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Märchenbasar

Das unheimliche Spinnrad

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Vor mehr als hundert Jahren lebten in einem Bergdorf im Wallis zwei Waisenkinder. Der neunjährige Bub hiess Hubert und das sechsjährige Mädchen Käthi. Ihr Vater war beim Holzen von einer Tanne erschlagen worden, und die Mutter vor Kummer bald darauf gestorben. Nun wurden die Kinder zu einer Frau in Pflege gegeben, die ganz allein auf einem kleinen Hof hoch über dem Dorf wohnte.
«Weltende» nannten die Leute den Bauernhof. Im Winter musste man mühsam viele Stunden durch den Schnee stapfen, um ihn zu erreichen.
Die Kinder hatten kein gutes Leben bei ihrer Pflegemutter. Mit Fusstritten jagte sie den Buben zur Arbeit, und sie liess keine Gelegenheit aus, Käthi an den Zöpfen zu zerren. Kein gutes Wort kam je über ihre Lippen, und das Essen, das sie den Kindern gab, war dürftig und mager. Die böse Frau liebte nichts als ihr Spinnrad und ihren zahmen Uhu. Den Tag über sass der Uhu auf ihrer rechten Schulter, und nachts schlief er in ihrem Bett.

Das Spinnrad sah unheimlich aus. Es war schwarz, voller Spinnweben und Ungeziefer. An der Querstange steckten
zwei geschnitzte Teufelshörner. Abends, wenn es dunkelte, setzte sich die böse Frau an das gruselige Möbel, drehte den schmutzigen Faden und sang mit krächzender Stimme:

«Aufdem Rad, auf dem Rad,
reitich einmal hopsassa
ausder Stuben, aus der Stuben
ins heisse Land der Beelzebuben.»

Der Uhu hockte dabei auf ihrer Schulter, seine gelben Augen rollten wie
feurige Räder, und er krächzte schauerlich:

«Uhu, uhu, wann fahren wir dem Teufel zu?»

Es war unheimlich. Die Kinder drängten sich in den hintersten Winkel der Küche und hielten sich fest bei der Hand. Am glücklichsten waren Käthi und Hubert im Sommer, wenn sie im Wald Beeren und Holz sammeln konnten. Es war wunderschön im Bergwald, da gab es Vögel, Eichhörnchen und neugierige Hasen. Die Kinder konnten spielen, herumtollen und sich Geschichten erzählen.
Als aber der Winter kam, mussten sie im Haus bleiben und wurden von früh bis spät herumgestossen und geplagt. Einen Tag vor Weihnachten sagte die böse Frau zu Käthi: «Es wird Zeit, dass du spinnen lernst, du fauler Tropf. Los, setz dich her und fang an!»

