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Der Bischof von Börglum

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Wir sind im nördlichen Jütland, wo wir an der Westküste, im Wildmoor, das Brausen der Nordseewellen vernehmen. Es rollt und donnert, dass es meilenweit ins Land hineinschallt, und wir sind dem Gebrause ganz nahe. Vor uns erhebt sich ein großer Sandberg, den wir schon lange gesehen haben und nach dem wir uns richten. Langsam fahren wir in dem tiefen Sand dahin. Auf dem Sandberg liegt ein großes altes Gebäude, das Kloster Börglum. Und zu diesem Kloster gelangen wir jetzt, in später Abendstunde. Es ist eine helle Nacht im Juni und das Wetter ist klar. Weit, sehr weit schweift das Auge umher, über Feld und Moor bis zum Aalborger Meerbusen, über Heide und Wiese und weit über das dunkelblaue Meer hinaus.
Jetzt sind wir dort, rollen zwischen Scheunen und anderen Wirschaftsgebäuden dahin, und wenden uns links vom Tor zum alten Burghof. Linden stehen in Reihen längs der Mauern Sie haben Schutz vor Wind und Wetter und wachsen so üppig, dass Zweige und Blätter fast die Fenster verdecken.
Wir steigen die steinerne Wendeltreppe hinauf und schreiten die langen Gänge unter der Balkendecke dahin. Hier saust der Wind gar sonderbar, sowohl innen als auch außen. Man weiß eigentlich nicht so recht, wo! Aber man erzählt gar vieles und sieht gar vieles, wenn es einem graust oder wenn man in anderen das Grausen erregen will. Die alten, verstorbenen Chorherren, so sagt man, gleiten still an uns vorüber in der Kirche, wo die Messe gesungen wird. Man kann es in dem Sausen des Windes vernehmen, und eine wunderbare Stimmung bemächtigt sich unser dabei. Man denkt an die alten Zeiten, ja, man versenkt sich ganz und gar in die alten Zeiten.
An der Küste ist ein Schiff gestrandet. Die Leute des Bischofs sind dort, und sie schonen keinen, der vom Meer geschont worden ist. Die See spült das rote Blut hinweg, das von zerschmetterten Hirnschädeln floss. Die gestrandeten Güter gehören dem Bischof, und es ist eine große Menge Gut. Die See wirft Fässer und Tonnen mit köstlichem Wein für den Keller des Klosters aus, wo doch im Kloster schon Bier und Met gehortet sind. Auch in der Küche mangelt es an nichts. Da gibt es erlegtes Wildbret, Geflügel, Schinken und Würste. Und draußen in den Fischteichen schwimmt der fette Barsch und die leckere Karausche.
Der Bischof von Börglum ist ein mächtiger Herr. Große Ländereien besitzt er, und doch gelüstet ihm noch nach mehr. Alles muss sich dem mächtigen Oluf Glob beugen. Im Thyland ist sein reicher Vetter gestorben, und eigentlich müsste die Witwe sein reiches Erbe bekommen. Wie kommt es nur, dass ein Blutsverwandter dem anderen immer härter zusetzt, als selbst Fremde es täten?
Der tote Gemahl gebot über ganz Thyland, die Kirchengüter ausgenommen. Sein Sohn war aber nicht daheim geblieben. Schon als Knabe ging er auf Reisen, um fremde Länder und Völker zu sehen, wonach ihm der Sinn stand. Seit Jahren fehlte jede Kunde von ihm. Vielleicht ist er längst zu Grabe getragen und wird nie mehr in die Heimat zurückkehren, um dort zu gebieten, wo jetzt noch seine Mutter herrschte. „Ei, was hat ein Weib zu gebieten“, sagte der Bischof. Er brachte die Witwe vor das Gericht – doch was sollte er damit erreichen? Die Witwe war dem Gesetz nie ungehorsam gewesen und stark durch ihre gerechte Sache.
