1.8
(5)
Irgendwann war das baufällige Hüttchen eines armen Mannes zusammengestürzt. Deshalb nahm er sich vor, ein neues zu bauen. Schon war das neue Haus fertig, nur das Dach musste noch gedeckt werden. Da der Mann aber dafür kein Geld mehr hatte, forderte er den Meister auf, einfach Schilfmatten darauf zu legen und Erde darüber zu schütten. Dann entließ er ihn. „Das Dach werde ich schon selbst in Ordnung bringen, wenn ich dazu in der Lage bin“, sagte der arme Mann und zog in sein unfertiges Haus ein.
Ganz in der Nähe lebte aber ein Dieb. Der dachte sich beim Anblick des neuen Hauses: ‚Bestimmt ist dieser Mann reich geworden, weil er sich ein neues Haus bauen konnte! Dort wird wohl etwas zu holen sein.‘ In der Nacht kletterte der Dieb auf das dünne Dach und wollte darüber gehen. Kaum hatte er einen Schritt getan, gab die Schilfmatte nach, und der Dieb stürzte in das Haus, geradewegs auf den schlafenden armen Mann. Der schreckte empor und wollte den Dieb fangen. Da es aber finster war, entkam der Eindringling. Wütend auf den armen Mann, ging der Dieb am nächsten Tag zum Schah, um sich zu beschweren. „Wer bist du und worin besteht deine Beschwerde?“ erkundigte sich der Schah. „O mächtiger, weiser Gebieter! Ich wollte ein Haus ausrauben und stieg deshalb auf das Dach. Dort aber lagen nur Schilfmatten. Ich bin darum hinabgestürzt und hätte mir beinahe ein Bein gebrochen. Ich bitte Euch, den Herrn dieses Hauses zu bestrafen!“ Der Schah ließ den armen Mann rufen. „Ist es wahr, dass dieser Mann des Nachts auf deinem Dach durchgebrochen ist!“ herrschte er ihn an. „Ja, das ist die Wahrheit, hoher Herr“, antwortete der Arme. „Noch gut, dass er auf mich gefallen ist, sonst hätte er sich gewiss ein Bein gebrochen.“ – „Wenn dem so ist, dann hängt den Herrn des Hauses auf!“ befahl der Schah.
Da flehte der Arme: „O edler Schah, warum soll ich aufgehängt werden? Eher müsste der Dieb bestraft werden.“ – „Du hast zu schweigen! Wie kannst du es wagen, mich belehren zu wollen?“ Da sah der Arme, dass es schlecht um ihn bestellt war. Gerechtigkeit würde er beim Schah keine finden. „O mein Gebieter, bin ich denn schuld?“ rief der Arme. „Dieses Dach hat doch ein Dachdecker gemacht. Er hat schlecht gearbeitet und keine guten Schilfmatten darauf gelegt.“ – „Dann soll man den Hausherrn freilassen und den Dachdecker aufhängen!“ gebot der Schah. Die Henkersknechte nahmen den Dachdecker fest und schleppten ihn zum Galgen. „Ich habe noch eine Bitte an den Schah“, jammerte der Meister. „Sprich, was willst du?“ – „O mein Gebieter, ich bin doch ohne Schuld. Schuld ist der Flechter der Schilfmatten. Er hat sie dünn und spärlich geflochten. Wären sie dichter und fester gewesen, hätten sie nicht nachgegeben, als der Dieb darauf trat.“ Der Schah ließ den Dachdecker frei und befahl, den Mann, der die Schilfmatten geflochten hatte, zu packen und zu ihm zu bringen. „Hast du die Matten geflochten?“ fragte er. „Ja, mein Gebieter.“ „Dann hängt ihn auf!“ schrie der Schah. „An allem sind seine Matten schuld!“ – „Oh, vergönnt mir ein Wort, gnädiger Gebieter!“ flehte der Handwerker. „Stets habe ich sehr gute, feste Matten geflochten. Seit kurzem hat aber mein Nachbar eine Vorliebe für Tauben. Als er sie aufsteigen ließ und sie am Himmel umherflatterten, hatte ich meine Freude daran, darum gelang mir meine Arbeit schlechter, und ich flocht spärliche, dünne Matten. Schuld ist der Taubenfreund!“
