Suche

Märchenbasar

Das Schicksal des Hassan-Bey

0
(0)
In einer der Provinzen des zerklüfteten Berglandes Armenien lebte einst ein hoher Herr, ein Bey, namens Hassan. Er bewohnte ein wunderschönes Schloß, umgeben von bunten Wiesen und bewaldeten Hügeln. Mitten durch diese köstliche Landschaft floß ein breiter, silberhell funkelnder, geheimnisvoll murmelnder Bach. Hunderte von flinken Pferden und störrischen Mauleseln, Tausende von Schafen und Kühen tummelten sich auf den unendlichen Weideplätzen. Lustiges Gewieher, dumpfes Brüllen und Blöken dröhnte durch die Landschaft und hallte in vielfachem Echo von dem mehrere tausend Meter hohen Taurus-Gebirge. So reich war der junge Hassan-Bey. Ja, er wußte oft gar nicht, wo überall in der Welt seine Kamelkarawanen umherzogen und auf welchen Märkten seine Händler die Waren seiner Ländereien feilboten. Nicht nur türkische Händler sondern auch vom Kaukasus, aus Syrien, sogar aus der Kalifenstadt Bagdad kamen die Kaufleute zu ihm. In der ganzen morgenländischen Welt wurde sein Name unter den Großen genannt. Hassan-Bey durfte sich fürwahr glücklich preisen. Abstammend von Ahnen, die in der Geschichte des Landes als Helden eingegangen waren, konnte er eine kluge und anmutige Frau aus fürstlichem Geblüt sein eigen nennen. Zwei Söhne, Zwillinge, hatte er mit ihr, und die Knaben waren gar lieblich von Angesicht. So lebte Hassan frohen Herzens mit den Seinen, diente Allah mit ganzer Seele, unterstützte die Armen und wußte stets Hilfe den Ratsuchenden. Da erschien ihm eines Nachts im Traum ein Derwisch im Büßergewande, und dieser heilige Mann legte ihm eine sehr schwere Frage vor. Denn so weissagte der Derwisch: „Es liegt in deiner Bestimmung, Hassan, daß ein großes Unglück über dich kommen wird. Doch eine Wahl ist dir gegeben: Wann soll es geschehen, in deinem Alter oder noch in jungen Jahren?“ Der Bey suchte wohl nach einer Antwort, doch sie fiel ihn hart an. Er dachte an sein trautes Heim, an seine geliebte Gemahlin, Frau Uludsch, an die Zwillinge Torgud und Korkud…Sollte das alles verloren sein? Und schon wollte er sich gegen die Jugend und damit gegen das Heute entscheiden und alles auf das späte Alter setzen. Dann überlegte er jedoch: „Warum das Unangenehme für den Lebensabend aufschieben? War er jetzt noch jung und stark und vermochte gegen die Unbillen und Härte des Lebens mit der Kraft seiner Arme auszukämpfen? Würde er nicht jetzt ein bitteres Los leichter ertragen können?“ Und er richtete sich demütig auf seinem Lager hoch und sprach: „So du, oh Derwisch, durch die Gnade Allahs mir die Wahl einräumst, wisse, daß ich bereit bin, jene Schicksalsschläge auf den Rücken meiner Jugend zu nehmen.