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Der Blinde und der Lahme

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Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau, die bekamen in ihrem Alter noch zwei Kinder, zwei Söhne, von denen der eine blind, der andere lahm war. Die alte Frau sagte zu ihrem Manne: »Hör‘, Alter, mich dünkt, es wäre gescheit, wir gingen einmal zu einem Krankheitsbeschwörer, der könnte den beiden Jungen vielleicht helfen.«
Der Alte antwortete: »Ach was! Was sollen wir bloß mit dem Kroppzeug anfangen? Das Beste ist, wir bringen sie um; sonst ziehen wir sie vergebens auf, denn darnach kommt doch nichts.«
Die alte Frau erwiderte darauf: »Alter, du redest wie ein kleines Kind. Sprich nicht von blind, nicht von lahm. Küken müssen wir auch füttern. Und wenn uns Gott nun Kinderchen schenkte, was haben wir dann zu tun? Freuen sollen wir uns darüber. Sie werden schon geraten.«
Der Alte entgegnete bloß: »Na ja, gut! Bleibt man hier; ich geh‘ meiner Wege, ich will solche Kinder nicht täglich vor Augen haben.« Und als er das gesagt hatte, stand er auf, machte sich auf die Beine und zog in ein anderes Land; die andern blieben nun allein in ihrem Häuschen daheim.
Die Ärmsten, woher sollten sie nun etwas zu essen bekommen? Die alte Frau suchte Blätter und Früchte, nahm sie mit nach Hause, und dann aßen sie alle drei davon; als sie keine Früchte und Blätter mehr essen konnten, ging sie auf die Felder und sammelte die vergessenen Maiskolben und Reisähren, nahm sie mit nach Hause, und dann aßen sie alle drei davon; so lebten sie einen Tag wie den andern.
So wurden sie groß! Aber die Ärmsten! Der eine konnte gut sehen, aber seine Beine wollten ihn nicht tragen. Dem andern waren gesunde Beine gegeben, doch konnte er nichts sehen. So hatten sie es sehr schwer; niemand erbarmte sich ihrer.
Eines guten Tages gab nun der König in seinem Palaste ein Fest. Die Leute erzählten ihnen davon. Da meinten sie, sie wollten auch hingehen. Doch die alte Frau wollte sie nicht ziehen lassen und sagte: »O, du meine Güte! Ihr seid doch so gebrechlich, warum wollt ihr dorthingehen? O, wir armen Menschen! Nicht einmal ein gutes Gewand besitzen wir. Und dann wollt ihr so unangezogen losgehen, um euch das Fest im Königspalaste anzusehen?«
Sie antworteten: »Ach, Mutter! Der König kennt uns ganz genau; schwere Arbeit können wir wahrscheinlich nicht leisten. Aber die Hunde wegjagen und Feuer anmachen, das können wir; wir möchten dabei nicht gerne fehlen.«
Darauf erwiderte die alte Frau: »Gut, Jungens! Wenn ihr so sprecht, dann geht man hin. Daß ihr mir gehörig Obacht gebt; vielleicht will man uns nur eins aufbinden, damit wir hernach Buße zahlen können. Und was sollten wir dann hergeben? Wir haben doch selbst nichts, was auch nur den allergeringsten Wert hätte.«
D’rauf nahm der Blinde den Lahmen auf die Schulter. Sie marschierten sofort los und kamen am Nachmittag an. – Bei ihrer Ankunft waren die Leute schon tüchtig beim Feiern. Und am nächsten Tag ließ der König die beiden rufen. Als sie erschienen waren, fragte der König: »Nun, mein lieber Blinder und mein guter Lahmer, was sucht ihr denn hier?«
Sie antworteten: »Ja, Herr König! Wir Sklaven hörten andere Sklaven erzählen, daß der Herr König in seinem Hause ein Fest geben wollte, und darum sind wir Sklaven denn auch gekommen.«
Es sprach der König: »Gut so. Wir wollen ein Fest feiern. Und nach dem Fest sollt ihr beide heimkehren.« Worauf sie antworteten: »Gut, Herr König, wie es Ew. Gnaden belieben.«
Als sie nun nach dem Feste nach Hause gehen sollten, befahl der König seinen Dienern, einen Korb voll Reis, einen andern voll Fleisch zu packen und sie dem Blinden und Lahmen zu geben. Und dann sagte der König noch zu ihnen: »Nun geht. Und wenn ihr wieder einmal unserer gedenkt, dann kommt wieder.«
Sie erwiderten: »Schön, Herr König, dann kommen wir wieder.«
Darauf nahm der Blinde den Lahmen auf die Schulter; der Lahme trug das Fleisch und den Reis auf dem Kopfe. So zogen sie ab. Als sie an einem Baum vorüberkamen, dessen Äste tief nach unten hingen, sprach der Lahme zum Blinden: »Bück‘ dich!« Dann bückte sich der Blinde. So gelangten sie schließlich an einen Brunnen. Der war wohl an die zwanzig Meter tief. Und der Blinde sagte: »He, Lahmer, mich dünkt, hier ist Wasser.« Und der Lahme erwiderte: »Ja, einst holten unsere Ahnen hier ihr Trinkwasser.« Da sagte der Blinde: »Schön, dann wollen wir hier erst einmal rasten. Ich kann nicht mehr. Ich muß dich tragen und dazu noch die beiden Körbe mit Reis und Fleisch. Weißt du, wie schwer das ist?« Der Lahme entgegnete: »Wie du willst. Ich richte mich nach dir. Denn ich bin dein Auge, und du bist mein Bein. Wenn du nicht weiter kannst, kann ich auch nicht weiter.«
Dann rasteten sie zusammen am Brunnen. Der Lahme verteilte das Fleisch und den Reis. Doch teilte er nicht gleichmäßig aus. Im Fleisch des Blinden waren viel Sehnen und Knochen, während seins eitel Fleisch und Fett war. Und so kam es denn, daß der Blinde beim Beißen gehörig zerren mußte; und wie er nun biß und zerrte, riß er die Augen auf. Jetzt schaute er nach dem Lahmen hin, der eitel Fleisch und Fett verzehren konnte. Da wurde er böse. Er nahm den Lahmen und warf ihn ins Wasser. – Der Lahme schrie und strampelte mit den Beinen; und mit einem Male reckte und streckte er die Beine. Er stieg aus dem Wasser heraus, und der Blinde und der Lahme schüttelten sich die Hände, tanzten, sprangen herum, ließen einander hochleben und sagten: »Wie geht es eigentlich zu, daß uns plötzlich solch‘ ein Glück beschert wird?«
Beide nahmen das Fleisch und den Reis, packten sich gegenseitig die Körbe auf den Kopf und machten sich auf den Weg. Unterwegs mußten sie immer und immer wieder hüpfen und springen.
Als sie nahe bei ihrem Häuschen waren, kam die Mutter herausgelaufen und schrie, denn sie meinte, daß zwei Trunkenbolde heranwackelten. Aber die beiden riefen: »Mutter! O Mutter! Sei doch nicht bange, wir sind ja wieder da und gesund.«
Darauf sagte die Alte: »O du meine Güte! Wer hat euch denn wieder gesund gemacht?«
Und nun erzählten sie, wie es ihnen ergangen war. Sie erzählten von Anfang an, was sie auf dem Wege gemacht hatten, bis sie schließlich an den Brunnen gelangt waren, und wie sie dort ihre Gesundheit wiedererlangt hätten.
D’rauf feierten alle drei einen vergnügten Abend.

[Paul Hambruch, Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde, Märchen der Welt]

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