Vor Zeiten, die so alt sind, dass man beinahe glaubt, sie seien gar nicht gewesen, gab es in dem Land, das man heute Argentinien nennt, überhaupt noch keine Menschen. Auf den Höhen und in den Tälern, auf der weiten Fläche der Pampa und an den großen Flüssen wuchsen vielerlei Bäume und Sträucher, Dorngestrüpp und Gräser wild durcheinander. Sie blühten und gediehen und trugen Samen und Früchte und vermehrten sich. Die großen und kleinen Tiere, die behaarten und lederhäutigen, die gefiederten und beschuppten, sprangen und krochen, schwirrten, flogen und schwammen, zirpten, sangen, brüllten und taten, als wären sie ganz allein auf der Welt.
Das dauerte viele Jahre und würde vielleicht auch heute noch so sein. Aber da stiegen eines frühen Morgens, als die Sonne noch halb verschlafen und mit einem großen, rot entzündeten Auge aus dem Wasser emportauchte, zwei Männer mit ihren Frauen an Land. Niemand hatte sie vorher gesehen. Sie kamen aus der Richtung her, wo die Sonne aufging. Als sie die Küste betraten, war niemand da, der sie hätte empfangen können. Nur von einer riesigen Kaktee wehte wie eine blutrote Fahne der wunderschöne, breitgelappte Blütenkelch einer Orchidee. Die Flamingos standen in einer Reihe, und die Löffelenten und die Pinguine, und jeder Vogel nur auf einem Bein, wie zu einer Begrüßungszeremonie aufgestellt, und die beiden Männer und Frauen wunderten sich über diesen sonderbaren Empfang. Die hatten geglaubt, dass sie hier Menschen finden würden, die ihnen ähnlich wären. Es war aber weit und breit nicht die Spur von Lebewesen ihresgleichen zu sehen. Nur Bäume, Sträucher und Gräser waren da. Und Tiere sprangen umher, die sich gar nichts aus den neu angekommenen Menschen machten.
Da gingen die beiden Männer und Frauen ans Werk und begannen, das Feld zu bebauen, das vor ihnen lag. Sie waren fleißig und lebten in Frieden und Eintracht miteinander, viele Jahre lang, bis Kinder kamen und groß wurden und schließlich Männer und Frauen, wie ihre Eltern, und sich ebenfalls zusammentaten. Und nun wollten sie ein Stück Land zum Bebauen haben, darauf jedes Paar für sich wohnen und Kinder haben konnte. Da gab es oft Zank und Streit, manchmal schlugen sich sogar Eltern und Kinder und die Familien untereinander. Aber es war noch immer unblutig abgegangen, und man hatte sich stets wieder schnell versöhnt.
Einmal aber floss Blut. Das geschah nur eines dummen grünen Papageien wegen, den die Frau des Pehuenche und die des Guarani jede für sich haben wollte, weil dieser Vogel sprechen konnte. Da sie sich nicht einigen konnten und immer wieder aufeinander losschlugen, trennten sich die Familien im Zorn. Pehuenche blieb mit Kind und Kindeskindern an der Küste, Guarani wanderte mit seinem Anhang nach Nordwesten hinauf, zu den großen Flüssen und dunklen Wäldern. Aber immer wieder, wenn die Guarani den Pehuenche begegneten, schlugen sie sich blutig und konnten nicht Frieden halten.
Also ‚knüpfte‘ Amáan Pacaric, der weise ‚Armáuta‘ des Inka-Staates, die Geschichte von den ersten Indios und vom ewigen Krieg zwischen den Brüdern zu einem Quipo, den er immer wieder seinen vielen Zuhörern vorlesen musste. Heute ist diese Geschichte nur ganz wenigen Indios durch mündliche Überlieferung bekannt. Ihm ist wohl zu danken, dass alle Geschichten und Legenden der Indios ‚geknüpft‘ wurden, leider aber sich bis heute nur mündlich erhalten haben, da die Quipos schon längst vermodert sind und eine Schrift in unserem Sinne dort nicht bekannt war.
Quelle:
(Peru)