Der Schah ließ den Flechtmeister laufen und befahl, den Taubenfreund zu holen und zu hängen. „O gütiger Schah! Meine Leidenschaft ist es, Tauben zu pflegen und ihren Flug zu bewundern. Das ist doch keine Missetat. Wem kann es nützen, wenn Ihr mich hängen Lasst? Warum soll ein armer Mann getötet werden – besser Ihr ließet den Dieb hinrichten, dann könnten die Menschen ruhiger leben“, jammerte der Taubenfreund. „Eigentlich hat er recht!“ stimmte der Schah zu. „An allem ist der Dieb schuld. Sucht den Dieb und hängt ihn auf!“ Die Henkersknechte machten den Dieb ausfindig und schleppten ihn zum Galgen. Der Galgen war aber niedrig und der Dieb von hohem Wuchs. Wie sich die Henker auch abmühten, immer berührten seine Füße den Boden. Da traten die Henkersknechte vor den Schah und meldeten: „O Gebieter des Weltalls! Der Dieb ist allzu lang, seine Füße bleiben am Boden, so dass wir ihn nicht hängen können. Was wollen wir tun?“ Der Schah war empört. „Mit solchen Kleinigkeiten wagt ihr mich zu belästigen? Wenn der Dieb zu groß ist, könnt ihr da nicht auf die Landstraße gehen und einen kleineren Mann finden? Kann man denn statt eines langen Lümmels nicht ein Wichtlein hängen? Könnt ihr nicht einmal so weit denken?“ Die Henkersknechte gingen auf die Straße, wo sie einen kleingewachsenen Mann sahen, der einen Mehlsack auf der Schulter schleppte. „Das ist gerade so einer, wie der Schah verlangt hat!“ entschieden sie. „Der Befehl des Schahs muss erfüllt werden.“ Sie packten den kleinen Mann und brachten ihn zum Galgen. Der aber schrie und zeterte: „Was habe ich verbrochen? Wofür wollt ihr mich hängen?“
Gerade kam der Schah zum Galgen, um der Hinrichtung beizuwohnen. „Ich habe eine Bitte an den Schah“, schrie der kleine Mann. „Sag, worum du bittest!“ befahl ihm der Schah. „O großer Herrscher! Ich bin ein armer Mann und sammle in den Bergen Fallholz, um es in der Stadt zu verkaufen, und schleppe auch Lasten für andere Leute. Damit ernähre ich Weib und Kinder. Worin besteht meine Schuld? Warum habt Ihr befohlen, mich zu hängen?“ – „Du Dummkopf!“ beschimpfte ihn der Schah. „Woher soll ich wissen, ob du schuldig bist oder nicht? Ein Mann ist zu hängen. Ich wollte den Dieb hängen lassen, doch er ist zu groß, seine Füße reichen bis zum Boden. Du aber bist klein und taugst dazu sehr gut.“ – „Ach gütigster Herrscher!“ heulte der Unglückliche. „Schuld ist der lange Dieb. Ihr aber richtet einen vollkommen schuldlosen armen kleinen Mann! Wo ist da das Recht? Wenn der Dieb zu lang ist, dann Lasst unter dem Galgen eine kleine Grube ausheben!“ Der Schah überlegte hin und her, dann sagte er: „Das ist ein guter Vorschlag! Er hat Recht. Lasst ihn laufen und hängt den Dieb. Unter seinen Füßen grabt eine Grube!“ Wieder schleppten die Henkersknechte den Dieb zum Galgen, warfen ihm die Schlinge über und begannen unter seinen Füßen zu graben. „Schnell, schnell, sonst ist es zu spät! Hängt mich sofort auf!“ drängte der Dieb. „Warum hast du es denn mit dem Sterben so eilig?“ staunte der Schah. „O mächtiger Gebieter! Eben ist im Paradies der Schah gestorben. Er hat vor seinem Tode kundgetan: ‚Wer als erster stirbt und ins Paradies kommt, den macht zum Schah!‘ Darum beeile ich mich so. Wenn man mich sofort hängt, gelange ich dorthin und werde Schah, bevor ein anderer den Thron bestiegen hat. Hängt mich sofort auf!“ schrie der Dieb wieder.