Kaum aber hatte Käthi die Spule in die Hand genommen, fing das Spinnrad an, Funken in der Stube herumzusprühen. Dabei quietschte es wie ein Schwein. Käthi schrie auf vor Entsetzen, Hubert aber packte das Teufelsgestell und warf es in den Schnee hinaus. Es schlitterte den hartgefrorenen Hang hinunter und stürzte in den Bergbach.Wie eine Furie fuhr die böse Frau auf den Buben los und kreischte: «Hol mir mein Spinnrad zurück, ich muss es wiederhaben! Warte, das wirst du mir büssen!» Rasend vor Wut packte sie Käthi an den Zöpfen, stiess es in eine dunkle Kammer und sperrte die Tür zu: «So, da kannst du bleiben und mit den Ratten spielen, bis Hubert mir das Spinnrad wieder bringt!»Sie lachte so laut und gellend, dass es den Kindern durch Mark und Bein ging. Rasch sprang Hubert in die Scheune, griff sich ein kleines Holzbrett — einen richtigen Schlitten besass er nicht — setzte sich darauf und sauste den Abhang hinunter. Er hoffte, das Spinnrad sei vielleicht an einem Felsvorsprung hängengeblieben, aber er konnte keine Spur davon entdecken. Während der ganzen Nacht hastete Hubert dem Bachufer entlang, kletterte über Geröll, stolperte über Baumwurzeln und suchte im Mondschein das Spinnrad. Vor Kälte und Müdigkeit erschöpft,brach er manchmal beinahe zusammen. Aber der Gedanke an seine arme Schwester gab ihm immer wieder neue Kraft.
Endlich gegen Morgen erreichte Hubert eine kleine Mühle. Zum Umfallen müde setzte er sich auf die Bank vor dem Haus. Tränen liefen über seine Backen aus Angst und Sorge um das eingesperrte Käthi. Da öffnete sich die Eingangstür, und eine alte Frau mit schneeweissem Haar trat heraus. Bei Huberts Anblick rief sie erschrocken: «Ach du lieber Himmel, du bist ja ganz blau gefroren! Komm herein und wärme dich! Ich mache dir auch gleich etwas zu essen.» Sie zog Hubert in die Küche hinein und schob ihm einen Stuhl ans Feuer. Sie setzte Milch auf und fing an, den Tisch zu decken. Hubert schaute sich in der heimeligen sauberen Küche um, und auf einmal wurden seine Augen gross und rund. Neben dem Herd stand das schwarze Spinnrad mit den Teufelshörnern:
«Wo habt Ihr denn das her?» stotterte Hubert. Die alte Frau lachte:
«Gell Bub, das ist ein merkwürdiges Gestell! Mein Sohn hat es vor einer Stunde aus dem Bach gefischt. Es ist am Mühlrad hängengeblieben.»
Hubert bekam ganz rote Backen vor Freude:
«Gott sei Dank, es gehört meiner Pflegemutter, ich muss es ihr schnell bringen. Sie hat meine kleine
Schwester eingesperrt, und es ist noch weit bis zum <Weltende>.»
Dann nimm wenigstens etwas auf den Weg mit, heute ist doch Weihnachten», sagte die alte Frau. Sie füllte Huberts rechte Tasche mit Weihnachtsgebäck, die linke mit roten Rübchen. Dann packte sie ein grosses selbstgebackenes Birnbrot in rotes Seidenpapier und verschnürte es mit einem goldenen Band. Dieses Geschenk verstaute sie in einem kleinen Rucksack.
«Vergelt’s Gott viel tausend Mal!» rief Hubert, packte das Spinnrad und machte sich auf den Weg zum «Weltende».
Er lief, so schnell er“ konnte, aber auf dem hartgefrorenen Schnee rutschte er immer wieder aus. Als er auf den steilen Waldweg kam, der zum Haus der bösen Frau führte, dunkelte es schon. Auf einmal leuchteten ihm zwei gelbe Augen entgegen, und vor ihm stand ein grosser grauer Wolf. Er fletschte die Zähne, und Hubert hatte nur einen Gedanken: Was wird aus Käthi, wenn der Wolf mich auffrisst?
Blitzschnell holte er ein Weihnachtsguetzli aus dem Hosensack und hielt es dem Wolf vors Maul. Der Wolf sperrte seinen grossen Rachen auf, und schwupp — schon hatte er das Zuckerringlein hinuntergeschluckt. Dann stellte er sich auf die Hinterbeine, machte Männchen wie ein zahmer Hund und frass hintereinander noch vier Anisbrötlein, drei Butterkringeln und zwölf Zimtsterne. Als der Wolf das ganze Weihnachtsgebäck aufgefressen hatte, machte er rechtsumkehrt und verschwand im dichten Wald.
Hubert kletterte weiter auf seinem beschwerlichen Weg, hungrig und mit schmerzenden Füssen. Wie aus heiterem Himmel stand plötzlich ein riesiger Bär vor ihm. Er stellte sich auf die Hinterbeine und patschte die dicken Pfoten zusammen wie ein Kind, das bitte, bitte sagt. Hubert zog ein Rübchen nach dem andern aus der Tasche und streckte sie dem Bären hin. Der frass alle Rübchen auf, brummte zufrieden und trottete davon.
Es war schon Mitternacht, als Hubert endlich zu Hause ankam. Die böse Frau stürzte ihm mit dem Uhu auf der Schulter entgegen. Als sie das Spinnrad erblickte, heulte sie laut auf vor Freude:
«Mein Spinnrad, mein Spinnrad!»
Sie drückte das Möbel an sich und tanzte wie eine Verrückte damit herum. Dann setzte sie sich rittlings darauf wie auf einen Besen, sauste auf ihrem sonderbaren Gefährt den steilen Abhang hinunter und ward nicht mehr gesehen. Der Wind heulte und tobte, es donnerte und krachte, und von weither hörte man noch den Uhu schreien:
«Uhu, uhu, jetzt fahren wir dem Teufel zu!»
Hubert befreite seine kleine Schwester, fand in einer Schublade zwei Kerzen, steckte sie auf einen Tannenast und zündete sie an. Die Kinder assen zusammen das Birnbrot und tranken heisse Geissenmilch dazu.
Am nächsten Morgen schien hell die Sonne. Hubert führte Käthi über die glitzernden Schneefelder hinab ins Dorf und erzählte, was geschehen war. Die Kinder kamen zu guten Leuten in Pflege, und von nun an wuchsen sie glücklich auf. Von der bösen Hexe, ihrem Spinnrad und dem Uhu hat man
nie mehr etwas gehört.

(ein Volksmärchen aus der Schweiz)

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