“ – Hassan erwachte. Alles brauchte vielleicht nur ein böses Traumbild gewesen zu sein, und so schlief er bald wieder den Schlaf des Gerechten. Als er anderntags durch das Schloßtor ritt, sah er eine Horde zerlumpter Gestalten näherkommen. Elend und Not schrien aus ihren fiebrigen Augen, und sie vermochten sich vor Hunger kaum noch auf den Beinen halten. Von tiefstem Mitleid erfüllt, griff Hassan nach seinem Lederbeutel und warf eine Handvoll Silberlinge unter die Bedauernswerten. Er erwartete, daß sie sich gierig auf die Münzen werfen würden; keiner von ihnen rührte sich jedoch. Da rief Hassan gekränkt: „Den Ärmsten der Armen gleich wandelt ihr einher, und so verpflichtet mich der heilige Koran zu milder Hand. Doch ihr lehnt meine Gaben ab; sagt mir, warum?“ Da scholl es ihm einstimmig entgegen: „Wir sind keine Bettler, Herr! Wir sind deine Schuldner.“ Und einer der Zerlumpten reckte seine abgemagerten Hände zu Hassan empor und rief: “ Oh, Hassan-Bey, schau uns genauer an. Erkennst du uns nicht wieder. Wir waren die Verwalter deiner kaukasischen Karawane.“ Erschrocken stieg Hassan von seinem Pferde, um zu erfahren, was ihnen Arges widerfahren sei. Da erzählten sie ihm, wie kaukasische Wegelagerer die Karawane drei Tagesreisen vor der Stadt Tiflis ausgeraubt hatten. Alle Armenier, deren die kaukasischen Gebirgler auf ihren flinken Pferden habhaft werden konnten, seien niedergeschlagen worden. Und der Sprecher rief schluchzend aus: „Nur die wenigsten vermochten das nackte Leben zu retten. Doch deine kostbaren Güter, Hassan-Bey, sind restlos verloren. Hier stehen wir nun vor dir, Herr, harrend der Strafe, die du uns auferlegen wirst.“ Hassan aber erwies ihnen Gnade und Barmherzigkeit. Er führte sie in sein Gasthaus, befahl, daß man ihnen die müden Füßen wusch, ihre Wunden salbte, sie neu kleidete, reichlich bewirtete und sprach tröstend: „Sorgt euch nicht, ihr Männer! Ein Unglück, das uns Allah zur Prüfung der Demut schickt, muß mit Geduld ertragen werden.“ Von dieser Stunde an gab es wohl keinen Tag, da nicht irgendeiner seiner Beauftragten im Schlosse erschien und über neue Heimsuchungen berichtete. Schließlich gab es keinen Zweifel mehr, daß alle seine Besitztümer, Warenlager und Karawanen in Ost und West, in Nord und Süd vernichtet oder ausgeraubt worden waren. Wahrlich, jeder Monat brachte neues Unglück über sein Haus. Doch es sollte noch ärger kommen. Plötzlich drangen wilde Kurdenstämme in das Land ein. Plündernd, sengend und mordend zogen sie von Dorf zu Dorf und raubten alles, was in ihre Hände fiel. Wohl versuchte Hassan-Bey mit seinen Getreuen Widerstand zu leisten; doch vergeblich. Die Kurden stürmten das Schloß. Hassan konnte sich mit Frau und Kindern retten und begab sich außer Lande. Mühselig und hart war ihr Wandern, und sie litten tausend Entbehrungen. Schon waren sie müde des Klopfens an den Türen der Satten, da gaben ihnen mitleidige Seelen in einem Gebirgsdorfe am Fuße des hohen Ararat eine armselige Hütte. Und Hassan, jetzt kein Bey mehr, wurde zum Viehhirten der kleinen Gemeinde bestellt.