Da wurde der Schah vom Neid gepackt. ‚Schah des Paradieses zu werden ist doch keine Kleinigkeit. Lieber will ich selbst im Jenseits Schah werden!‘ dachte er und befahl den Henkersknechten: „Lasst den Dieb laufen und hängt mich auf!“ Ein Befehl des Herrschers muss befolgt werden. So ließen sie den Dieb laufen und hängten statt seiner den dummen Schah. Damit war die Sache zu Ende.
Ganz in der Nähe lebte aber ein Dieb. Der dachte sich beim Anblick des neuen Hauses: ‚Bestimmt ist dieser Mann reich geworden, weil er sich ein neues Haus bauen konnte! Dort wird wohl etwas zu holen sein.‘ In der Nacht kletterte der Dieb auf das dünne Dach und wollte darüber gehen. Kaum hatte er einen Schritt getan, gab die Schilfmatte nach, und der Dieb stürzte in das Haus, geradewegs auf den schlafenden armen Mann. Der schreckte empor und wollte den Dieb fangen. Da es aber finster war, entkam der Eindringling. Wütend auf den armen Mann, ging der Dieb am nächsten Tag zum Schah, um sich zu beschweren. „Wer bist du und worin besteht deine Beschwerde?“ erkundigte sich der Schah. „O mächtiger, weiser Gebieter! Ich wollte ein Haus ausrauben und stieg deshalb auf das Dach. Dort aber lagen nur Schilfmatten. Ich bin darum hinabgestürzt und hätte mir beinahe ein Bein gebrochen. Ich bitte Euch, den Herrn dieses Hauses zu bestrafen!“ Der Schah ließ den armen Mann rufen. „Ist es wahr, dass dieser Mann des Nachts auf deinem Dach durchgebrochen ist!“ herrschte er ihn an. „Ja, das ist die Wahrheit, hoher Herr“, antwortete der Arme. „Noch gut, dass er auf mich gefallen ist, sonst hätte er sich gewiss ein Bein gebrochen.“ – „Wenn dem so ist, dann hängt den Herrn des Hauses auf!“ befahl der Schah.
Da flehte der Arme: „O edler Schah, warum soll ich aufgehängt werden? Eher müsste der Dieb bestraft werden.“ – „Du hast zu schweigen! Wie kannst du es wagen, mich belehren zu wollen?“ Da sah der Arme, dass es schlecht um ihn bestellt war. Gerechtigkeit würde er beim Schah keine finden. „O mein Gebieter, bin ich denn schuld?“ rief der Arme. „Dieses Dach hat doch ein Dachdecker gemacht. Er hat schlecht gearbeitet und keine guten Schilfmatten darauf gelegt.“ – „Dann soll man den Hausherrn freilassen und den Dachdecker aufhängen!“ gebot der Schah. Die Henkersknechte nahmen den Dachdecker fest und schleppten ihn zum Galgen. „Ich habe noch eine Bitte an den Schah“, jammerte der Meister. „Sprich, was willst du?“ – „O mein Gebieter, ich bin doch ohne Schuld. Schuld ist der Flechter der Schilfmatten. Er hat sie dünn und spärlich geflochten. Wären sie dichter und fester gewesen, hätten sie nicht nachgegeben, als der Dieb darauf trat.“ Der Schah ließ den Dachdecker frei und befahl, den Mann, der die Schilfmatten geflochten hatte, zu packen und zu ihm zu bringen. „Hast du die Matten geflochten?“ fragte er. „Ja, mein Gebieter.“ „Dann hängt ihn auf!“ schrie der Schah. „An allem sind seine Matten schuld!“ – „Oh, vergönnt mir ein Wort, gnädiger Gebieter!“ flehte der Handwerker. „Stets habe ich sehr gute, feste Matten geflochten. Seit kurzem hat aber mein Nachbar eine Vorliebe für Tauben. Als er sie aufsteigen ließ und sie am Himmel umherflatterten, hatte ich meine Freude daran, darum gelang mir meine Arbeit schlechter, und ich flocht spärliche, dünne Matten. Schuld ist der Taubenfreund!“
