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Märchenbasar

Das Muschelmädchen

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In einem vornehmen Hause lebten einmal drei Schwestern. Die älteste hieß Goldmädchen, die mittlere Silbermädchen und die jüngste Muschelmädchen. Alle drei waren sie gleichermaßen klug und tüchtig und lieblich anzuschauen wie wundervolle Bergchrysanthemen. Ihre Schönheit zog viele Freier an, die sie ständig umschwirrten wie Bienen die duftenden Honigblüten. Goldmädchen und Silbermädchen waren jedoch hochmütig. Keiner der jungen Burschen genügte ihren Ansprüchen, und an jedem hatten sie etwas auszusetzen. Der eine war ihnen zu arm, der andere war ihnen zu groß, der nächste zu klein. Keiner wies alle die Eigenschaften auf, die sie sich von ihrem Künftigen erträumten. Viel bescheidener war da die kleine Schwester, das Muschelmädchen. Sie war jung und reinen Herzens und wünschte sich nur eine fleißigen Jüngling mit dem sie gut zusammenleben konnte. Eines Morgens trat Goldmädchen vor das Hoftor. Auf dem Rücken trug sie eine goldene Bütte, um vom nahen Fluß Wasser zu holen. Wie erschrak Goldmädchen, als sie vor ihren Füßen einen Bettler in Lumpen quer über den Weg liegen sah. Goldmädchen fuhr mit der Hand in der Luft herum und rief ihm zu: „Platz da! Platz da! Versperre Goldmädchen nicht den Weg zum Wasserholen.“ Der Bettler blinzelte sie an und brummte, ohne sich auch nur ein wenig zu rühren: „Wozu so hastig, Mädchen, wenn du nur Wasser holst?“ Hochmütig entgegnete Goldmädchen: „ Der Vater braucht Wasser, um Wein anzusetzen. Die Mutter muß die Butter spülen und ich will mein Haar waschen. Da habe ich keine Zeit, hier lange herumzustehen!“………..“Ich kann aber nicht aufstehen“, sagte der Bettler, seine Augen öffnend, „wenn du Wasser holen willst, mußt du schon über mich hinwegsteigen.“…….
„Wenn es weiter nichts ist!“ antwortete sie prahlend, „ich bin schon über den großen Platz gesprungen, auf dem mein Vater Beratungen abhält!“ Und dabei war sie mit einem Hopser schon über ihn hinweg. Am nächsten Tag ging Silbermädchen zum Wasserholen. Sie nahm ihre silberne Bütte auf den Rücken und trat zum Tor hinaus. Aber als sie einen alten Bettler quer über dem Weg liegen sah, wich sie ein paar Schritte zurück. „Gib den Weg frei!“ rief sie ihn an. „Silbermädchen will Wasser holen!“ Der Bettler schlug die Augen auf und wollte wissen, warum Silbermädchen so ungeduldig sei. „Der Vater will Wein ansetzen“, fuhr sie ihn an, „Mutter will die Butter spülen, und ich will mein Haar waschen. Daher kann ich mich hier nicht solange aufhalten!“ Der Bettler strich nur über seine zerlumpte Filzkutte und meinte: „Wenn du Wasser holen willst, dann steig nur getrost über mich hinweg, ich kann nicht aufstehen.“ Das Silbermädchen prahlte genau wie ihre Schwester und hopste über den Bettler hinweg.