„Bischof Oluf zu Börglum, was sinnest du? Was schreibst du nieder auf glattes Pergament? Was verschließest du da unter Siegel und Band? Und was übergibst du deinem Reiter und Knappen, die von weite von dannen bis in die Stadt des Papstes reiten?“
Es ist Laubfallzeit, Strandungszeit, und schon bald tritt der eisige Winter ein. Zweimal kam er wieder, bevor der Bischof den Reiter und den Knappen in der Heimat willkommen hieß. Sie kehrten mit päpstlichen Schreiben aus Rom zurück. Es war die Bannbulle über die Witwe, die wagte, den frommen Bischof zu beleidigen! Verflucht sei sie und alles, was ihr gehört! Ausgestoßen sei sie aus der Kirche und Gemeinde! Niemand reiche ihr die helfende Hand, Freunde und Anverwandte mögen sie meiden wie Pest und Aussatz!
„Was nicht biegen will, muss brechen“, sagte der Bischof von Börglum. Alle ließen von der Witwe ab, aber von ihrem Gott will sie nicht ablassen. Er ist in der Not ihr Schutz und ihre Wehr. Von ihren Bediensten ist nur die alte Magd treu geblieben. Mit ihr geht die Witwe selbst hinter dem Pflug einher, und das Getreide wächst, obwohl der Boden von Papst und Bischof verflucht ist. „Du Kind der Hölle! Ich werde meinen Willen durchsetzen!“, ruft der Bischof von Börglum. „Jetzt lege ich die Hand des Papstes auf dich und bringe dich zur Verurteilung vor das Gericht!“
Da spannt die Witwe die letzten zwei Ochsen vor den Wagen, setzt sich mit ihrer alten Dienerin hinein und fährt über die Heide dahin, hinaus aus dem dänischen Lande. Als Fremdling kommt sie in ein fremdes Land, wo man fremde Sprache spricht, wo fremde Sitten herrschen. Weit und immer weiter gelangt sie, wo grüne Hügel sich zu Bergen erheben und die Weinreben nur so sprießen. Fremde Kaufleute fahren an ihr vorüber. Sie spähen ängstlich von ihren schwer beladenen Wagen herab, fürchten sie doch stets einen Überfall. Die beiden armen Frauen in ihrem elenden Fuhrwerk ziehen furchtlos durch den unsicheren Hohlweg und die dicht bestandenen Wälder. Sie befinden sich nun in Franken. Da begegnet ihnen ein stattlicher Ritter mit einem Gefolge von zwölf gewappneten Knappen. Er macht halt, betrachtet den sonderbaren Aufzug und befragt die beiden Frauen und von woher sie kämen. Da nennt die eine Thyland in Dänemark, und sie spricht von Kummer und Elend. Das alles hat nun ein Ende, so hat es der liebe Gott gelenkt. Der fremde Ritter ist der Sohn der Witwe, und er empfängt sie mit offenen Armen. Die Mutter weint vor Glück, dafür gibt es keine Worte.
Es ist Laubfallzeit, Strandungszeit, bald tritt der eisige Winter ein! Das Meer rollt Weinfässer für den Keller des Bischofs ans Land. In der Küche brät über dem Feuer das aufgespießte Wild. Warm ist es auf Börglum in dem gut geheizten Zimmer, während draußen harter Winter klirrt und knackt. Da hinterbringt man dem Bischof eine Neuigkeit: Jens Glob zu Thyland ist zurückgekehrt, und mit ihm seine Mutter. Jens Glob klagt den Bischof an. Er lässt ihn schon bald vor das geistliche und vor das weltliche Gericht treten. „Das wird ihm wenig helfen“, sagt der Bischof. „Lass lieber ab vom Streit, Ritter Jens!“
Es ist wieder Laubfallzeit, wieder Strandungszeit! Der eisige Winter kehrt wieder. Weiße Bienen schwärmen überall, und sie stechen ins Gesicht, bis sie dort zerschmelzen.
