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Der goldene Schuh

1.2
(5)
Einmal gab es viele Diener Allahs. In einem Lande lebte nun ein Waisenmädchen. An dem Tage, da sein Mütterlein der Erde anvertraut wurde, befiel nun seine Brust ein Feuer, sein Gesicht wurde aschfahl. Konnte von da an diese Waise noch lachen? Wenn sie wenigstens einen richtigen Vater gehabt hätte, der ihr Hilfe und Schutz gewährt hätte. Noch bevor die Erde über dem Grab seiner Frau trocken geworden war, überließ er sie der Stiefmutter.

Die Stiefmutter aber hatte ein Herz von Stein. Ihre eigene Tochter ließ sie keine Arbeit verrichten, aber dieser Unglücklichen ließ sie weder Ruhe noch Zeit. Sie spannt sie für alle Last an, schickt sie zu jedem steilen Weg und lässt sie schließlich mit dem Sieb aus dem Brunnen Wasser tragen. Trotzdem wird alles, was sie macht, zu einem Dorn, der der Stiefmutter in die Augen sticht. Wahrlich, das war ein Leid, das sie nicht ertragen konnte. Sie konnte das nicht mehr aushalten, und sie hätte sich längst aufgemacht und wäre davongelaufen, wenn nicht ihre gelbe Kuh und der Hahn mit Ohrringen allein und verlassen gewesen wären. Weil sie auf der Pritsche des Stalles schlief, wurde sie mit diesen beiden derart ein Herz und eine Seele, dass sie fast ihre gegenseitige Lage in ihrer Sprache erklärten. Ihr Hahn krähte jeden Morgen am Kopfende:

„Erwache, mein Waisenkind, erwache! In der Welt gibt es viel Kummer, aber auch viel Erheiterung. Die Unglückstage dauern nicht bis zum Jüngsten Tag. Auch über dich werden solch glückliche Morgen kommen, vielleicht heute schon oder morgen. Halte dein Herz rein!“

So also schien damals im Herzen des Waisenmädchens ein Hoffnungsstrahl, und es war ihm schon mal so zumute, dass es wünschte, den Hahn zu fassen und ihn ans Herz zu drücken. Die gelbe Kuh, die sie „goldiger Liebling“ nannte, wurde der Waisen, die seit der Mutterzeit nicht gelacht hatte, eine Mutter. Sie gab ihr aus der einen Brust Honig, aus der anderen Sahne zu trinken. Das Mädchen umarmte sie wie ein Kind und erzählte ihr, wie einer Mutter, all ihren Schmerz. Aus diesem Grunde gehörte die ganze Welt ihr, wenn man ihr die gelbe Kuh übergab und man sie auf die Weide schickte, um sie loszuwerden.

Eines Tages trieb sie wiederum die gelbe Kuh vor sich her und brachte sie zu einem Ort, wo Grünfutter war. Während sich die Kuh satt weidete, streckte sie sich unter einem Baum aus und begann Knäuel für Knäuel Wolle zu spinnen. Plötzlich wehte ein Wind über die Berge und trug Wolle und Knäuel fort. Das Waisenmädchen wusste nicht, was ihm zugestoßen war.

Es verhält sich ja mit der Stiefmutter so, dass sie auch rein gar nichts anerkennt.
Weiss Gott, für ein Stückchen Spinnfaden würde sie sie opfern! Wenn es sich nun um solch ein Knäuel handelt, was für einen Krach würde sie schlagen! Stellt euch das nur mal vor!
In dieser Furcht sprang sie auf wie vom Schlag getroffen und lief dem Knäuel nach.

Das Knäuel lief fort, sie lief fort; das Knäuel lief weiter, sie lief weiter. Aber weder blieb das Knäuel an einem Gestrüpp hängen, noch fing es sich an einem Baumzweig vor der Gewalt des Windes. Indem es immer weiterrollte, gelangte es in eine Hütte, und das Mädchen folgte hinterdrein.

Da sah es – was sollte es sehen! – eine weißhaarige Frau, die auf einer Matte sass
und vor sich einen Spiegel hatte. Das Mädchen verneigte sich sogleich, um ihr die Hand zu küssen. Nun aber war jener Spiegel der Weltenspiegel. Was alles das Schicksal brachte und nahm, zeigte der Spiegel klar und deutlich. Wenn man doch alles so vollständig wie diese Frau erfassen könnte!

Während das Waisenmädchen noch erklären wollte, wie es geschehen sei,
dass es vor ihre Tür gekommen war, sagte die weißhaarige Alte:
„Gib dir keine Mühe, mein Kind! Was habe ich schon alles gesehen!