Schwerbewaffnete persische Sklavenhändler drangen eines Tages ins Dorf ein und raubten die Frauen und Mädchen, während die Männer auf den Feldern arbeiteten. Als nun Hassan gegen Sonnenuntergang mit seiner Herde von der Weide heimkam, riefen ihm die beiden Kinder weinend entgegen: „Vater, teurer Vater! Fremde Reiter haben im Dorf gewütet und auch unsere liebe Mutter entführt!“ Bei dieser Nachricht brach der Schwergeprüfte schier zusammen, so unendlich war sein Schmerz. Bitterste Wehmut erfüllte seine Seele. Schließlich raffte er sich auf, ermahnte auch Torgud und Korkud, nicht die Hoffnung auf ein Wiedersehen zu verlieren und sprach: „Ein Unglück, das uns Allah zur Prüfung schickt, muß mit Geduld ertragen werden!“ Im Morgengrauen nahm er seine Kinder an die Hand. Der Weg der Sklavenhändler führte in das benachbarte Persien. Sie folgten der Pferde Hufspuren, die der Wind noch nicht verweht hatte. Der brennende Wunsch, Frau Uludsch wiederzufinden, ließ sie alle Mühseligkeiten des härtesten Marsch geduldig ertragen. So kamen sie an einen breiten Fluß und fanden nach langem Suchen eine Furt. Wild und reißend waren die Wasser, und Hassan kam nach einigem Überlegen zu folgendem Entschluß: „Zuerst werde ich den einen Knaben hinübertragen, ihn am anderen Ufer absetzen, dann umkehren, um den zweiten Buben zu holen.“ Mit Torgud watete er zuerst in den Fluß hinein. Bald reichte das Wasser bis an die Hüften. Schnell stieg es ihm bis zur Brust und die starke Strömung machte ihm schwer zu schaffen. Da hörte er hinter sich jämmerliches Weinen. Er wandte sich um und sah, wie Korkud von einer Löwin in das Dickicht des Waldes geschleppt wurde. Hassan wollte zum Ufer zurück, um dem Knaben zu Hilfe zu eilen, da geriet er ins Wanken, fiel, und Torgud, den er im Arm hielt, wurde von den reißenden Wassern ergriffen und fortgerissen. Zwar versuchte der Bey ihm nachzuschwimmen, doch der wilde Strom war schneller als er. Allein und verlassener denn je überquerte der vom Schicksal Verfolgte den Fluß. Lange, sehr lange haderte er mit seinem Los. Doch erneut spendete ihm Gott Kraft. Hassan erhob seine Arme und rief: „Ein Unglück, das uns Allah zur Prüfung schickt, muß mit Geduld ertragen werden!“ Und weiter begab er sich auf die Suche nach seiner angebeteten Frau. Endlich erreichte er Persien. In welcher Stadt und in welchem Dorfe er auch immer versuchte, etwas über die Sklavenhändler zu erfahren, überall stieß er auf nichtssagende Worte und gleichgültiges Achselzucken. So kam er auch in die Kalifenstadt Bagdad. Da Hassan ein gebildeter, schriftkundiger Mann war, gelang es ihm, bei einem Rechtsgelehrten, einem berühmten Ulema, eine Stelle als Schreiber zu erhalten. Eines Tages sagte der Ulema zu ihm: „Höre, Hassan, du wirst mich heute vor dem Gerichtshof vertreten.“ Hochmütig setzte er hinzu: „Es gibt diesmal weder viel Geld, noch hohe Ehren für mich einzuheimsen, denn die heute vor dem Kadi zu erscheinen haben, sind noch ärmere Teufel als du, geflüchteter Armenier.“ Als der unbekannte Hassan den Gerichtssaal betrat, wies ihm der Diener erst nach einigem Hin und Her einen Platz am Tische der Rechtsgelehrten an. Wohl schauten die reichverbrämten Ulema recht geringschätzig auf den armselig gekleideten Hassan; als sie jedoch erfuhren, welchem Herr er diente, und auch sahen, wie bescheiden er in seiner Ecke hockte, ließen sie ihn gewähren. Und Hassan hörte nun, wie diese Ulema einen Armen eines geringfügigen Vergehens zu fünfundzwanzig Stockschlägen auf die blanken Fußsohlen verurteilten. Er sah, wie sie einem Reichen, der den Richtern mit einem Säckel voller Goldstücke verstohlen winkte, Recht gegen eine hilflose Witwe gaben. Und Hassan sah und hörte der Ungerechtigkeiten gar viele.

