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Märchenbasar

Der Geburtstag der Infantin

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Es war der Geburtstag der Infantin. Sie war just zwölf Jahre alt, und die Sonne schien hell in den Gärten des Palastes.
Obgleich sie eine richtige Prinzessin und die Infantin von Spanien war, hatte sie nur einen einzigen Geburtstag in jedem Jahr, geradeso wie die Kinder ganz armer Leute, deshalb war es natürlich für das ganze Land eine Sache von höchster Wichtigkeit, dass sie aus diesem Anlass einen wahrhaft schönen Tag habe. Und ein wahrhaft schöner Tag war es zweifellos. Die hohen, gestreiften Tulpen standen kerzengerade auf ihren Stengeln wie lange Reihen Soldaten und blickten über den Rasen herausfordernd zu den Rosen und sagten: »Wir sind jetzt genauso prächtig wie ihr.« Die purpurnen Schmetterlinge flatterten mit Goldstaub auf den Flügeln umher und besuchten der Reihe nach alle Blumen, die kleinen Eidechsen krochen aus den Rissen in der Mauer und sonnten sich in dem blendendweißen Glast, und die Granatäpfel brachen in der Hitze auf und zeigten ihre blutenden Herzen. Selbst die blassgelben Zitronen, die in solcher Überfülle an den verwitterten Spalieren und in den dämmrigen Bogengängen hingen, schienen von dem herrlichen Sonnenlicht eine lebhaftere Färbung erhalten zu haben, und die Magnolienbäume öffneten ihre großen, kugelförmigen EIfenbeinblüten und erfüllten die Luft mit einem süßen, schweren Duft.
Die kleine Prinzessin selbst spazierte mit ihren Gefährten auf der Terrasse hin und her und spielte Versteck um die steinernen Vasen und die alten, moosbewachsenen Statuen. An gewöhnlichen Tagen durfte sie nur mit Kindern ihres Ranges spielen; aber ihr Geburtstag war eine Ausnahme, und der König hatte verfügt, sie solle einladen, wen von ihren jungen Freunden sie bei sich haben wolle, dass sie sich mit ihr vergnügten. Eine stolze Anmut lag um diese schlanken spanischen Kinder mit ihren gleitenden Bewegungen, die Knaben in ihren Hüten mit großen Federn und ihren kurzen, flatternden Mänteln und die Mädchen, die die Schleppen ihrer langen Brokatgewänder rafften und ihre Augen mit riesigen Fächern in Schwarz und Silber vor der Sonne schützten. Doch die Infantin war die Anmutigste von allen und am geschmackvollsten gekleidet nach der etwas hinderlichen Mode der Zeit. Ihr Gewand war aus grauem Atlas, am Saum und an den weiten, gepufften Ärmeln reich mit Silber bestickt, und das steife Mieder war mit Reihen schöner Perlen besetzt. Zwei winzige Pantöffelchen mit blassroten Rosetten guckten, wenn sie ging, unter ihrem Kleid hervor. Blassrot und perlgrau war ihr großer Gazefächer, und in dem Haar, das wie ein Strahlenkranz aus verblichenem Gold steif um ihr blasses Gesichtchen stand, trug sie eine schöne weiße Rose.
Von einem Fenster des Palastes aus sah ihnen der traurige, schwermütige König zu. Hinter ihm stand sein Bruder, Don Pedro von Aragon, den er hasste, und sein Beichtvater der Großinquisitor von Granada, saß neben ihm. Trauriger noch als sonst war der König, denn als er auf die Infantin blickte, wie sie sich mit kindlicher Würde vor den herbeikommenden Höflingen verneigte oder hinter ihrem Fächer über die grimmige Herzogin von Albuquerque, ihre ständige Begleiterin, lachte, da musste er an die junge Königin, ihre Mutter denken, die erst vor kurzem – so schien es ihm – aus dem heiteren Frankreich gekommen und in der düsteren Pracht des spanischen Hofes dahingewelkt war; sie starb sechs Monate nach der Geburt ihres Kindes und ehe sie die Mandelbäume im Obstgarten zum zweitenmal hatte blühen sehen oder die zweite Frucht des Jahres von dem alten, knorrigen Feigenbaum gepflückt hatte, der in der Mitte des nun mit Gras überwachsenen Hofes stand. So groß war seine Liebe zu ihr gewesen, dass er nicht einmal dem Grab gestattet hatte, sie vor ihm zu verbergen. Sie wurde von einem maurischen Arzt einbalsamiert, dem zum Dank für seine Dienste das Leben gewährt wurde, das, wie die Leute sagten, wegen Ketzerei und des Verdachtes magischer Künste bereits der Inquisition verfallen war, und ihr Leichnam lag immer noch auf der mit Teppichen behangenen Bahre in der schwarzen Marmorkapelle des Palastes, so wie die Mönche sie an jenem stürmischen Märztag vor nahezu zwölf Jahren hineingetragen hatten. Einmal im Monat ging der König, in einen dunklen Mantel gehüllt und eine abgeblendete Laterne in der Hand, dorthin und kniete an ihrer Seite nieder und rief: »Mi reina! Mi reina!«, und zuweilen durchbrach er die steife Etikette, die in Spanien jede persönliche Lebensäußerung beherrscht und selbst dem Schmerz eines Königs Grenzen setzt, und griff in wildem Herzeleid nach der bleichen, juwelengeschmückten Hand und versuchte mit seinen wahnsinnigen Küssen das kalte, bemalte Gesicht zu erwecken.