Der Schah ließ den Flechtmeister laufen und befahl, den Taubenfreund zu holen und zu hängen. „O gütiger Schah! Meine Leidenschaft ist es, Tauben zu pflegen und ihren Flug zu bewundern. Das ist doch keine Missetat. Wem kann es nützen, wenn Ihr mich hängen Lasst? Warum soll ein armer Mann getötet werden – besser Ihr ließet den Dieb hinrichten, dann könnten die Menschen ruhiger leben“, jammerte der Taubenfreund. „Eigentlich hat er recht!“ stimmte der Schah zu. „An allem ist der Dieb schuld. Sucht den Dieb und hängt ihn auf!“ Die Henkersknechte machten den Dieb ausfindig und schleppten ihn zum Galgen. Der Galgen war aber niedrig und der Dieb von hohem Wuchs. Wie sich die Henker auch abmühten, immer berührten seine Füße den Boden. Da traten die Henkersknechte vor den Schah und meldeten: „O Gebieter des Weltalls! Der Dieb ist allzu lang, seine Füße bleiben am Boden, so dass wir ihn nicht hängen können. Was wollen wir tun?“ Der Schah war empört. „Mit solchen Kleinigkeiten wagt ihr mich zu belästigen? Wenn der Dieb zu groß ist, könnt ihr da nicht auf die Landstraße gehen und einen kleineren Mann finden? Kann man denn statt eines langen Lümmels nicht ein Wichtlein hängen? Könnt ihr nicht einmal so weit denken?“ Die Henkersknechte gingen auf die Straße, wo sie einen kleingewachsenen Mann sahen, der einen Mehlsack auf der Schulter schleppte. „Das ist gerade so einer, wie der Schah verlangt hat!“ entschieden sie. „Der Befehl des Schahs muss erfüllt werden.“ Sie packten den kleinen Mann und brachten ihn zum Galgen. Der aber schrie und zeterte: „Was habe ich verbrochen? Wofür wollt ihr mich hängen?“
Gerade kam der Schah zum Galgen, um der Hinrichtung beizuwohnen. „Ich habe eine Bitte an den Schah“, schrie der kleine Mann. „Sag, worum du bittest!“ befahl ihm der Schah. „O großer Herrscher! Ich bin ein armer Mann und sammle in den Bergen Fallholz, um es in der Stadt zu verkaufen, und schleppe auch Lasten für andere Leute. Damit ernähre ich Weib und Kinder. Worin besteht meine Schuld? Warum habt Ihr befohlen, mich zu hängen?“ – „Du Dummkopf!“ beschimpfte ihn der Schah. „Woher soll ich wissen, ob du schuldig bist oder nicht? Ein Mann ist zu hängen. Ich wollte den Dieb hängen lassen, doch er ist zu groß, seine Füße reichen bis zum Boden. Du aber bist klein und taugst dazu sehr gut.“ – „Ach gütigster Herrscher!“ heulte der Unglückliche. „Schuld ist der lange Dieb. Ihr aber richtet einen vollkommen schuldlosen armen kleinen Mann! Wo ist da das Recht? Wenn der Dieb zu lang ist, dann Lasst unter dem Galgen eine kleine Grube ausheben!“ Der Schah überlegte hin und her, dann sagte er: „Das ist ein guter Vorschlag! Er hat Recht. Lasst ihn laufen und hängt den Dieb. Unter seinen Füßen grabt eine Grube!“ Wieder schleppten die Henkersknechte den Dieb zum Galgen, warfen ihm die Schlinge über und begannen unter seinen Füßen zu graben. „Schnell, schnell, sonst ist es zu spät! Hängt mich sofort auf!“ drängte der Dieb. „Warum hast du es denn mit dem Sterben so eilig?“ staunte der Schah. „O mächtiger Gebieter! Eben ist im Paradies der Schah gestorben. Er hat vor seinem Tode kundgetan: ‚Wer als erster stirbt und ins Paradies kommt, den macht zum Schah!‘ Darum beeile ich mich so. Wenn man mich sofort hängt, gelange ich dorthin und werde Schah, bevor ein anderer den Thron bestiegen hat. Hängt mich sofort auf!“ schrie der Dieb wieder.
Da wurde der Schah vom Neid gepackt. ‚Schah des Paradieses zu werden ist doch keine Kleinigkeit. Lieber will ich selbst im Jenseits Schah werden!‘ dachte er und befahl den Henkersknechten: „Lasst den Dieb laufen und hängt mich auf!“ Ein Befehl des Herrschers muss befolgt werden. So ließen sie den Dieb laufen und hängten statt seiner den dummen Schah. Damit war die Sache zu Ende.
Quelle:
(Usbekistan)