Schließlich wurde auch ein altes Weiblein vom Kadi an den Richterstuhl gerufen. Die Alte klagte gegen den Sohn und Erben ihres verstorbenen Gebieters und jammerte: „Zu Lebzeiten hatte mir der Vater jenes reichen Jünglings, dessen Amme ich war, für meine alten Tage ein Kämmerlein in seinem Haus versprochen. Jetzt, nachdem der Herr gestorben ist, will mich der Sohn aus dem Hause jagen.“ „Sie wäre nur ein unnützer Esser mehr in meinem Palast“, brummte der Junge hartherzig. „Der Herr hatte mir’s in die Hand versprochen“, weinte das Mütterchen. „Verstehe, großer Kadi, er tat es, weil ich den da“, und sie wies mit ihrer ausgemergelten Hand auf den Erben, „großgezogen habe. Starb doch die Mutter bei seiner Geburt und…“ „Vielleicht steht ihr das Kämmerlein wirklich zu“, meinte der Kadi nachdenklich. „Sag, Alte, hast du es schwarz auf weiß, was du da behauptest?“ „Oh, Kadi!“ schluchzte das Mütterlein. „Selbst wenn ich es hätt‘ wüßte ich’s nicht, da ich weder lesen noch schreiben kann! „Es gibt kein solches Schriftstück!“ rief der reiche Jüngling höhnisch. „Sie hat keinen Vertrag.“ „Wenn es nicht schriftlich abgemacht ist, gilt auch keine Forderung!“ belehrten die Ulema mit gestrengen Blicken die Alte und blinzelten pfiffig dem Wohlhabenden zu. – So wie die Ulema entschieden, urteilte auch der Kadi. Da weinte das alte Mütterchen gar bitterlich, denn es schmerzte sie, daß Hartherzigkeit über die Gerechtigkeit gesiegt hatte. Gesenkten Hauptes wollte sie den Saal verlassen. Nun aber erhob sich Hassan von seinem Sitzkissen und rief ihr gütig zu: „Mag auch das Recht auf deiner Seite sein und das dir angetane Unrecht zum Himmel schreien, so wisse eins, brave Frau: Ein Unglück, das uns Allah zur Prüfung schickt, muß mit Geduld ertragen werden!“ „Bei Allah und seinem Propheten Mohammed! Wahr sind deine Worte, Fremder“, rief eine Stimme aus dem Kreise der Zuhörer im Gerichtssaal. Ein großer schlanker Mann hatte sich erhoben. Mit einer stolzen Geste warf er die Kapuze seines Burnusses, die sein edles Gesicht verhüllt hatte, zurück und ging auf das Mütterchen zu. Die Ulema aber flüsterten sich untereinander zu: „Der Kalif!…Wieder einmal hatte er sich verkleidet unter das Volk gemischt…Er wird unsere Rechtsprechung verwerfen…Wenn er uns nur nicht davonjagt!“ Die Richter würdigte der Kalif keines Blickes. Hassan jedoch umarmte er vor allem Volke und sprach: „An deiner Stimme höre ich, daß du ein Fremder bist. Deine Worte hingegen sind die eines Gesetzgebers und korankundigen Moslems. Darum bleibe unter jenen Ulema, richte mit ihnen, und deine Stimme soll von Gewicht sein.“ Wohl war Hassan nun von eigener Not befreit. Die Sorge um seine angebetete Uludsch nagte jedoch ungestüm an seinem Herzen. Der Kummer um seine beiden Söhne erfüllte seine Brust mit Schwermut. Und jeden Freitag in der Moschee flehte er Allahs Beistand an, daß er ihm – so es sein Wille sei – die Seinigen wiederfinden lasse.