An diesem Tag schien er sie wieder vor sich zu sehen, wie er sie zum erstenmal im Schloss Fontainebleau erblickt hatte, als sie erst fünfzehn Jahre alt war und er noch jünger. Bei dieser Gelegenheit waren sie in Anwesenheit des französischen Königs und des gesamten Hofes von dem päpstlichen Nuntius in aller Form einander anverlobt worden, und er war in den Escorial zurückgekehrt, wohin er eine kleine Locke gelben Haares und die Erinnerung an zwei kindliche Lippen mitnahm, die sich niederbeugten, um seine Hand zu küssen, als er in seinen Wagen stieg. Später folgten die eilig in Burgos, einem kleinen Städtchen an der Grenze zwischen den beiden Ländern, vollzogene Eheschließung und der prächtige öffentliche Einzug in Madrid mit der üblichen Feier der Hochmesse in der Kirche Nuestra Señora de Atocha und einem feierlicheren Autodafé als sonst, bei dem nahezu dreihundert Ketzer, darunter viele Engländer, dem weltlichen Arm zur Verbrennung überliefert wurden.
Wahrlich, er hatte sie wahnsinnig geliebt und, wie viele meinten, zum Verderben seines Landes, das damals wegen der Herrschaft über die Neue Welt mit England im Krieg lag. Er hatte ihr kaum jemals gestattet, ihm aus den Augen zu geraten; um ihretwillen hatte er alle ernsten Staatsgeschäfte vernachlässigt oder schien sie außer acht zu lassen, und in jener schrecklichen Blindheit, mit welcher die Leidenschaft ihre Knechte schlägt, hatte er nicht wahrgenommen, dass die sorgfältig vorbereiteten Zeremonien, mit denen er sie zu ergötzen trachtete, die sonderbare Krankheit, an der sie litt, nur verschlimmerten. Als sie starb, war er eine Zeitlang wie einer, der seiner Vernunft beraubt ist. Tatsächlich gibt es keinen Zweifel darüber, dass er in aller Form abgedankt und sich in das große Trappistenkloster in Granada zurückgezogen hätte, dessen Titularprior er bereits war, wenn er nicht Angst gehabt hätte, die kleine Infantin der Gewalt seines Bruders auszuliefern, dessen Grausamkeit selbst in Spanien berüchtigt war und der von vielen verdächtigt wurde, den Tod der Königin durch ein Paar vergifteter Handschuhe herbeigeführt zu haben, die er ihr anlässlich ihres Besuches auf seinem Schloss in Aragon geschenkt hatte. Selbst nach Ablauf der drei Jahre währenden öffentlichen Trauer, die er durch ein königliches Edikt für seinen gesamten Herrschaftsbereich angeordnet hatte, erlaubte er seinen Ministern nie, über eine neue Heirat zu sprechen, und als der Kaiser selbst zu ihm sandte und ihm die Hand der lieblichen Erzherzogin von Böhmen, seiner Nichte, zur Ehe anbot, hieß er die Gesandten ihrem Herrn sagen, der König von Spanien sei bereits mit der Trauer vermählt, und obgleich sie eine unfruchtbare Braut sei, liebe er sie mehr als die Schönheit, eine Antwort, die seiner Krone die reichen Provinzen der Niederlande kostete, die sich bald darauf auf Anstiftung des Kaisers unter der Führung einiger Fanatiker der Reformierten Kirche gegen ihn erhoben.
Sein ganzes eheliches Leben mit seihen leidenschaftlichen, glühend gefärbten Freuden und der entsetzlichen Qual seines jähen Endes schien ihm an diesem Tag wiederzukehren, als er der Infantin bei ihrem Spiel auf der Terrasse zusah. Sie hatte in ihrem Betragen bereits ganz und gar den reizenden Übermut der Königin, die gleiche eigenwillige Art, den Kopf zurückzuwerfen, den gleichen stolz geschwungenen, schönen Mund, das gleiche wundervolle Lächeln – in der Tat das vrai sourire de France -, wenn sie hin und wieder zu dem Fenster aufblickte oder den vornehmen spanischen Herren die Hand zum Kuss entgegenstreckte. Doch das schrille Gelächter der Kinder verletzte seine Ohren, und das helle, erbarmungslose Sonnenlicht verhöhnte seinen Kummer, und ein dumpfiger Geruch fremdartiger Spezereien, wie sie zum Einbalsamieren gebraucht werden, schien – oder war es nur Einbildung? – die klare Morgenluft zu verpesten. Er vergrub sein Gesicht in den Händen, und als die Infantin abermals hochblickte, waren die Vorhänge zugezogen, und der König hatte sich entfernt.
Sie zog ein Mäulchen der Enttäuschung und zuckte die Achseln. An ihrem Geburtstag hätte er doch wahrhaftig bei ihr bleiben können. Was kam es auf die dummen Staatsgeschäfte an? Oder war er zu der düsteren Kapelle gegangen, in der ständig Kerzen brannten und in die sie nie eintreten durfte? Wie töricht von ihm, da die Sonne so strahlend schien und jedermann so glücklich war! Außerdem würde er den gespielten Stierkampf versäumen, zu dem schon die Trompete erscholl, gar nicht zu reden von dem Puppenspiel und den anderen wundervollen Dingen. Ihr Onkel und der Großinquisitor waren viel gescheiter. Sie waren auf die Terrasse herausgekommen und machten ihrer Nichte Komplimente. Also warf sie ihren hübschen Kopf zurück, nahm Don Pedro bei der Hand und schritt langsam die Stufen hinab zu einem langen Zelt aus purpurner Seide, das am Ende des Gartens errichtet war, und die anderen Kinder folgten ihr in strenger Rangordnung, die mit den längsten Namen als erste.
