrug, ich solle das Gemach der Göttinnen herrichten, welche den Frauen bei der Geburt beizustehen pflegen. Ich richtete also das Gemach so prächtig, wie ich konnte, ich deckte die Tafel, trug Essen und Trinken auf, wie es sich gebührt, und stellte vor den Sitz einer jeden Göttin eine Schüssel mit Brot und Wein. Dann ging ich hinaus, hielt mich aber in der Nähe der Türe, um nach Möglichkeit zu lauschen, was die Göttinnen miteinander redeten. Es kamen die drei Göttinnen Lucida, Themis und die schöne Venus, diese trat zuletzt ein. Sie setzten sich zu Tisch, um zu essen, aber es traf sich zum Unglück, daß Themis, die Göttin des Schicksals, kein Messer hatte, deshalb war sie nicht so guter Dinge wie die andern. Als sie gegessen hatten, sagte Lucida: ‚Wir sind hier gut aufgenommen, darum habe ich es gefügt, daß das Kind mit ganzen und gesunden Gliedern geboren wurde, und es soll wachsen und gedeihen, wenn es gut behütet wird. Nun ist die Reihe an Euch, Frau Themis, die Ihr die Göttin des Schicksals seid.‘ – ‚Wahrlich,‘ sagte Themis, ’so ist es; aber weil ich kein Messer gehabt habe, so gebe ich dem Kinde dieses Schicksal, daß es mit dem ersten Leinenfaden, den es von einem Spinnrocken windet, sich eine Flachsfaser in den Finger zieht. Und es soll auf der Stelle einschlafen und nicht erwachen, bis diese herausgesogen ist.‘ Als die Göttin Venus hörte, was ihre Gefährtin dem kleinen Geschöpfe bestimmt hatte, sagte sie: ‚Ihr seid aufgebracht, das tut mir leid, aber durch meine Kunst werde ich es fügen, daß die Faser herausgesogen und alles wieder gut wird.‘ Darauf trennten sie sich so plötzlich, daß ich nicht weiß, was aus ihnen geworden ist. Das ist es, liebe Nichte, was mir eben in die Erinnerung kam, denn nie, seit die Geschichte sich zutrug, habe ich wieder daran gedacht.«
Als der König später ein Turnier ausschrieb, erschien Troylus, besiegte alle anderen Ritter, gab sich der schönen Zelandine zu erkennen und entfloh mit ihr.

[Ernst Tegethoff: Französische Volksmärchen]

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