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Märchenbasar

Der Feenbrunnen

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Vor langer Zeit lebten tief in einem dichten, dunklen Wald drei Schwestern.
Früher hatten sie in einem Dorf am Rande des Waldes ihr Zuhause gehabt. Doch nachdem ihre Eltern an einem bösen Fieber gestorben waren, konnten sie die Steuer nicht mehr zahlen und so pfändete der Büttel kurzerhand ihr kleines Haus.
„Morgen früh komme ich zurück, und wenn ihr dann noch hier seid, nehme ich euch gleich mit. Dann könnt ihr die nächsten Jahre im Schuldturm oder mit Zwangsarbeit verbringen!“ Mit einem hässlichen Lachen schwang sich der Mann auf sein Pferd und jagte, gefolgt von seinen Soldaten, davon.
Weinend und verzweifelt gingen die Schwestern von Tür zu Tür und baten die Nachbarn um Hilfe, doch aus Angst vor dem Büttel wurden sie überall abgewiesen.
Der Morgen graute bereits, als Averil, die Älteste, zu ihren Schwestern sprach: „Hier wird uns niemand Hilfe gewähren, denn alle fürchten sich.
Also lasst uns fortgehen, vielleicht finden wir ja irgendwo Arbeit und eine Bleibe.“

So schulterten sie ihre wenige Habe und machten sich auf den Weg, doch schon kurz vor dem Dörfchen schrie Maja, die mittlere der Schwestern, auf und wies auf eine große Staubwolke, die sich schnell näherte.
Averil, welche die schärfsten Augen hatte, erkannte sofort: „Das sind der Büttel und seine Soldaten!“
Zu Tode erschrocken verließen die Schwestern den Weg, rannten über eine Wiese und durch Büsche bis zum nahen Waldrand. Doch selbst dort verweilten sie nicht, so groß war ihre Angst vor den Häschern.
Sie liefen zwischen hohen Tannen hindurch, kämpften sich durch dichtes Unterholz und blieben erst stehen, als ihre Beine vor Schwäche zitterten und sie keuchend nach Luft ringen mussten.
Nachdem sie sich ein wenig erholt hatten, schauten sie sich um. Ringsumher standen himmelhohe Bäume, deren dichte Zweige das Licht des Morgens zu einem dämmerigen Halbdunkel dämpften und weit und breit waren weder Weg noch Steg zu entdecken.
Nur ein Stück entfernt schien es etwas heller zu sein.
Langsam strebten die Mädchen dorthin, und wer beschreibt ihre Überraschung, als sie auf einer kleinen Lichtung ein Häuschen entdeckten.
Zwar hingen die Fensterläden schief in den Angeln, die Tür war morsch und auf dem moosbewachsenen Dach fehlten etliche Schindeln. Aber wenigstens versprach ihnen die Hütte ein Dach über dem Kopf.
„Seht nur!“, freute sich Yolande, die Jüngste. „Sogar ein Brunnen ist hier!“
Sie lief hinüber und lehnte sich über die steinerne Einfassung, um nach dem Wasser zu sehen.
Aber mit einem erschrockenen Aufschrei fuhr sie so heftig zurück, dass sie rücklings zu Boden fiel. Besorgt kamen ihre Schwestern herbei, halfen ihr auf und fragten, was denn geschehen sei.
„D… do… dort unten!“, stotterte Yolande und wies mit zitternder Hand auf den Brunnen.
Ein wenig ängstlich, doch voller Neugier trat Maja an den Brunnenrand und beugte sich vorsichtig nach vorn.
Zuerst sah sie nur die Steine des gemauerten Schachtes, und dann, in geringer Tiefe, die schimmernde Wasseroberfläche. Auch sie erschrak, als sie das Gesicht bemerkte, das von dort zu ihr herauf sah. Weil es aber freundlich lächelte, fasste Maja Mut und fragte: „Was tust du dort unten?“
Das Gesicht antwortete mit einer Stimme, die wie das Murmeln und Plätschern eines klaren Bächleins klang: „Ich lebe hier, zusammen mit meinen Schwestern.“
„Was für ein Zufall!“, lachte Maja. „Auch ich bin mit meinen Schwestern hier. Doch warum seid ihr dort unten?“
Da erhob sich das Gesicht aus dem Wasser und eine zarte geflügelte Gestalt schwebte aus dem Brunnen nach oben.
Hellgrüne Locken ringelten sich um die lieblichen Züge des kleinen Wesens, das ein glitzerndes Gewand trug, sich graziös auf dem Brunnenrand niederließ und sprach:
„Wir sind Feen, die Hüterinnen dieses Brunnens.“
Aufmerksam musterte die Fee die drei Mädchen.
„Es ist schon sehr lange her, dass Menschen zu uns fanden. Sagt doch, was führte euch so tief in diesen Wald?“, fragte sie dann.