Ein feierlicher Zug phantastisch als Toreadore gekleideter adliger Knaben kam ihr aus dem Zelt entgegen, und der junge Graf von Tierra-Nueva, ein wunderschöner Knabe von etwa vierzehn Jahren, entblößte seinen Kopf mit der ganzen Anmut eines geborenen Hidalgos und Granden von Spanien und führte sie feierlich hinein zu einem kleinen Sessel aus Gold und Elfenbein, der auf einer erhöhten Estrade über der Arena stand. Die Kinder gruppierten sich überall in der Runde, bewegten ihre großen Fächer und flüsterten miteinander, und Don Pedro und der Großinquisitor standen lachend am Eingang. Selbst die Herzogin – die Camarera mayor, wie sie genannt wurde -, ein mageres Weib mit harten Zügen und einer gelben Halskrause, sah nicht ganz so übellaunig aus wie sonst, und so etwas wie ein frostiges Lächeln flog über ihr runzliges Gesicht und zuckte um ihre dünnen, Mutlosen Lippen.
Es war zweifellos ein herrlicher Stierkampf und viel hübscher, dachte die Infantin, als der richtige Stierkampf, zu dem man sie in Sevilla geführt hatte, als der Herzog von Parma ihren Vater besuchte. Einige der Knaben parodierten auf prächtig herausgeputzten Steckenpferden und schwangen lange Wurfspieße mit bunten Fähnchen aus leuchtenden Bändern, andere gingen zu Fuß und schwenkten ihre scharlachroten Mäntel vor dem Stier und sprangen mühelos über die Barriere, wenn er sie angriff, und was den Stier selbst betraf, so glich er haargenau einem lebendigen Stier, obgleich er aus Flechtwerk und gedehnter Haut gemacht war und sich mitunter darauf versteifte, auf seinen Hinterbeinen rund um die Arena zu laufen, was sich ein lebendiger Stier nie im Traum einfallen lässt. Er lieferte auch einen herrlichen Kampf und die Kinder wurden so aufgeregt, dass sie sich von ihren Bänken erhoben und mit ihren Spitzentaschentüchern winkten und »Bravo toro! Bravo toro!« riefen, genauso verständig, als wären sie erwachsene Leute. Am Ende jedoch, nach einem verlängerten Kampf, bei dem mehrere Steckenpferde ganz und gar durchbohrt und ihre Reiter aus dem Sattel gehoben wurden, zwang der junge Graf von Tierra-Nueva den Stier in die Knie, und nachdem er von der Infantin die Erlaubnis erhalten hatte, ihm den coup de grtice zu geben, stieß er dem Tier seinen hölzernen Degen mit solcher Gewalt in den Nacken, dass sogleich der Kopf abfiel und das lachende Gesicht des kleinen Monsieur de Lorraine zum Vorschein kam, des Sohns des französischen Gesandten in Madrid.
Darauf wurde die Arena unter großem Beifall geräumt, und die toten Steckenpferde wurden von zwei maurischen Pagen in gelbschwarzen Livreen feierlich abgeschleppt, und nach einem kurzen Zwischenspiel, das ein französischer Akrobat auf dem Straffseil ausfüllte, erschienen ein paar italienische Marionetten in der halb klassischen Tragödie >Sophonisbe< auf der Bühne eines kleinen Theaters, das zu diesem Zweck aufgebaut worden war. Sie spielten so gut, und ihre Bewegungen waren so über die Maßen natürlich, dass die Augen der Infantin zum Schluss des Stückes von Tränen getrübt waren. Tatsächlich weinten einige Kinder regelrecht und mussten mit Zuckerwerk getröstet werden, und der Großinquisitor selbst war so ergriffen, dass er nicht umhin konnte, zu Don Pedro zu bemerken, es erscheine ihm ungeheuerlich, dass Geschöpfe, die einfach aus Holz und gefärbtem Wachs gemacht wären und mechanisch durch Drähte bewegt würden, so unglücklich sein und so schrecklichen Missgeschicken begegnen könnten.
