Feuerrot ging die Sonne am Himmel unter. Stille breitete sich über dem Waldsee aus, und in der Abenddämmerung suchten viele Tiere ihre Schlafplätze auf, unter ihnen auch eine Entenfamilie. Ja selbst die immerfort quakenden Frösche verhielten sich außergewöhnlich schweigsam.
Einsam schwamm Gregor, der weiße Schwan, über das Wasser, und seine Augen blickten suchend umher. Er war allein und nicht einmal die anderen Tiere, die tagsüber in seiner Nähe weilten, konnten ihn trösten. Zwei Tränen kullerten den langen Hals hinunter, als er an seine schöne Schwanenfrau und die zwei Kinder dachte, die vor drei Tagen von einem entwurzelten Baum erschlagen wurden. Gregor erinnerte sich mit Entsetzen an das schreckliche Unwetter. Wie sollte sein Leben ohne Familie weitergehen? Während die anderen Tiere längst träumten, schwamm er weiterhin auf dem See seine Runden, und nur der Mond, der mittlerweile aufgegangen war, begleitete ihn. Irgendwann in der späten Nacht legte sich Gregor endlich am Ufer nieder und versuchte zu schlafen.
Mit den ersten warmen Sonnenstrahlen wurde es auch rund um den See lebendig. Die Enten tummelten sich im kühlen Nass und putzten ihre Federn. Die Frösche stimmten ein Morgenkonzert an, und die Vögel in den hohen Bäumen trällerten ebenfalls fröhlich ihre Weisen. Etwas abseits am Ufer stand Gregor und betrachtete das bunte Treiben der Anderen. Früher war er mit seiner Familie stets unter ihnen gewesen und hatte sich gefreut, wenn die Spaziergänger, hauptsächlich Kinder, kamen und Brot mitbrachten. Das war immer wieder ein besonderer Leckerbissen für das flatternde Wasservolk. „Sollten wir den armen Gregor nicht ein wenig aufmuntern?“, fragte der Entenvater seine Gefährtin, während er zu dem Schwan hinüber schaute. „Wir könnten ihn doch fragen, ob er heute Mittag mit uns zum Schlossseefest kommen möchte. Dort trifft er ganz gewiss noch andere Schwäne, mit denen er sich unterhalten kann.“, erwiderte die Entenmutter, und freute sich, einen so guten Einfall zu haben.
Eines der Entenkinder wollte sofort zu Gregor schwimmen, um ihn zu fragen, doch der Vater hielt es mit strengem Ton zurück: „Du wirst jetzt erst frühstücken, mein Sohn. Außerdem habe ich dir schon oft gesagt, dass du nicht immer so vorlaut sein sollst.“ Gregor zog währenddessen erneut einsam seine Runden auf dem See und achtete nicht auf die anderen Tiere. Plötzlich hörte er neben sich eine bekannte Stimme: „Guten Morgen, Gregor.“ Es war der Entenvater, „Hast du Lust, mit uns zum Fest auf dem Schlosssee zu kommen?“ Gregor dachte eine Weile nach, dann meinte er: „Für eine Feier bin ich nicht in Stimmung, trotzdem danke ich für die Einladung.“
„Überlege es dir, wir ziehen los, wenn die Sonne genau über unserem See steht. Es wäre schön, wenn du mit kommst und auf andere Gedanken kämst.“ Der Entenvater schwamm wieder zu seiner Familie zurück. Gregor überlegte und entschloss sich, mitzukommen.
Der Schlosssee strahlte in der Mittagssonne, als Gregor und die anderen Tiere ankamen. Ach, was war das ein Getümmel im und um das Wasser herum. Enten und Schwäne, Flamingos, Störche, Schildkröten und Igel, Gänse, Hasen, Vögel aller Art, ja sogar Frösche. Alle stimmten nun in ein Lied ein. Gregor aber suchte sich ein kleines ruhiges Fleckchen im Wasser, wo ihn niemand störte. Von hier aus schaute er den Anderen zu. Plötzlich stieß etwas in seine Seite und er drehte den Kopf. Ein kleines Schwanenkind hatte ihn geschupst. „Warum feierst du nicht mit uns?“, fragte es zaghaft.