„Du Börglum-Bischof“, ruft der Ritter, „ich werde dich doch überwältigen! Unter dem Deckmantel des Papstes kann dich das Gesetz nicht erreichen, aber Jens Glob wird es tun!“ Darauf schreibt er einen Brief an seinen Schwager, Herrn Oluf Hase in Sallingland. Er bittet ihn, am Weihnachtsmesse in die Kirche von Wittberg zu kommen. Der Bischof selbst liest dort die Messe und reist deshalb von Börglum nach Thyland. Das weiß Jens Glob.
Wiese und Moor liegen unter Eis und Schnee. Sie tragen Pferd und Reiter, den ganzen Zug des Bischofs mit seinen Priestern und Knechten. Sie reiten den kürzesten Weg durch das Röhricht, durch das der Wind so traurig saust. „Stoße in deine Trompete, du Spielmann im Fuchspelz“, befiehlt der Bischof, „es wird in der klaren Luft gut klingen.“ So reiten sie südlich über Heide und Moor, denn sie wollen zur Kirche von Hoidberg.
Stärker stößt der Wind in seine Posaune. Es weht ein Sturm, ein Wetter Gottes, das zu gewaltiger Kraft anwächst. Zum festen Hause Gottes geht es fort in diesem Wetter. Der Bischof von Börglum erreicht die Kirche, was Herr Oluf Hase schwerlich vermag, wie scharf er auch reitet. Er kommt mit seinen Mannen jenseits des Haffs Jens Glob zu Hilfe. Nun, Bischof, wirst du vor den Richterstuhl des Höchsten geladen! Gottes Haus ist der Gerichtssaal, der Altartisch der Gerichtstisch. Die Lichter sind in den schweren Messingleuchtern angezündet. Der Sturm liest Klage und Urteil. Es saust in den Lüften über Moor und Heide, und es braust über das rollende Wasser. Kein Fährmann setzt in solchem Wetter über das Haff.
Oluf Hase macht halt am Ottesunde. Dort verabschiedet er seine Mannen, schenkt ihnen Pferd und Rüstung und gibt ihnen frei, nach Hause zu ziehen. Er alleine will sein Leben in dem brausenden Gewässer wagen. Aber sie sollen Zeugnis geben, dass es nicht seine Schuld ist, dass Jens Glob ohne Hilfe in der Kirche zu Hoidberg steht. Die treuen Knappen verlassen ihn nicht, sie folgen ihm in die tiefen Wasser hinaus. Zehn von ihnen werden hinweggespült, doch Oluf Hase und zwei der jüngsten Knappen erreichen das jenseitige Ufer: Noch haben sie vier Meilen zu reiten.
Es ist Mitternacht vorüber, es ist Weihnachten. Der Wind hat nachgelassen, und die Kirche ist erleuchtet. Strahlender Lichtschein bricht durch die Fensterscheiben und fließt über Wiese und Heideland hinaus. Die Messe ist längst zu Ende. Stille herrscht im Gotteshaus. Drinnen hört man das Wachs von den Lichtern der Kronleuchter auf den steinernen Fußboden tropfen. Jetzt kommt auch Oluf Hase an. In der Waffenhalle bietet Jens Glob ihm guten Tag und fügt die Worte hinzu: „Soeben habe ich mich mit dem Bischof geeinigt.“ „Wenn es so steht“, ruft Oluf Hase, „dann sollst weder du noch der Bischof lebendig aus der Kirche gelangen!“
Und das Schwert fährt aus der Scheide und Oluf Hase haut auf ihn ein. Jens Glob kann in letzter Not die Kirchentüre vor sich bringen, worauf das Schwert das hölzerne Schnitzwerk in Stücke zersplittert. „Haltet ein, Schwager! Höret, welcher Art die Einigung ist! Ich habe den Bischof und seine Mannen alle erschlagen. Kein Wort sagen sie mehr von all dem Unrecht, das meiner Mutter widerfahren ist.“
Rot scheinen die langen Dochte der Altarlichter, röter noch scheint es vom Fußboden. Dort liegt der Bischof mit gespaltener Stirne, um ihn her seine toten Gesellen. Still und lautlos ist die heilige Weihnachtsnacht.