Es folgte ein afrikanischer Gaukler, der einen großen, flachen mit einem roten Tuch bedeckten Korb hereintrug, und nachdem er ihn mitten in die Arena gestellt hatte, entnahm er seinem Turban eine zierliche Rohrpfeife und blies darauf Nach wenigen Augenblicken begann sich das Tuch zu bewegen, und als die Pfeife schriller und schriller wurde, streckten zwei grüngoldene Schlangen ihre seltsamen, keilförmigen Köpfe hervor und erhoben sich langsam, wobei sie sich zu der Musik hin und her wiegten, wie sich eine Pflanze im Wasser wiegt. Doch die Kinder fürchteten sich vor ihren gefleckten Hauben und den flink hervorschießenden Zungen, und es gefiel ihnen viel besser, als der Gaukler einen winzigen Orangenbaum aus dem Sand wachsen und zierliche weiße Blüten und Büschel richtiger Früchte tragen ließ, und als er den Fächer der kleinen Tochter des Grafen von Las-Torres nahm und in einen blauen Vogel verwandelte, der rund um das ganze Zelt flog und sang, da kannte ihr Entzücken und Staunen keine Grenzen. Auch das feierliche Menuett, das die kindlichen Tänzer aus der Kirche Nuestra Sefiora del Pilar vorführten, war bezaubernd. Nie zuvor hatte die Infantin diese wundervolle Zeremonie gesehen, die alljährlich im Mai vor dem Hochaltar der Jungfrau und ihr zu Ehren stattfindet; freilich hatte niemand aus der königlichen Familie Spaniens die große Kathedrale in Saragossa betreten, seit ein wahnsinniger Priester, von dem viele glaubten, er stünde im Solde Elisabeths von England, dem Prinzen von Asturien eine vergiftete Hostie zu geben versucht hatte. So hatte sie >den Tanz Unsrer Lieben Frauen<, wie er genannt wurde, nur vom Hörensagen gekannt, und es war wirklich ein schöner Anblick. Die Knaben trugen altmodische Hofgewänder aus weißem Samt, und ihre sonderbaren dreispitzigen Hüte waren mit silbernen Fransen verziert und überragt von riesigen Büschen Straußenfedern; das blendende Weiß ihrer Kostüme, als sie sich so im Sonnenlicht bewegten, wurde noch mehr hervorgehoben durch ihre dunklen Gesichter und ihr langes schwarzes Haar. Alle waren entzückt über die gemessene Würde, mit der sie sich durch die verschlungenen Figuren des Tanzes bewegten, und über die vollendete Anmut ihrer langsamen Gesten und vornehmen Verneigungen, und als sie ihre Vorführung beendet hatten und ihre großen Federhüte vor der Infantin zogen, nahm sie ihre Huldigung mit großer Höflichkeit entgegen und gelobte, für den Altar Unsrer Lieben Frau von Pilar zum Dank für das Vergnügen, das sie ihr bereitet. eine große Wachskerze zu stiften.
Dann betrat eine Truppe hübscher Ägypter – wie die Zigeuner zu jener Zeit genannt wurden – die Arena; sie setzten sich mit gekreuzten Beinen im Kreise und begannen leise auf ihren Zithern zu spielen, wobei sie den Körper nach der Melodie bewegten und mit halber Stimme ein leises, träumerisches Lied sangen. Als sie Don Pedros ansichtig wurden, warfen sie finstere Blicke auf ihn, und manchen von ihnen sah man die Furcht an, denn erst wenige Wochen zuvor hatte er zwei ihres Stammes wegen Hexerei auf dem Marktplatz von Sevilla hängen lassen; aber die hübsche Infantin, wie sie sich zurücklehnte und mit ihren großen blauen Augen über den Fächer guckte, bezauberte sie, und sie waren überzeugt, dass ein so liebliches Geschöpf wie sie niemals grausam gegen jemanden sein könne. So spielten sie weiter, sehr sanft und indem sie die Saiten der Zither nur eben mit den langen, spitzen Nägeln berührten, und ihre Köpfe sanken nieder, als fielen sie in Schlaf. Plötzlich, mit einem so geltenden Schrei, dass alle Kinder erschraken und Don Pedros Hand nach dem Achatknauf seines Dolches griff, sprangen sie auf die Füße und wirbelten wie toll in der Arena herum, ihre Tamburins schlagend und in ihrer seltsamen, gutturalen Sprache irgendein wildes Liebeslied singend. Dann, auf ein anderes Zeichen, warfen sie sich alle wieder zu Boden und lagen ganz still, das eintönige Klimpern der Zithern war der einzige Laut, der die Stille durchbrach. Nachdem sie dies mehrmals getan hatten, verschwanden sie für einen Augenblick und kehrten mit einem zottigen braunen Bären zurück, den sie an der Kette führten, und ein paar kleinen Berberaffen, die sie auf der Schulter trugen. Der Bär stand mit äußerster Würde auf dem Kopf, und die runzligen Äffchen trieben allerlei Possen mit zwei Zigeunerbuben, die ihre Lehrmeister zu sein schienen, und fochten mit winzigen Schwertern und feuerten Kanonen ab und vollführten ein regelrechtes Exerzieren, geradeso wie des Königs Leibwache. Die Zigeuner waren in der Tat ein großer Erfolg.
Der spaßigste Teil der ganzen Vormittagsunterhaltung war jedoch zweifellos das Tanzen des kleinen Zwerges. Als er, auf seinen krummen Beinen torkelnd und mit dem großen, missgestalteten Kopf wackelnd, in die Arena stolperte, brachen die Kinder in lautes Jubelgeschrei aus, und selbst die Infantin lachte so sehr, dass sich die Camarera genötigt sah, sie an folgende Tatsache zu erinnern: Wenn es auch in Spanien viele Fälle gäbe, da eine Königstochter vor ihresgleichen geweint habe, so gäbe es doch kein einziges Beispiel dafür, dass eine Prinzessin von königlichem Geblüt so vergnügt gewesen sei in Anwesenheit solcher, die ihr an Herkunft nachstünden. Doch der Zwerg war wirklich ganz unwiderstehlich, und selbst am spanischen Hofe, der von jeher dafür bekannt war, seiner Leidenschaft für das Grässliche zu frönen, hatte man nie eine so wunderliche kleine Missgeburt gesehen. Es war auch sein erstes Auftreten. Erst tags zuvor war er, als er wie wild durch den Wald lief, von zwei Adligen entdeckt worden, die zufällig mit anderen in einem entlegenen Teil des großen Korkeichenwaldes jagten, der die Stadt umgibt, und sie hatten ihn als eine Überraschung für die Infantin in den Palast gebracht, da sein Vater, ein armer Köhler, nur allzu froh war, ein so hässliches und nutzloses Kind loszuwerden. Vielleicht war das Ergötzlichste an ihm, dass er überhaupt keine Ahnung davon hatte, wie grotesk er aussah. In der Tat schien er durchaus glücklich zu sein und munterster Laune. Wenn die Kinder lachten, dann lachte er so unbefangen und fröhlich wie nur irgendeines, und am Ende jedes Tanzes verbeugte er sich vor allen auf die drolligste Weise und lächelte und nickte ihnen zu, als gehöre er wirklich zu ihnen und wäre nicht ein missgestaltes kleines Geschöpf, das die Natur in einer sonderbaren Laune erschaffen hatte, damit andere ihren Spaß an ihm hätten. Und die Infantin bezauberte ihn ganz und gar. Er konnte seine Augen nicht von ihr abwenden und schien nur für sie zu tanzen, und als sie sich am Schluss seiner Darbietung daran erinnerte, wie die vornehmen Damen des Hofes dem berühmten italienischen Sopranisten Caffarelli, den der Papst aus seiner Kapelle nach Madrid geschickt hatte, damit er durch den lieblichen Wohlklang seiner Stimme den König von seiner Schwermut heile, Blumensträuße zugeworfen hatten, und als sie aus ihrem Haar die schöne weiße Rose löste und sie ihm, halb aus Spaß, halb um die Camarera zu ärgern, mit ihrem süßesten Lächeln durch die Arena zuwarf, da nahm er die ganze Sache durchaus für Ernst und drückte die Blume an seine rauhen, dicken Lippen, legte die Hand auf sein Herz und sank vor ihr in die Knie, von einem Ohr bis zum andern grinsend und ein Funkeln der Freude in seinen blanken kleinen Augen.