Am dritten Tage war die Reihe an Muschelmädchen. Fröhlich nahm Muschelmädchen die Muschelbütte über die Schulter und ging zum Tor hinaus. Verwundert blieb sie stehen, denn quer über dem Weg lag ein Bettler. Sie beugte sich voller Mitleid zu dem alten Mann und bat ihn behutsam: „Ich will Wasser holen, lasst Ihr mich bitte vorbei?“ Ohne sich zu rühren und ohne die Augen zu öffnen, sagte der alte Bettler: „Ich versperre doch niemand den Weg. Springe nur über mich hinweg!“ – „Noch nie bin ich über den Hof gesprungen, wenn der Vater mit den Männern zur Beratung dort saß. So wage ich auch nicht, über Euch hinwegzuspringen.“ Vorsichtig, um ihn nicht zu stoßen oder zu treten, ging Muschelmädchen am Bettler vorbei. Dann rannte sie hinab zum Fluß, den zartgrüne Weiden säumten. Das klare Wasser lud ein, den Morgentrunk zu nehmen. Das Mädchen setzte daher seine Muschelbütte ab, beugte sich über das Ufer und trank aus seinen Händen ein paar Schucke des erfrischenden Wassers. Dann begann es, mit einer Muschelkelle die Bütte vollzuschöpfen. Doch als es sich bückte und die Bütte aufnehmen wollte, langten seine Kräfte nicht zu, sich mit der schweren Last zu erheben. Weit und breit sah es niemanden, der ihm hätte helfen können. Aber mit einem Mal stand der zerlumpte Bettler vor dem Mädchen: „Muschelmädchen, ich will dir helfen, die Wasserbütte hochzuheben.“ Erfreut über den hilfsbereiten Bettler, hockte sich das Mädchen nieder und rückte die Tragriemen auf den Schultern zurecht. Zwar packte der Alte mit kräftigen Händen zu, aber es schien nicht weit her zu sein mit seiner Geschicklichkeit, denn plötzlich ließ er los; ohne daß das Mädchen die Arme schon richtig in den Tragriemen geschoben hatte. Mit einem lauten „Platsch“, fiel die Muschelbütte zu Boden und zerschlug auf einem Stein. Aus Angst vor dem Schelten ihrer Mutter und betrübt wegen der zersprungenen Bütte fing das Mädchen an zu weinen. Doch der Bettler schien das Unglück überhaupt nicht ernst zu nehmen. „Um diese Bütte, solltest du dich wirklich nicht grämen. Ich werde dir eine andere besorgen!“ Das Mädchen weinte nur um so heftiger, da es genau wußte, daß nirgends auf der Welt ein solche Muschelbütte ein zweites Mal existierte. Und dann fehlte es doch gewiß dem Bettler an Geld, eine schöne Wasserbütte anfertigen zu lassen. Während sich das Mädchen noch immer nicht beruhigen konnte, setzte der Bettler inzwischen die Stücke der zerbrochenen Muschelbütte wieder zusammen, strich mit der Hand über die Risse, und mit einem Mal sah die Bütte noch schöner aus als vordem. „Schau an, Muschelmädchen! Bist du nun zufrieden?“ Fassungslos streckte das Mädchen die Hand nach der Bütte aus, und wie erstaunte es erst, als es sah, daß die Bütte bereits mit Wasser gefüllt war, als aob sie nie ausgelaufen wäre. Der Kummer verflog, da sich die Gewissheit einstellte, einen Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten vor sich zu haben. Es sagte zum Bettler: „Ihr seid ein guter Mensch. Weil Ihr mich gerettet habt, möchte ich Euch auch Gutes erweisen!“ ……
„Ich habe keine Bleibe für die Nacht“, antwortete der Bettler, – „es wäre mir sehr viel geholfen, wenn ich in der Küche neben dem Herdfeuer liegen könnte!“ – „Da wird vielleicht die Mutter dagegen sein“, antwortete das Mädchen zögernd. „Sie mag nämlich Bettler nicht leiden. Aber seit nicht ungehalten deswegen. Ich werde versuchen sie umzustimmen.“ – „Du brauchst nicht besonders zu bitten meinetwegen. Wenn die Mutter dagegen sein sollte, dann gib ihr einfach, was unten in der Bütte liegt!“ Wenn dem Mädchen auch nichts aufgefallen war, als es in die Bütte geschaut hatte, so vertraute es dem Bettler doch. Es nahm die Wasserbütte und trug sie nach Hause.

Dort schüttete es das Wasser in einen großen Kupferbottich. Dabei berichtete sie der Mutter über das Anliegen des Bettlers. Die Mutter aber brauste auf: „wie kannst du einen zerlumpten Bettler ins Haus bringen, der es sich am Herdfeuer gemütlich machen will?“
Bei diesen Worten sprang ein goldblitzendes Ding aus der Wasserbütte und rollte über den Boden. Muschelmädchen erklärte der Mutter: „Das ist ein Geschenk für dich, sagte der alte Bettler!“ Als die Mutter sah, daß es es ein kostbarer Goldring war, stimmte sie gleich freudig zu: „Ei, freilich, hole ihn nur herein! Es wird sich schon ein Platz für ihn finden.“
Am Abend saß die Familie zusammen, um noch ein wenig zu plaudern. Der Vater schlürfte seinen Buttertee, die Mutter spann Schafwolle, und man sprach über die Herzensangelegenheiten der Töchter. „Ich möchte einen indischen Fürsten heiraten!“ sagte Goldmädchen. „Und ich wäre schon mit einem tibetischen Prinzen zufrieden!“ meinte Silbermädchen. Als der Vater das Muschelmädchen fragte, schwieg es verlegen. In diesem Moment kam der Bettler durch die Tür und sagte den Eltern: „Für Muschelmädchen möchte ich gerne den Hochzeitsbitter machen. Solch ein schönes Mädchen sollte niemand anders als Gongzira heiraten.“ Noch niemand hatte je diesen Namen gehört. Niemand wußte, wer er war und wo er wohnte. Angesichts des zerlumpten Bettlers dachten die Eltern nichts anders, als daß Gongzira einer seinergleichen sei, arm, abgerissen und verachtet. Goldmädchen und Silbermädchen steckten sogar die Köpfe zusammen und gaben Muschelmädchen sehr deutlich ihr Missfallen zu verstehen. Da wandte sich der Bettler an Muschelmädchen: „Gongzira ist ein guter Mensch. Würdest du ihn heiraten?“ Um das Mädchen zu überzeugen, fuhr der Bettler fort: „Du würdest mit Gongzira ein glückliches Leben führen. Ich meine es ehrlich mit dir und sage dir die volle Wahrheit!“ Da erinnerte sich Muschelmädchen der morgendlichen Begegnung. Sie hielt es nun für ganz ausgeschlossen, daß sie der Bettler belügen sollte. „Ich vertraue Euch und möchte Gongzira heiraten. Aber wo wohnt er? Was ist er für ein Mensch?“ – „Du bist wirklich ein kluges Mädchen. Du brauchst mir nur zu folgen, ich werde dir dann den Weg zu Gongzira zeigen.“ Sogleich wandte sich der Bettler zur Tür und ging davon. Da Muschelmädchen ihm sofort nachlief, riefen die Eltern aufgebracht hinter der Tochter her: „ Überlege es dir gut und bereue deinen Schritt nicht. Wenn du einmal fortgegangen bist, wird dich das Elternhaus nie mehr aufnehmen!“ Auch die beiden Schwestern Goldmädchen und Silbermädchen ließen es nicht an Schmähworten fehlen. Als Muschelmädchen ins Freie trat, war in der Dunkelheit keine Spur mehr vom Bettler zu sehen. Nur der Mond tauchte sein Land in sein mildes Licht und ließ den Wanderstab des Bettlers in geheimnisvoller Weise aufleuchten, so daß Muschelmädchen sah, wohin der Weg führte. Das Mädchen wanderte rastlos durch Täler über Berge, ohne zu zählen, wie oft Sonne und Mond über den Himmel gezogen waren, bis es eines Tages an eine Bergweide gelangte, wo eine riesige Schafherde graste.