Die Zwillinge aber waren keineswegs umgekommen. Die menschenfreundliche Löwin hatte Korkud in ihre Höhle geschleppt, dort gehegt und gepflegt wie ihr eigenes Kind. Eines Tages jedoch hatte sich der Knabe auf und davon gemacht und hatte schließlich Aufnahme bei einem braven Landmann gefunden. Und Torgud, den die Strömung des Flusses fortgerissen hatte, war nicht ertrunken. Die Wasser hatten ihn gegen das Rad einer Mühle getrieben, und der Müller hatte den großen kräftigen Jungen gern bei sich aufgenommen. So arbeitete der eine hier, der andere dort. Die Knaben wuchsen zu Jünglingen heran und wurden immer schöner und stattlicher. Doch eines Tages, sogar zur gleichen Stunde – wie es bei Zwillingen so oft geschieht – erinnerten sie sich ihrer Vergangenheit. Sie gedachten ihrer von den Sklavenhändlern verschleppten Mutter und jener unheilvollen Wanderung mit dem Vater. Ihre Gedanken waren nur noch von dem unstillbaren Wunsch eines trauten Wiederfindens beseelt. Da machten sich die beiden Brüder, ein jeder für sich auf den Weg und stießen an einem Kreuzweg aufeinander. „He!“ rief der eine dem andern zu. „Siehst du verwegen aus, wie ein Armenier.“ „Bin auch einer und von ganzem Herzen“, antwortete der andere. „So sind wir gleichen Volkes und damit auch stammverwandt.“ „Wie Brüder!“ riefen beiden aus einem Munde. Und sie beschlossen gemeinsam durch Persien zu wandern und sich von dort aus in die Kalifenstadt Bagdad zu begeben. Warum gerade Bagdad ihr Ziel war, hätte keiner von ihnen zu sagen gewußt. Mit einem Handschlag einigten sie sich und sprachen: „Halten wir also zusammen!“ Die Zwillinge durchwanderten die hohen verschneiten Gebirge, zogen über endlose sonnenverbrannten Steppen, marschierten durch glühenden Wüstensand, durchwateten fieberspeiende Sumpfgebiete und umgingen dampfende Salzseen. Aber ob in brennender Hitze oder in eisiger Kälte, stets hielten sie treue Kameradschaft; heute bei einer Handvoll würziger Oliven, morgen bei süßen Datteln. Und sie erquickten sich an kühlen Wassern unter schattenspendenden Palmen in grünenden Oasen. Sie schliefen in Karawansereien neben Pilgern und Händlern, Kamelen und Mauleseln. Endlich erreichten sie die uralte Kalifenstadt an den geheimnisvollen Ufern des fröhlich plätschernden Tigris. Schmuck und stattlich von Aussehen waren die zwei jungen Burschen. Bei allen Wettspielen und Reiterkämpfen bewiesen die beiden Unzertrennlichen Geschicklichkeit und Mut. Bald sprach man zu Bagdad nur noch von den „zwei Brüdern“. Sie aber wußten nicht, daß sie die gleiche Mutter und den gleichen Vater hatten. Nun stand in der Gunst des Kalifen ein Gesandter, der in ein fernes Land reisen mußte. Dieser hatte Gefallen an den Jünglingen gefunden, nahm sie zum Schutz des Palastes in seine Dienste auf und übergab den beiden bei seiner Abreise die Schlüssel seines Schlosses. Als nun die beiden Jünglinge in einer sternenklaren Sommernacht im blumenreichen Garten an einem Springbrunnen ausruhten, hörten sie einen seltsam traurigen Gesang, der vom hohen Schloßturme gen Himmel klagte. Wohl viele Strophen hatte das geheimnisvolle Klagelied, doch als Kehrreim klangen folgende Worte wieder:

„Gefangen in feindlichen Landen,
ich, die Frau eines fürstlichen Bey.
Zwei Söhne nannt‘ einst ich mein Eigen,
ist ihr Schicksal nur tiefe Sklaverei?
Goldne Freiheit, höre auf mein Flehen,
Mann und Kinder, gib sie mir zurück!