Das überwältigte die Würde der Infantin so sehr, dass sie noch lange, nachdem der kleine Zwerg aus der Arena gelaufen war, weiterlachte und ihrem Onkel den Wunsch kundgab, der Tanz solle augenblicklich wiederholt werden. Die Camarera entschied jedoch, unter dem Vorwand, die Sonne brenne zu heiß, dass es besser wäre, wenn Ihre Hoheit ohne Zögern in den Palast zurückkehre, wo bereits ein herrliches Festmahl für sie bereitstünde, einschließlich eines richtigen Geburtstagskuchens mit ihren Initialen aus buntem Zucker und einem allerliebsten silbernen Fähnchen, das von der Spitze wehe. Also erhob sich die Infantin, höchst würdevoll, und nachdem sie Befehl gegeben hatte, dass der kleine Zwerg nach der Siestastunde abermals vor ihr tanzen solle, und nachdem sie dem jungen Grafen von Tierra-Nueva ihren Dank für den reizenden Empfang ausgesprochen hatte, ging sie zurück in ihre Gemächer, und die Kinder folgten ihr in der gleichen Rangordnung, in der sie eingetreten waren.
Als nun der kleine Zwerg vernahm, dass er ein zweites Mal und auf ihren ausdrücklichen Befehl vor der Infantin tanzen sollte, war er so stolz, dass er in den Garten hinauslief und in alberner Wonneverzückung die weiße Rose küsste und sich in den wunderlichsten und unbeholfensten Gebärden erging.
Die Blumen waren ganz entrüstet über seine Dreistigkeit, in ihre schöne Heimstatt einzudringen, und als sie ihn die Spazierwege auf und nieder hüpfen und auf eine so lächerliche Weise die Arme über dem Kopf schwenken sahen, konnten sie ihre Gefühle nicht länger zurückhalten.
»Er ist wahrhaftig bei weitem zu hässlich, um an einem Ort spielen zu dürfen, an dem wir uns befinden«, riefen die Tulpen.
»Er sollte Mohnsaft trinken und tausend Jahre schlafen«, sagten die großen Feuerlilien und wurden ganz hitzig und wütend.
»Er ist ein wahrer Graus!« schrie der Kaktus. »Er ist ja ganz krumm und klotzig, und sein Kopf steht in gar keinem Verhältnis zu seinen Beinen. Mich prickelt es richtig bei seinem Anblick, und wenn er mir in die Nähe kommt, werde ich ihn mit meinen Stacheln pieken.«
»Und er hat tatsächlich eine meiner besten Blüten«, rief der weiße Rosenstrauch. »Ich gab sie heute morgen selber der Infantin als Geburtstagsgeschenk, und er hat sie ihr gestohlen.« Und er rief, so laut er konnte: »Dieb, Dieb, Dieb!«
Selbst die roten Geranien, die sich sonst nicht hervortaten und dafür bekannt waren, dass sie selber eine Unmenge armer Verwandter besaßen, rümpften vor Abscheu die Nase als sie ihn sahen, und als die Veilchen sanft bemerkten, er sei zwar höchst unschön, doch das könne er nicht ändern, erwiderten sie sehr zu Recht, das sei gerade sein Hauptfehler, und es gäbe keinen Grund, warum man einen Menschen bewundern solle, weil er unheilbar sei, und tatsächlich hatten einige Veilchen selber das Gefühl, dass die Hässlichkeit des kleinen Zwerges nahezu protzig war und dass er viel besseren Geschmack bewiesen hätte, wenn er traurig oder zumindest nachdenklich aussähe, statt fröhlich umherzuhüpfen und sich auf so groteske und alberne Gebärden zu verlegen.