„Ich möchte meine Ruhe haben. Wieso versteht das nur Keiner. Und jetzt geh zu deiner Familie zurück und lass mich bitte allein.“ Gregor merkte, dass seine Stimme nicht gerade freundlich geklungen hatte, als das Schwanenkind verängstigt zu seinen Eltern zurückschwamm. Er wollte gerade das Wasser verlassen, um am Ufer eine ruhige Stelle zu finden, da vernahm er eine Stimme: „Halt! Warte doch bitte einmal!“ Gregor sah sich einem gleichgroßen Schwan gegenüber. „Was fällt dir ein, zu meinem Jungen so unfreundlich zu sein? Er hat auf unsere Bitte hin höflich gefragt, ob du mit uns feiern möchtest.“
„Es tut mir leid, dass ich ein wenig unhöflich war, aber ich habe kein Interesse an Gesellschaft.“, gab Gregor zur Antwort und betrat das Ufer. Warum ließen ihn denn nicht alle in Frieden? Nach kurzer Zeit fand er endlich einen Platz, an dem er glaubte, Ruhe zu haben. Die Bäume standen zwar nicht sehr dicht beieinander, doch hohe Büsche versperrten die Sicht zum Schlosssee. Fröhliche Stimmen drangen gedämpft zu ihm herüber, als er es sich auf dem Boden bequem machte. Er verbarg den Kopf in seinem Federkleid und wollte nur noch träumen….
Ein lauter Knall ließ Gregor aus dem Schlaf aufschrecken. Schwarze Wolken hatten den Himmel bedeckt und grelle Blitze schossen aus ihnen hervor. Die ersten Regentropfen prasselten bereits auf die Erde nieder und Gregor, der rasch Schutz zwischen den Büschen fand, bekam es mit der Angst zu tun. Wo mochten wohl die anderen Tiere sein, fragte er sich. Er zitterte, weil er plötzlich an das Unwetter denken musste, an dem er seine Familie verloren hatte. Zwischen zwei Donnerschlägen drang plötzlich ein Hilferuf an sein Ohr. Gregor lauschte. Ein zweites Mal hörte er ein Rufen, diesmal jedoch etwas näher, lauter. Er steckte seinen Kopf durch die Büsche und rief ganz laut: „Hallo!“
Da ein Blitz nach dem Anderen den Himmel erhellte, sah Gregor nicht weit von ihm entfernt die Gestalt eines Schwanenkindes. Er überlegte nicht lange und wollte dem jungen Schwan zu Hilfe eilen. Gregor hatte ihn fast erreicht, als der Blitz in den Baum dicht neben dem Kleinen einschlug, und das Splittern von Holz zu hören war. Schnell lief Gregor die letzten Schritte, packte das verängstigte Schwanenkind mit seinem Schnabel und riss es fort. Rechtzeitig genug, denn schon im nächsten Augenblick fiel ein dicker Ast genau auf die Stelle, wo kurz zuvor noch das Schwanenjunge gestanden hatte.
Sie verbrachten den Rest des Gewitters im Schutze der Büsche, bis es allmählich ruhiger wurde. Es hörte auf zu regnen, und nachdem die Sonne wieder am Himmel stand, brachte Gregor den kleinen Schwan zum See zurück, wo seine besorgten Eltern schon auf ihn warteten. Gregor erzählte kurz, was geschehen war, und die Schwaneneltern bedankten sich bei ihm. Bevor er sich auf die Suche nach der Entenfamilie machte, um mit ihnen gemeinsam den Heimweg anzutreten, sagte der Schwanenpapa zu ihm: „Wir haben von deinem großen Kummer gehört, Gregor, und möchten dich bitten, bei uns auf dem Schlosssee zu bleiben. Hier bist du nicht allein, wirst schon sehen, wie schnell du wieder fröhlich sein kannst.“
Der einsame Schwan dachte nach. Sollte er wirklich bleiben? Wenigstens für eine Weile? Zum Waldsee konnte er immer noch zurück, wenn es ihm nicht gefiel. Sein Blick fiel auf den kleinen Schwan, den er gerettet hatte. „Ich bleibe“, sagte er. „Vielleicht finde ich hier bei euch ein neues Zuhause. Einen kleinen Freund habe ich ja schon, oder?“, dabei ruhten seine Augen liebevoll auf dem Schwanenkind.
Und Gregor fand ein neues Zuhause und ein neues Glück. Als die Entenfamilie im nächsten Sommer zum Schlosssee kam, um ihn zu besuchen, stellte er ihnen seine neue Schwanenfrau vor.
Quelle: Brigitte