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Märchenbasar

Das Zauberhorn

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Es war einmal ein reicher Mann, dem starb seine Frau. Die hinterließ ihm aber eine kleine Tochter mit Namen Gretchen, die hatte der Vater über alle Maßen lieb. Nun wohnte in der Nachbarschaft eine Witwe, die hatte auch eine Tochter, und zwar mit drei Augen. Eines Tages lockte die Witwe das kleine Gretchen zu sich und sagte ihm: „Siehe, wenn dein Vater mich zur Frau nimmt, so will ich dir eine gute Mutter sein. Ich will mit einem goldenen Kamm deine Haare strählen, mit Milch dein Antlitz waschen und dir Wein zu trinken geben. Meine Tochter soll dir, wenn du schläfst, die Fliegen jagen und wenn du wachst, mit dir spielen!“ Das gefiel dem kleinen Gretchen, und es bat seinen Vater so lange, bis er die Nachbarin zur Frau nahm.
Einige Tage hatte es die Kleine gut, bald aber zeigte sich die neue Mutter als eine rechte Stiefmutter. Sie zankte tagtäglich mit ihm, und bald gab sie ihm auch Schläge, und das arme Mädchen durfte seinem Vater, wenn er nach Hause kam, nicht klagen, sonst hatte es noch viel Ärgeres auszustehen. Für seine größere dreiäugige Schwester musste es die Hemden und Kleider waschen, bis ihm die Finger bluteten, oder gar auf dem Feld die Ochsen hüten und dabei Flachs spinnen. Wenn es dann so allein auf dem Felde war, weinte es oft und klagte so vor sich hin seinen Kummer. Eines Tages kam ein schöner Stier aus der Herde zu ihm heran und fragte mitleidig: „Warum weinst du, armes Kind?“ – „Wie sollt‘ ich nicht weinen. Wenn ich diesen Flachs bis heute Abend nicht spinne, so bekomme ich harte Schläge von meiner Stiefmutter!“ Da sprach der Stier: „Wohlan, ich will dir helfen, reiche mir den Flachs!“ Gretchen tat es, und der Stier schluckte den Flachs ohne weiteres ein. Es erschrak nicht wenig darüber, aber der Stier sagte gleich: „Fürchte dich nicht, mein Kind, schlafe nur ein wenig, sobald du erwachst, wird dein Flachs gesponnen sein!“ Da schlief es ein wenig, und sowie es erwachte, sah es neben sich das schönste Garn. Von da an brauchte es sich nicht mehr zu bekümmern. Wie viel Flachs auch die Stiefmutter ihm zum Spinnen gab, er wurde immer fertig, denn immer kam der Stier hinzu und tat die Arbeit an seiner Statt. Endlich kam das der Stiefmutter nicht heraus, und sie merkte, es könne nicht mit rechten Dingen zugehen. Darum schickte sie jetzt ihre dreiäugige Tochter mit auf die Weide, die sollte Wache halten. Gretchen aber wusste sich zu helfen. Es spann anfangs sehr fleißig und sang dabei, darüber schlief ihre Schwester ein.
Sobald dies geschehen war, gab es seinen Flachs dem Stier zum Kauen, und bis die dreiäugige Schwester erwachte, war er schon gesponnen. So wusste diese am Abend ihrer Mutter nichts anderes zu sagen, als dass Gretchen fleißig gesponnen hätte. Einmal, als Gretchen mit seiner Schwester wieder auf dem Felde war, hatte es sie nicht ganz eingeschläfert, so dass das dritte Auge noch wach war. Damit hatte sie wohl gesehen, wie Gretchen dem Stier den Flachs gegeben und wie er ihn zu Garn gekaut hatte. Als sie am Abend nach Hause kamen, sagte Dreiäuglein ihrer Mutter, was sie gesehen. Alsbald schwur diese dem Stier den Tod und schalt das arme Gretchen aus und schlug es mit Fäusten. Da lief es weinend fort zu dem Stier und erzählte ihm alles. „Mit mir ist es aus?