Was die alte Sonnenuhr betraf, die eine höchst bemerkenswerte Persönlichkeit war und die einstmals keinem Geringeren als Kaiser Karl V. die Tageszeit angegeben hatte, so war sie dermaßen bestürzt über das Äußere des kleinen Zwerges, dass sie fast zwei volle Minuten mit ihrem langen Schattenfinger anzuzeigen vergaß und nicht umhin konnte, zu dem prächtigen, milchweißen Pfau, der sich auf der Balustrade sonnte, zu bemerken, jedermann wisse, dass die Königskinder Könige wären und die Köhlerkinder Köhler, und es sei gegen alle Vernunft, zu behaupten, dem sei nicht so; eine Feststellung, mit welcher der Pfau völlig einverstanden war; und tatsächlich schrie er mit einer so lauten, misstönenden Stimme: »Gewiss, gewiss!«, dass die Goldfische, die in dem Becken des kühlen, sprühenden Springbrunnens wohnten, die Köpfe aus dem Wasser streckten und die riesigen steinernen Tritonen fragten, was in aller Welt denn nur los sei.
Aber den Vögeln gefiel er irgendwie. Sie hatten ihn oft im Wald gesehen, wenn er wie ein Kobold hinter den wirbelnden Blättern her tanzte oder in der Höhlung einer alten Eiche kauerte und seine Nüsse mit den Eichhörnchen teilte. Ihnen machte es nicht das geringste aus, dass er hässlich war. Je nun, schließlich war nicht einmal die Nachtigall, die des Nachts so süß in den Orangenhainen sang, dass sich zuweilen der Mond hernieder beugte, um zu lauschen, besonders ansehnlich, und außerdem war er so freundlich gegen sie gewesen, und in jenem schrecklich bitterkalten Winter, als keine Beeren an den Bäumen hingen und der Boden hart war wie Eisen und die Wölfe auf der Suche nach Futter bis zu den Toren der Stadt herabgekommen waren, hatte er sie niemals vergessen, sondern ihnen stets Krumen von seinem kleinen Kanten Schwarzbrot abgegeben und sein Frühstück mit ihnen geteilt, wie karg es auch sein mochte.
So umkreisten sie ihn immerfort, nur eben seine Wange im Vorbeifliegen mit den Flügeln streifend, und zwitscherten miteinander, und der kleine Zwerg freute sich so sehr, dass er ihnen unbedingt die schöne weiße Rose zeigen und ihnen erzählen musste, dass die Infantin selbst sie ihm geschenkt habe, weil sie ihn liebe.
Sie verstanden nicht ein einziges Wort von dem, was er sagte, aber das machte nichts; denn sie legten die Köpfe auf die Seite und blickten verständig drein, was gerade sogut ist, wie eine Sache verstehen, und sehr viel bequemer.
Auch die Eidechsen fassten große Zuneigung zu ihm, und als er vom Umherlaufen müde wurde und sich ins Gras niederwarf, um auszuruhen, spielten und tollten sie auf ihm herum und versuchten ihn so gut zu unterhalten, wie sie nur konnten. »Nicht jeder kann so schön sein wie eine Eidechse«, riefen sie, »das hieße zuviel erwarten. Und obgleich es absurd klingt, so etwas zu sagen, alles in allem ist er eigentlich gar nicht so hässlich, vorausgesetzt natürlich, man macht die Augen zu und sieht ihn nicht an.« Die Eidechsen waren von Natur aus höchst philosophisch und hockten oft, wenn nichts anderes zu tun oder wenn das Wetter zum Ausgehen zu regnerisch war, Stunden und Stunden beisammen und dachten nach.
Doch die Blumen waren im höchsten Grade verärgert über ihr Benehmen und über das Benehmen der Vögel. »Das beweist nur«, sagten sie, »welch eine erniedrigende Wirkung dies dauernde Umherrennen und -fliegen hat. Wohlerzogene Leute bleiben stets an genau demselben Platz, so wie wir es tun. Keiner hat uns je die Wege auf und nieder hopsen oder wie verrückt durch das Gras nach Libellen rennen sehen. Wenn wir eine Luftveränderung brauchen, schicken wir nach dem Gärtner, und er setzt uns in ein anderes Beet. Das ist würdevoll und so, wie es sein sollte. Aber Vögel und Eidechsen haben keinen Sinn für Ruhe, und die Vögel haben wahrhaftig nicht einmal eine ständige Adresse. Sie sind bloß Vagabunden wie die Zigeuner und sollten auf genau die gleiche Weise behandelt werden.« So reckten sie ihre Nasen in die Luft und blickten sehr hochmütig drein und waren sehr froh, als sie nach geraumer Zeit den Zwerg aus dem Gras krabbeln und seines Weges gehen sahen, über die Terrasse zu dem Palast.
»Man sollte ihn wirklich für den Rest seines Erdenlebens im Hause halten«, sagten sie. »Seht nur seinen buckligen Rücken und seine krummen Beine«, und sie kicherten.