Muschelmädchen fragte den Hirten: „Ist hier ein alter Bettler vorübergekommen?“ – „Nein“, sprach der Hirte, „Nur Gongzira war hier, und das sind seine Schafherden.“
Muschelmädchen dankte dem Hirten und ging weiter. Nach einiger Zeit traf sie einen Rinderhirten, den sie fragte: „Hirte, habt ihr hier einen alten Bettler gesehen?“ – „Ein Bettler war nicht hier“, antwortete der Hirte, „aber Gongzira hat gerade seine Herde besucht. So weit Euer Auge blickt, alles gehört ihm!“ Das Mädchen verabschiedete sich höflich vom Rinderhirten und ging weiter, bis es nach langer Zeit einem Pferdehirten begegnete. Auf seine Fragen antwortete er: „Gongzira war eben hier. Das sind seine Pferdeherden. Wenn Ihr ihn sucht, dann geht nur immer geradeaus!“ Verwundert ließ sich das Mädchen die Antworten der drei Hirten durch den Kopf gehen. Keiner hatte den Bettler gesehen, und alle erzählten sie nur von Gongzira? Aber wie sollte ein Bettler zu solch gewaltigen Reichtümern gekommen sein? Nach langem Sinnen blickte Muschelmädchen endlich einmal wieder auf. Da stand das Mädchen unversehens vor einem prächtigen Palast, dessen goldenes Dach es ganz und gar blendete.

Es wandte sich an einen weißhaarigen Alten, der ihm gerade entgegenkam: „Ehrwürdiger Alter, habt Ihr hier einen alten Bettler gesehen?“ – „Nein, mein Kind, ich sah nur Gongzira, der gerade zurückgekehrt ist.“
„Und bitte sagt mir, welche Heiligkeit in diesem Kloster verehrt wird?“ Gütig fuhr der Alte fort: Das ist kein Kloster, mein Kind, das ist Gongziras Palast. Gehe nur diesen Weg weiter, er wartet bereits auf dich.“ Muschelmädchen bedankte sich bei dem freundlichen Alten und ging zum Palast. Da wuchsen mit einem Mal aus dem Boden den es berührte, ganze Büsche farbenprächtiger Blumen, und ein wundervoller Duft breitete sich in verschwenderischer Fülle ringsum aus. Die Blumenalle, von einer Geisterhand gleichsam als Ehrenspalier zur festlichen Begrüßung geschaffen, zog sich hin bis zum Felsenfundament des Palastes. Als Muschelmädchen die Stufen hinanschritt, öffnete sich das Tor, und Gongzira kam ihr mit einer Schar von Dienern entgegen, die auf vorgestreckten Händen glanzvolle Gewänder und Schmuck aus Perlen, Korallen und Jaspis darbrachten. Gongzira, ein wunderschöner, kräftiger Jüngling, trug dem Mädchen sodann seinen Wunsch vor, es heiraten zu wollen. Freudig stimmte es zu, denn Gongzira war wirklich ein liebenswerter Mensch, der als Bettler verkleidet nur das gütige Herz des Mädchens hatte erproben wollen. Während Gongzira auf seinem goldenen Lager saß, ließ sich Muschelmädchen auf einer silbernen Liegestatt nieder, streifte sich das Regenbogengewand über und legte den silbernen Schmuck an. Sie wählten einen glückverheißenden Tag, um im Prächtigen Palast eine glanzvolle Hochzeit zu feiern.

Quelle: Indisches Märchen

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