Die Schwestern begannen zu erzählen, vom Tod ihrer Eltern, ihrer Armut und der Flucht vor dem erbarmungslosen Büttel.
„Wir sind gelaufen und gelaufen, bis wir nicht mehr weiterkonnten“, schluchzte Yolande schließlich, und Averil und Maja schlangen tröstend die Arme um die Jüngste.
„Ihr müsst keine Angst mehr haben.“ Die Flügel der Fee schwirrten wie die einer Libelle, als sie vom Brunnenrand zu den Mädchen flog. „Wenn ihr wollt, könnt ihr gern hier bleiben. Die Hütte muss zwar in Stand gesetzt werden, aber das schaffen wir leicht.“
„Wir?“ Ungläubig blickte Averil das zarte Wesen an, das kleiner war als ein neugeborenes Kind. „Das wird schwere Arbeit, sogar für uns.“
Doch die Fee lächelte nur geheimnisvoll und meinte: „Warte nur ab, dann wirst du es sehen.“

Die drei Mädchen waren froh, eine Bleibe gefunden zu haben und machten sich sogleich daran, die Hütte wieder bewohnbar zu machen.
Nach und nach gesellten sich auch die sechs Schwestern der Fee zu ihnen. Fröhlich lachend und plaudernd schwirrten sie umher. Averil, Maja und Yolande ging dabei die Arbeit so leicht von der Hand, dass schon bald das Dach repariert, die Fenster geputzt und der Boden der Hütte sauber gefegt war. Immer, wenn ihnen dabei irgend etwas fehlte, brachte eine der sieben Feen die benötigte Sache, seien es Schindeln, Putztücher oder ein Besen.
Als die Schwestern begannen, sich darüber zu wundern, lächelte Lyana, die Fee, welche sie als erste kennengelernt hatten, erneut und sprach: „Ich habe euch doch gesagt, das schaffen wir leicht.“
Da wussten die Mädchen, dass die Feen über magische Kräfte verfügten und diese benutzt hatten, um ihnen zu helfen. Sie dankten Lyana und ihren Schwestern von Herzen.
Dann machten sie sich auf die Suche nach etwas Essbarem. Auch hier schienen die Feen ihre Hände im Spiel zu haben, denn in dem kleinen Gärtchen hinter der Hütte wucherte nicht wie erwartet hohes Unkraut, sondern die Beete, Büsche und Bäumchen boten so viel leckeres Obst und Gemüse, dass die Schwestern von nur einem kleinen Teil davon mehr als satt wurden.
Nachdem sie gegessen hatten, wandte sich Lyana erneut an die drei.
„Ihr kennt nun unsere magischen Kräfte. Damit werden wir euch helfen, so gut wir können. Ihr müsst dafür nur eines tun. Unsere Magie erhalten wir aus dem kristallklaren Wasser des Brunnens. Haltet ihn immer sauber und rein, denn nur dann sind wir stark. Ist das Wasser verschmutzt, schwächt das unsere Kraft und macht uns krank.“
Die Schwestern versprachen, die Bitte zu erfüllen.
Mit Hilfe der Feen richteten sie die Hütte wohnlich ein und konnten sich am Abend zwar müde, aber zufrieden, in ihrem neuen Heim zur Ruhe legen.

In den nächsten Tagen arbeiteten die Mädchen unermüdlich weiter, denn sie hatten beschlossen, auch selbst etwas für ihren Lebensunterhalt zu tun.
Averil ging im Wald auf Kräutersuche. Aus Blättern, Blüten und Wurzeln braute sie kräftigende und heilende Tränke, Maja erntete Obst und Gemüse, während Yolande aus den Blumen des Waldes die schönsten, duftenden Sträuße band.
Die Feen wiesen ihnen einen Weg zu einem Städtchen, das weit entfernt von ihrem Heimatdorf am Waldrand lag. Dort verkauften sie oder tauschten ihre Güter gegen allerlei nützliche Dinge.
Dabei vergaßen sie nie, ihr Versprechen einzuhalten und pflegten den Brunnen der Feen voller Hingabe. Kein Fetzen Moos wucherte im Schacht und das Wasser glitzerte immer kristallklar.
Die Tage gingen ins Land und die Schwestern lebten mit den Feen in friedlicher Eintracht.
Regelmäßig wanderten die Drei zum Markt des kleinen Städtchens. Da Averils Tränke außergewöhnliche Wirksamkeit aufwiesen, Majas Obst und Gemüse vor schmackhafter Frische strotzte und Yolandes Sträuße und Gebinde in ihrer duftenden Schönheit ihresgleichen suchten, sprach man bald in der Umgebung von den Mädchen. Die Menschen lobten die angebotenen Dinge ebenso wie die Schönheit und das liebenswürdige, freundliche Wesen der Händlerinnen.