Doch der kleine Zwerg wusste von all dem nichts. Ihm gefielen die Vögel und die Eidechsen über die Maßen, und die Blumen hielt er für das Wundervollste auf der ganzen Welt, ausgenommen natürlich die Infantin; aber die hatte ihm auch die schöne weiße Rose gegeben, und sie liebte ihn, und das machte einen großen Unterschied. Wie sehr wünschte er sich, er wäre mit ihr zurückgegangen! Sie hätte ihn zu ihrer Rechten befohlen und ihn angelächelt, und nie wäre er von ihrer Seite gewichen, sondern wäre ihr Spielgefährte geworden und hätte sie alle nur erdenklichen herrlichen Kunststücke gelehrt. Denn obgleich er nie zuvor in einem Palast gewesen war, kannte er eine Unmenge wundervoller Dinge. Er konnte aus Einsen kleine Käfige für die Grashüpfer machen, dass sie darin zirpten, und den langgliedrigen Bambus zu einer Pfeife schneiden, die Pan so gern hört. Er kannte den Ruf jedes Vogels und konnte die Stare aus dem Baumwipfel und den Reiher vom See herbeilocken. Er kannte die Spur jedes Tieres und konnte den Hasen nach seinen schwachen Fußabdrücken und den Keiler nach den niedergetrampelten Blättern verfolgen. Alle Tänze des Windes kannte er, den tollen Tanz in rotem Gewand mit dem Herbst, den frohen Tanz in blauen Sandalen über dem Korn, den Tanz mit weißen Schneewehen im Winter und den Blütentanz durch die Obstgärten im Frühling. Er wusste, wo die Waldtauben ihre Nester bauten, und einmal, als ein Vogelsteller die Vogeleltern gefangen hatte, zog er die jungen selber auf und baute ihnen im Riss einer gekappten Ulme einen kleinen Taubenschlag. Sie waren ganz zahm und fraßen ihm jeden Morgen aus den Händen. Sie würden ihr gefallen, und auch die Kaninchen, die in dem hohen Farn umherliefen, und die Häher mit ihren stahlblauen Federn und schwarzen Schnäbeln und die Igel, die sich zu stachligen Bällen einrollten, und die großen, weisen Schildkröten, die bedächtig umherkrochen, ihre Köpfe schüttelten und an den jungen Blättern knabberten. ja, sie musste bestimmt in den Wald kommen und mit ihm spielen. Er würde ihr sein eigenes Bettchen geben und bis zum Morgengrauen draußen vor dem Fenster wachen und aufpassen, dass ihr das wilde Hornvieh nichts zuleide tat oder dass sich die mageren Wölfe nicht zu nahe an die Hütte heranschlichen. Und wenn es dämmerte, würde er an die Fensterläden pochen und sie wecken, und sie würden hinausgehen und den ganzen Tag zusammen tanzen. Es war wirklich kein bisschen einsam im Wald. Manchmal ritt auf seinem weißen Maultier ein Bischof durch den Wald und las aus einem buntbemalten Buch. Manchmal kamen in ihren grünen Samtkappen und Wämsen aus gegerbtem Hirschleder die Falkeniere vorbei, die aufgekappten Falken auf dem Handgelenk. Zur Zeit der Weinlese kamen die Kelterer mit purpurroten Händen und Füßen, mit blankem Efeu umkränzt, und trugen tropfende Weinschläuche, und die Köhler saßen des Nachts um ihre riesigen Kohlenpfannen und beobachteten, wie die trockenen Scheite langsam im Feuer verkohlten, und rösteten Kastanien in der Asche, und die Räuber kamen aus ihren Höhlen und schmausten mit ihnen. Einmal hatte er auch eine schöne Prozession gesehen, die sich die lange staubige Straße nach Toledo hinaufwand. Voran gingen mit holdem Gesang die Mönche und trugen lichte Banner und Kreuze von Gold, und dann kamen in silberner Rüstung mit Musketen und Piken die Soldaten, und in ihrer Mitte gingen drei barfüßige Männer in seltsamen, gelben Gewändern, die über und über mit wundervollen Figuren bemalt waren, und trugen angezündete Kerzen in den Händen. Wirklich es gab im Wald eine Unmenge zu sehen, und wenn sie müde wäre, würde er ihr eine weiche Moosbank suchen oder sie auf den Armen tragen; denn er war sehr stark, wenn auch nicht groß, wie er wusste. Er würde ihr eine Halskette aus den roten Beeren der Zaunrebe machen, die wäre dann genauso hübsch wie die weißen Beeren an ihrem Kleid, und wenn sie ihrer überdrüssig war, konnte sie sie wegwerfen, und er würde ihr andere suchen. Er würde ihr Eichelnäpfe und mit Tau gefüllte Anemonen bringen und winzige Glühwürmchen als Sterne für das blasse Gold ihres Haars.
Doch wo war sie? Er fragte die weiße Rose, aber sie gab ihm keine Antwort. Der ganze Palast schien zu schlafen, und selbst wo die Läden nicht geschlossen waren, hatte man schwere Vorhänge vor die Fenster gezogen, um das blendende Licht auszuschließen. Er wanderte um den ganzen Palast und suchte nach einer Stelle, wo er hineingelangen könnte, und schließlich erblickte er eine kleine verborgene Tür, die offen stand. Er schlüpfte hindurch und sah sich in einem herrlichen Saal, viel herrlicher, fürchtete er, als der Wald; denn überall war soviel mehr Vergoldetes, und selbst der Fußboden war aus großen, bunten Steinen, die zu einer Art geometrischem Muster zusammengefügt waren. Aber die kleine Infantin war nicht da, nur ein paar wundervolle weiße Statuen, die von ihren Jaspispiedestalen mit traurigen, leeren Augen und seltsam lächelnden Lippen auf ihn nieder blickten.
Am Ende des Saales hing ein reichbestickter Vorhang aus schwarzem Samt, mit Sonnen und Sternen, den Lieblingssymbolen des Königs, besät und auf jene Farbe gestickt, die ihm die liebste war. Vielleicht verbarg sie sich dahinter? Er wollte es auf jeden Fall erforschen.