Ich habe ein Kind gesehen, das seine Mutter verloren hat, und eine Mutter, die nach ihrem Kinde schreit. Ja, mein kleines Mädchen, ich weiß alles, was über dich gekommen ist und dein Herz bewegt. Der Wind hat dein Knäuel aus deiner Hand fort getragen, nicht wahr? Die guten Geister werden mit ihm die Hand und Zunge eines blinden Satans binden. Wenn du dich vor deiner Stiefmutter fürchtest,
nimm von der Wolle auf meinem Kopf, soviel du nehmen kannst. Du kannst wieder drehen und spinnen und Knäuel machen und sie vor ihr ausschütten“.

Das Waisenmädchen traute seinen Ohren nicht.

„Ach, Mütterchen, wie kannst du das sagen!

Wenn ich meinen Kopf schone und von deinem Kopf ein Haar ausreisse

was soll der liebe Gott sagen. Würden dann meine beiden Hände nicht zu Stein?

Was ich schon tue, ist meiner Stiefmutter ein Dorn im Auge. Ob ich den Wasserkrug zerbreche oder ihn fülle, das ist ein und dasselbe. Hat sie nicht immer einen Vorwand? Lass sie, wenn ich das Knäuel dem Wind gegeben habe, mich in den strömenden Bach werfen. Was macht’s schon aus, nachdem ein Tag so traurig ist wie der andere?“

Das Mädchen begann nach diesen Worten zu klagen und zu jammern, und darauf sagte die alte Frau:

„Weine nicht, Mädchen, weine nicht!

Da du dieses Juwel von Herz hast, wird es Gott, wo es traurig ist, eines Tages erfreuen. Wasche dir doch mal Gesicht und Augen!“ Sollte sie nicht ihre Hände nach ihr ausstrecken! War es Zauber, war es ein Wunder, was war es?

Aus ihren zehn Fingern begann tropfenweise ein Licht zu tropfen. Das Waisenmädchen wusste nicht, was das war. Es rieb sich in dem Gedanken, dass es vielleicht nütze, das Gesicht und die Augen. Es erhielt den Segenswunsch der weißhaarigen Alten und ging darauf zu der gelben Kuh.

Als es aber nach Hause zurückgekehrt war, brach dort ein Donnerwetter los.
Nachdem die Stiefmutter das Mädchen von Kopf bis Fuß gemustert hatte, rief sie:

„Ach, in was für Zeiten sind wir geraten! Es ist gut, dass es über uns nicht Steine regnet. Mann, schau dir an, was deine Tochter fertig gebracht hat! Ich lasse sie nicht mehr über die Schwelle treten. Schlechte Gesellschaft verdirbt gute Sitten. Meine Tochter benimmt sich tadellos im Hause.“ Sobald sie das Geschrei angestimmt hatte, wackelte der Boden. Da kam ihr Vater und sah – was sollte er sehen! -,dass sich seine Tochter völlig verändert hatte; ihre Augenbrauen waren wie Federkiele hingezogen, ihre Wimpern waren von der Schminke ganz stark geworden, ihre Lippen waren blutrot, ihre Wangen waren voll von Schönheitsmalen.

Dem Mann blieb der Verstand stehen und er rief aus:

„Du undankbares Geschöpf ! Meine Zunge sträubt sich, zu dir „Tochter“ zu sagen.
Was soll das, die rote Schminke in deinem Gesicht? Was soll das, die Schminke an deinen Augenlidern? Willst du unser Haus in schlechten Ruf bringen und unseren Namen nicht hochhalten? Von heute ab ist für dich in unserem Haus kein Platz mehr. Geh zu dem Schuft, der dich vom richtigen Weg abgebracht hat, und leg dich ihm zu Füss!“

Als das arme Mädchen so zwischen zwei Feuer geraten war, wusste es nicht, was ihm geschehen war. Sein Herz stockte und es erstarrte auf der Stelle. Seine Augen verdunkelten sich. Sobald seine so genannte Schwester ihm den Spiegel in die Hand gereicht und ihm einen Faustschlag auf den Kopf gegeben hatte, kam es wieder zu sich. Als es in den Spiegel schaute und aus seinem Gesicht und seinen Augen ein Licht fliess sah, schrieb es dieses dem Zauberspruch der alten Frau zu und rief:

„Das ist also der Grund für die Verleumdungen und Verdächtigungen. In meinem Gesicht liegt eine Entehrung, glaube ich. „

Nach diesen Worten begann die Waise traurig und betrübt zu weinen. Je mehr sie weinte, umso schöner wurde sie; je schöner sie wurde, Umso lieblicher sah sie aus.