Doch nicht nur gute Menschen erfuhren von den drei Schwestern.
Der Büttel, immer noch wütend darüber, dass ihm die Drei entkommen waren und er sie nicht seinem Herrn zur Zwangsarbeit hatte überlassen können, kam eines Tages durch das Städtchen.
Auch er vernahm die Berichte über drei fremde Mädchen, die zum Markt kamen und außergewöhnliche Dinge verkauften. Hellhörig geworden, blieb er bis zum nächsten Markttag und beobachtete aus einem Versteck heraus die Ankunft der Händlerinnen.
Er erkannte sie sofort, konnte sie jedoch ohne seine Soldaten nicht gefangen nehmen. Geduldig wartete er, bis die Schwestern ihre Waren verkauft hatten und sich auf den Weg nach Hause machten. In einiger Entfernung, sich hinter Bäumen und Büschen verbergend, folgte er ihnen bis tief in den Wald hinein.
Endlich kamen die Schwestern zu ihrem Haus und es verwunderte den Büttel, dass sie zuerst zu dem nahe gelegenen Brunnen gingen. Staunend beobachtete er, wie auf einen Ruf Averils hin die Feen erschienen und von den Mädchen Geschenke entgegennahmen. Fröhlich lachend flogen die zarten Wesen um ihre menschlichen Freundinnen herum und beschenkten sie ihrerseits mit wie aus dem Nichts erscheinenden Bändern, Schleifen und kleinen Schmuckstücken.

„Da habe ich doch gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen“, murmelte der gierige Mann in seinen Bart. „Diese Flatterdinger können ja zaubern, und wenn ich die meinem Herrn mitbringe, wird er mich bestimmt reich belohnen.“
In Gedanken sah er sich schon mit Gold überhäuft und beschloss kurzerhand, die Feen zuerst zu fangen. Die Mädchen wären ohnehin so hilflos, dass es keine Mühe machen würde, sie später mit seinen Soldaten zu holen.

Leise schlich der Büttel tiefer in den Wald und begann mit der Vorbereitung seines bösen Planes.
Aus den Ranken von Schlingpflanzen und einem Strick, den er in seinem Bündel mit sich trug, knüpfte er ein festes Netz und beschwerte es mit einigen Steinen. Dann begab er sich zurück zur Hütte und wartete darauf, dass es dunkel wurde.
Als in der Hütte der Schwestern das Licht erloschen war, huschte der Büttel hinüber zum Brunnen und spähte vorsichtig hinein. Außer dem Blinken einiger Sterne, die sich im Wasser spiegelten, war nichts zu sehen.
‚Die Vögelchen schlafen schon‘, dachte er zufrieden. ‚So wird es ein Leichtes sein, sie aus ihrem Bett zu fischen.‘
Er ließ das Netz hinab und schwenkte es im Wasser umher. Dann zog er es nach oben, wobei er befriedigt bemerkte, dass es schwerer geworden war.
Tatsächlich entdeckte er im Mondlicht einige schlafende Feen zwischen den Maschen.
Eilig wollte er mit seiner Beute im Wald verschwinden, doch seine Gefangenen erwachten und wollten sich mit ihrem Schicksal nicht abfinden.
Zornig kreischend zerrissen sie mit gewaltiger Kraft das Netz und stürzten sich wütend auf den Büttel, wobei ihnen auch ihre Schwestern zu Hilfe kamen.
Der Mann versuchte verzweifelt, die wütenden kleinen Wesen abzuwehren, doch den ihn umschwirrenden Feen waren plötzlich scharfe Krallen und lange, spitze Zähne gewachsen, mit denen sie ihn übel zurichteten. Immer tiefer jagten sie ihn in den Wald hinein und hörten erst auf, ihn zu verfolgen, als sie sicher waren, dass er niemals den Weg zurück zum Brunnen finden würde.

Von all dem hatten die Schwestern nichts bemerkt. Frohgemut standen sie am Morgen auf und begannen wie gewohnt ihr Tagewerk.
Auch die Feen hatten ihre liebliche Gestalt wieder angenommen, und so verging die Zeit wie vorher, ohne Ängste und Sorgen, in friedlicher Gemeinsamkeit.

Der zerkratzte Büttel irrte noch eine Weile verwirrt im Wald umher. Als er irgendwann ein Dorf am Rand des Forstes erreichte, wusste er nicht mehr, woher er kam und was er eigentlich gesucht hatte. Mit Unterstützung der freundlichen Dorfbewohner richtete er sich eine kleine Kate ein und fristete sein weiteres Dasein als Gehilfe des Schmiedes.

Die Schwestern lebten weiter beim Feenbrunnen. Eines Tages aber, als sie wieder einmal in das Städtchen gingen, um dort ihre Tränke, Früchte und Blumen zu verkaufen, erblickten die zufällig anwesenden drei Söhne eines Fürsten die Schönen.

Ob sie sich verliebten, heirateten und den Feenbrunnen verließen?
Das, ihr Lieben, ist eine ganz andere Geschichte …

Quelle: Roselinde Dombach

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