Deshalb schlich er sich leise hin und zog ihn beiseite. Nein, da war nur ein zweiter Raum, wenngleich noch hübscher, wie ihm schien, als jener, den er soeben verlassen hatte. Die Wände waren mit einem handgearbeiteten, an Bildern reichen grünen Arrazo behangen, der eine Jagd darstellte, das Werk flämischer Künstler, die mehr als sieben Jahre gebraucht hatten, es zu schaffen. Einst hatte das Gemach Jean le Fou gehört, wie er genannt wurde, jenem wahnsinnigen König, der so verliebt in die Jagd gewesen war, dass er in seiner Geistesverwirrung oft versucht hatte, die mächtigen, sich räumenden Pferde zu besteigen und den Hirsch hinabzuziehen, den die großen Hetzhunde ansprangen, wozu er sein Hifthorn blies und mit seinem Dolch nach dem matten, fliehenden Wild stach. jetzt wurde es als Beratungszimmer benutzt, und auf dem Mitteltisch lagen die roten Portefeuilles der Minister mit den in Gold geprägten Tulpen Spaniens und dem Wappen und den Emblemen des Hauses Habsburg.
Der kleine Zwerg blickte verwundert um sich und fürchtete sich fast, weiterzugehen. Die seltsamen, schweigenden Reiter, die so hurtig durch die langen Lichtungen galoppierten, ohne das mindeste Geräusch zu verursachen, erschienen ihm wie jene schrecklichen Gespenster, von denen er die Köhler hatte sprechen hören – die Comprachos, die nur des Nachts jagen, und wenn sie einem Menschen begegnen, verwandeln sie ihn in eine Hindin und hetzen ihn. Doch er dachte an die hübsche Infantin und fasste sich ein Herz. Er wollte sie finden, wenn sie allein war, und ihr sagen, dass auch er sie liebe. Vielleicht war sie in dem nächsten Zimmer.
Er lief über die weichen maurischen Teppiche und öffnete die Tür. Nein! Dort war sie auch nicht. Der Raum war ganz leer.
Es war ein Thronsaal, der zum Empfang ausländischer Gesandter benutzt wurde, wenn der König einwilligte, was in der letzten Zeit nicht oft geschehen war, ihnen eine Privataudienz zu gewähren, der gleiche Raum, in dem vor vielen Jahren Gesandte aus England erschienen waren, um Abmachungen über die Heirat ihrer Königin, die damalige zählte zu den katholischen Souveränen Europas, mit dem ältesten Sohn des Kaisers zu treffen. Die Wandbekleidung war aus vergoldetem Korduanleder, und ein schwerer vergoldeter Kronleuchter mit Armen für dreihundert Wachskerzen hing von der schwarzweißen Decke. Unter einem großen Baldachin aus Goldgewebe, auf den mit Staubperlen die Löwen und Türme von Kastilien gestickt waren, stand der Thron, mit einer kostbaren Hülle aus schwarzem Samt, die mit silbernen Tulpen besät und kunstvoll mit Silber und Perlen besetzt war. Auf der zweiten Thronstufe stand der Knieschemel der Infantin mit seinem Kissen aus Silberbrokat, und noch tiefer und abseits vom Bereich des Thronhimmels befand sich der Sessel für den päpstlichen Nuntius, der als einziger das Recht hatte, in Gegenwart des Königs bei jedem öffentlichen Zeremoniell zu sitzen, und dessen Kardinalshut mit den gedrehten scharlachroten Quasten auf einem purpurnen Taburett davor lag. An der Wand gegenüber dem Thron hing ein lebensgroßes Bild Karls V. in Jagdkleidung, mit einer riesigen Bulldogge an seiner Seite, und ein Bild Philipps II., wie er die Huldigung der Niederlande empfängt, nahm die Mitte der anderen Wand ein. Zwischen den Fenstern stand ein Schrank aus schwarzem Ebenholz mit eingelegten EIfenbeintafeln, in die Gestalten aus Holbeins Totentanz geschnitten waren – von der Hand jenes berühmten Meisters selbst, wie manche behaupteten.
Doch der kleine Zwerg kümmerte sich nicht um die ganze Herrlichkeit. Er hätte seine Rose nicht hergegeben für alle Perlen vom Thronhimmel, nicht ein weißes Blütenblatt für den Thron selbst. Was er sich wünschte, war, die Infantin zu sehen, ehe sie zu dem Zelt hinabging, und sie zu bitten, sie möge mit ihm fortgehen, wenn er seinen Tanz beendet habe. Hier im Palast war die Luft bedrückend und schwer, doch im Wald blies der Wind ungehemmt, und das Sonnenlicht schob mit unsteten Goldhänden die zitternden Blätter beiseite. Es gab auch Blumen im Wald, nicht so prächtige vielleicht wie die Blumen im Garten, aber dennoch süßer duftend: Hyazinthen im Vorfrühling, die mit wogendem Purpur die kühlen Schluchten und die grasbewachsenen Hügelkuppen überfluteten, gelbe Schlüsselblumen, die sich in kleinen Büscheln an die knorrigen Wurzeln der Eichen schmiegten, leuchtendes Schöllkraut und blauer Ehrenpreis und Iris in Lila und Gold. An den Haselbüschen hingen graue Kätzchen, und der rote Fingerhut neigte sich unter dem Gewicht seiner ständig von Bienen besuchten getüpfelten Stübchen. Die Kastanie hatte ihre Spitztürme weißer Sterne und der Weißdorn seine bleichen Monde der Schönheit. ja, bestimmt würde sie mitkommen, wenn er sie nur finden könnte! Sie würde mit ihm kommen in den schönen Wald, und den ganzen Tag würde er zu ihrer Freude tanzen. Ein Lächeln erhellte bei diesem Gedanken seine Augen, und er ging in den nächsten Raum.

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