Am vierten Weihnachtsabend läuten aber die Glocken im Kloster Börglum zur Leichenschau. Der ermordete Bischof und die erschlagenen Mannen sind ausgestellt unter einem schwarzen Thronhimmel, umstellt von florumhüllten Armleuchtern. In einem schwarzen, silberbestickten Mantel liegt der Tote da, den Krummstab in der machtlosen Hand. Einst war er ein mächtiger Herr. Räucherfässer duften und Mönche singen. Es klingt wie ewige Klage, als wenn sie weit über das Land hinaus vernommen werden müsste. Wohl schweigt sie manchmal, aber sterben wird sie nicht. Immer wieder erhebt sie sich und singt hier oben vom Bischof von Börglum und seinem harten Neffen. Vernommen wird die Klage in der finsteren Nacht von dem verängstigten Bauersmann, der am Kloster Börglum vorüberfährt. Vernommen wird sie von dem lauschenden Schlaflosen in den Zimmern auf Börglum, und deshalb seufzt und huscht es in den langen, widerhallenden Gängen, die zur Klosterkirche führen. Deren Eingang ist längst verschlossen und vermauert, nur nicht dem Auge des Aberglaubens. Dieses Auge sieht noch die Türe, sieht sie sich auftun, sieht die Lichter von den Kronleuchtern der Kirche flammen, die Räuchergefäße duften, die Kirche in der ehemaligen Pracht strahlen, die Mönche singen und eine Messe über den erschlagenen Bischof lesen. Versinkt ins Grab, in Nacht und Vergessenheit, ihr unheimlichen Gestalten der alten Zeit! Hört diese Stöße des zornigen Windes, sie übertönen das rollende Meer. Ein Sturm naht draußen, der Menschenleben fordert! Dem Meer ist mit der neuen Zeit kein neuer Sinn gewachsen.
Jetzt ist es Morgen! Die neue Zeit wirft Sonnenschein ins Zimmer. Der Wind hält immer noch gewaltig an. Eine Strandung – wie in der alten Zeit – wird gemeldet. Während der Nacht, dort unten am Lökken, dem kleinen Fischerdorf mit den roten Ziegeldächern. Wir sehen es vom Fenster aus hier oben. Ein Schiff ist gestrandet. Draußen stieß es an und rannte sich fest in den Meeresgrund, aber die Rettungsrakete warf ein rettendes Tau an Bord und band eine Brücke vom Wrack aus auf das feste Land hinüber. Alle wurden gerettet, die an Bord waren. Sie gelangten an das Land und wurden in warme Kissen gebettet. Heute sind sie auf dem Herrenhofe zu Kloster Börglum eingeladen.
In gemütlichen Zimmern kommen ihnen dort Gastfreundschaft und milde Augen entgegen, und sie werden in ihrer Landessprache begrüßt. Vom Klavier her erklingen heimatliche Melodien und bevor diese verhallt sind, braust eine andere Saite, lautlos und doch klangvoll und sicher. Der „Gedankendraht“ reicht bis in die Heimat der Schiffbrüchigen, ins fremde Land hinein und meldet ihre Rettung. Da wird der Sinn leicht, da schwingen sie sich abends im Tanz beim Festgelage auf Börglum in der großen Halle. Walzer und Langsteyrisch wechseln einander ab, dänische Volksweisen und fremde Lieder aus neuerer Zeit. Gesegnet bist du, du neue Zeit! Ach, Sommer, sende deine Sonnenstrahlen leuchtend in die Herzen und Gedanken! Auf deinem Strahlen schweben sie vorüber, die finsteren Sagen aus harten, strengen Zeiten.

Quelle: Hans Christian Andersen

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