Drum zu Allah fleh‘ ich jede Stunde:
Schenk mir endlich des Wiedersehens Glück!“

Da legte Torgud wehmütig die Hand auf die Schulter des Freundes und klagte: „Dieses Lied erinnert mich an das Schicksal meiner armen Eltern und das meines Bruders Korkud…“ „Korkud“, staunte der andere, „so nannte man mich wohl in der Heimat. Und wenn du Torgud bist, kannst du nur mein leiblicher Bruder sein.“ Sie schauten sich prüfend in die Augen, und das brüderliche Blut wallte so hieß durch ihre Adern, daß es keiner großen Worte des gegenseitigen Erkennens mehr bedurfte. Nun stand ihnen die Aufgabe der Befreiung der im Turm schmachtenden Mutter bevor, und so stürmten sie gemeinsam das Verließ. Lange lagen sich alle drei in den Armen. Dann erzählte Frau Uludsch, wie sie der Gesandte den Räubern auf dem Sklavenmarkt abgekauft hatte: daß sie im Schlosse unwürdige Mägdearbeiten verrichten sollte, aber ihrer Herkunft eingedenk, stolz ihre Weigerung ausgesprochen hatte. Zur Strafe sei sie dann und erklärte: in den Turm verbannt worden. Und Frau Uludsch endete mit den hoffnungsvollen Worten: „So es aber Allah gefallen hat, mich wieder mit meinen Kindern vereint zu sehen, wird uns auch das Schicksal bei der Wiederfindung des Vaters gewogen sein.“ Sie flüchteten aus dem Schlosse des Reichen in eines jener Viertel der Stadt, wo zwar Armut regiert, sie aber ihr gemeinsames Leben in Frohsinn und Zufriedenheit zu führen erhofften. Als der Gesandte bei seiner Rückkehr von dem Raub der Sklavin erfuhr, verklagte er die drei beim Kalifen und forderte, daß jene sogleich hingerichtet werden sollten. Der Kalif antwortete jedoch: „Wenn du auch ein hoher Würdenträger an meinem Diwan bist, kann ich deinem Wunsche nicht entsprechen. In meinem Kalifat wird das Urteil erst verkündet, wenn alle Beteiligten gehört worden sind!“ Und so führten sie, die schwerbewaffnete Scharwache, Frau Uludsch und ihre beiden Söhne vor den Gerichtshof. Dort saßen schon der Kadi und die Ulema mit ihren langen würdigen Bärten und den undurchdringlichen Augen. Man hörte Uludsch und ihre Söhne von dem Schicksal sprechen, das Allah der Familie Hassan auferlegt hatte. Und unter Tränen des Stolzes erzählte Frau Uludsch von der tiefen Gottergebenheit ihres geliebten Mannes. Da erhob sich einer der Ulema und erklärte: „Jener Hassan-Bey, von dem diese da berichtet, bin ich! Somit ist sie mein Weib, und ihre Söhne sind darum auch meine Kinder. Dich aber, Kalif von Bagdad, ihr meine Ulema und du, Gesandter des Beherrschers aller Gläubigen…euch alle flehe ich an, habt Erbarmen um Allahs Willen und gewährt uns das heißersehnte Glück trostreichen Wiederfindens!“ Da waren alle Zuhörer im Gerichtssaal zu Tränen gerührt, und so mancher Seufzer entwand sich der bangenden Brust. Der Kalif rief jedoch mit bewegter Stimme und erhobenen Händen: „In meinem Kailfat soll künftig keinerlei Sklavenmarkt gestattet sein. Und so wie ich diese Worte zum Gesetz erhebe, müssen auch jene frei ausgehen, die den Versklavten den Weg in die Freiheit gebahnt haben!“ Nun klatschte alle Welt freudig in die Hände. Zur gleicher Stunde aber ernannte der Kalif den glücklichen Hassan-Bey zum obersten Kadi von Bagdad. Torgud und Korkud bestimmte der Herrscher aller Gläubigen zu ersten Wesiren in seinem Serail. Von Stunde an erzählten die frommen Derwische, die bettelnd die Lande von Asien bis zum Balkan durchwanderten, den lauschenden Menschen auf den Märkten von den Schicksalen des gottesfürchtigen Dulders Hassan-Bey und mahnten: „Darum seid auch ihr bereit, die Mühen des Lebens stets in der Jugend auf eure Schultern zu nehmen, damit Allah, der euer Schicksal im voraus bestimmt, euch einen trostreichen Lebensabend gewähren kann!“ Und von den Minaretts riefen die Vorbeter den Gläubigen zu: Allah ist groß und Mohammed sein Prophet! Darum hört ihr Gläubigen auf die Wahrheit kündender Derwische.“

Ein Märchen aus Armenien

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content