“ sprach der Stier, „aber siehe zu, dass du, wenn ich tot bin, die Spitze von meinem rechten Horn dir verschaffst!“ Als am anderen Morgen Gretchen im Felde die Ochsen hütete, siehe, da brummte plötzlich eine große Bremse um das Haupt des Stiers. Das aber war die Stiefmutter, denn sie war eine böse Zauberin und hatte sich verwandelt. Der Stier wurde wild und rannte blindlings fort. Als er nahe an einer Brücke war, die über einen Abgrund führte, stach ihn die Bremse in die beiden Augen, so dass er nichts sah und die Brücke verfehlte und in den Abgrund hineinstürzte. Gretchen war voller Furcht langsam nachgefolgt. Da fand sie ihren Freund und Beschützer im Abgrund tot. Er hatte sich beim Fallen die Spitze vom rechten Horn gerade abgestoßen. Weinend nahm es sie auf und verbarg sie bei sich.
Bei der Stiefmutter daheim hätte Gretchen nun böse Zeit. Sie gab ihm wieder schwere Arbeiten auf, zankte immerfort und ließ es auch an Schlägen nicht fehlen. Ihre dreiäugige Tochter aber arbeitete nichts, sondern putzte sich immerfort und ging ihrem Vergnügen nach. Dennoch war diese nie so schön als Gretchen. Das ärgerte die Stiefmutter, und sie beschloss, es zu verschaffen. Sie führte es tief in einen dichten Wald und schickte es dann zu einer Quelle um Wasser. Inzwischen verwandelte sie sich in einen schwarzen Käfer und setzte sich unter einen Strauch. Von da wollte sie sehen, wie Gretchen sie suchen und sich verirren solle. Als dieses zurückkehrte, sah es keine Spur von seiner Stiefmutter. Voller Angst lief es hin und her. Schon rückte der Abend heran, und es wusste den Weg nach Hause nicht. Da fiel ihm die Hornspitze, die es im Busen trug, auf den Boden, es hob sie schnell auf und schwenkte sie einmal, ohne dass es wusste, wie. Siehe da kamen auf einmal eine unzählige Menge von Ochsen hervor, so dass der ganze Wald weiß wurde. Der letzte aber, der aus dem Horn stieg, hatte goldene Hörner und war weiß wie Schnee. Dieser kam ganz traulich zu Gretchen. Nur einmal aber schüttelte er unruhig den Kopf, scharrte mit den Füßen den Boden und stürmte auf das Versteck los, wo die Stiefmutter saß. Diese hatte sich aus dem Käfer schnell in einen Bären verwandelt und war eben im Begriff, auf den Stier loszugehen. Da kam es zu einem heftigen Kampf. Der Stier mit seinen goldenen Hörnern rannte den Bären zu Boden, doch brach ihm dabei die Spitze vom rechten Horn ab. Der Bär blieb elendiglich liegen und brummte erschrecklich. Der Stier kam und legte sich zu Gretchens Füßen nieder, und es schien, als wenn er um Hilfe bäte. Da fiel es Gretchen ein, ihm die Hornspitze, die es bei sich trug, an die Stelle der abgebrochenen aufzusetzen, und kaum war das geschehen, so verwandelte sich der Stier in einen schönen Prinzen und die anderen Ochsen in seine Minister und Diener.
Sogleich nahm der Prinz das arme Gretchen bei der Hand als seine liebe Braut, zog in sein Reich und hielt eine glänzende Hochzeit. Die Stiefmutter war jetzt verdammt, in der Gestalt zu bleiben, in der sie war, und so musste sie als garstiger Bär sich im Walde herumschleppen und sich an den Pfoten saugen, bis sie nur soviel wiegen würde als der Flachs, den das arme Gretchen täglich im Felde hatte spinnen müssen.

Quelle: (Josef Haltrich)

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