Sie wurde wie ein Engel aus dem Paradies. Da sprach die gelbe Kuh durch Gottes Ratschluss:

„Ach, ihr grausamen Geschöpfe Gottes! Wie könnt ihr euch hinreissen lassen und böse Reden gegen dieses Waisenkind führen? In dem Mond, der aufgeht, und in der Sonne, die untergeht, gibt es dunkle Flecken, bei ihr aber nicht. Ich bin Zeuge für sie, auch der Himmel ist Zeuge für sie!“ Die anderen wussten nicht, was ihnen geschah. Ihr so genannter Vater blickte einmal nach den Augen der Kuh, einmal in das Gesicht seiner Tochter.

Darauf sprach er zu seiner Frau:

„Es stimmt ja, es gibt Verstand und Wissen. Wenn das in ihrem Gesicht Schminke und Puder wären, würden sie dann diesem Tränenfluss standhalten?“ Jetzt hatte sich der Vater getraut, einmal im Leben die Wahrheit zu sagen, aber glaubte es die Stiefmutter? Nein, sie glaubte es nicht! Sie ging zum Mädchen und schüttete ihm vierzig Kessel Wasser über den Kopf, aber weder von seinen Augenbräuen war eine Linie abgewischt, noch von seinen Schönheitsmalen ein Punkt . . .

Da biss sich die Frau auf die Zunge, indem sie zu sich selbst sprach:

„Ist sie vielleicht an irgendeine Stelle auf dem Berg oder Bergpass geraten? Wie können wir es anstellen, wie können wir es herausbekommen?“ Die Schönheit des Mädchens erregte sie immer mehr, und von jenem Tage an versuchten sie es bei ihr auf diese und jene Art, um es herauszubekommen, und stellten alles Mögliche an.

Da erfuhren sie das Geheimnis der Hütte und der Frau, die darin war. Sollten sie jetzt noch lange abwarten?

Am folgenden Tag in der Frühe übergab die Mutter ihrer eigenen Tochter die gelbe Kuh, um sie zum Weideplatz zu bringen. Gott gibt nicht nach dem Worte des Menschen, sondern gemäß seinem Herzen. Nun, die Kuh ging, das Mädchen ging, der Rauch ging, der Staub ging. So kam sie zu jenem Ort, wo Futter und Grünes war. Sie tat, als wollte sie Wolle spinnen und ein Knäuel machen, aber hatte sie jemals so etwas in ihre Hand genommen? Dabei stellte sie sich ganz ungeschickt an.

Was sollte der Wind, was sollte der strömende Bach! Sie sah, dass es so nicht ging.

Sie stand also auf, um das Knäuel selbst in die Hütte zu bringen. Sie stand zwar auf, aber bisher war sie weder über Stock noch Stein gegangen. Wie sollte sie auf- und absteigende Wege ertragen! Sie rollte, wie das Knäuel, den Berghang hinunter und blieb in ihrem Blut liegen. Mühsam schleppte sie sich zu der Hütte, aber als sie die alte Frau sah, traute sie ihren Augen nicht:

„Ach, dieses schmutzige, elende Weib soll die Frau sein, die ein lichtvolles Antlitz hat? Ihr Haar ist wie ein Spinnennetz, aus ihrem Gesicht tritt Verruchtheit hervor, sie ist eine richtige Hexe!“ Sie küsste weder ihre Hand noch ihren Kleidersaum. Mürrisch brachte sie heraus: „Hexe, was spinnst und webst du hier?“

„Nur Gott weiß, wer was ist, mein Kind. Mit was für einem Auge mich jemand ansieht, so sehe auch ich ihn an. Was mein Spinnen und Weben betrifft,

so ist es entsprechend dem Herzen und der Absicht des einzelnen. Was einer spinnt, das webe ich. Ja, ich traue mich nicht, es zu sagen.

Willst du mal, um deines Vaters willen, mein Haar und meinen Kopf anschauen, mein Kind!“

„Dein Haar und dein Kopf sind abscheulich anzuschauen, alte Hexe!“

„Willst du wenigstens mein Gesicht und meine Augen mal abwischen?“

„Dein Gesicht und deine Augen sind nicht so, dass man sie abwischen sollte, alte Hexe!“

„Ach ja, vielleicht hast du etwas davon mitbekommen, mein Kind! Komm, wasch dir mal dein Gesicht und deine Hände! “

Kaum hatte sie ihre zehn Finger ausgestreckt, wusch sie sich sogleich Gesicht und Hände – das war ja auch ihr Wunsch.

Dann trieb sie die gelbe Kuh vor sich her und kehrte nach Hause zurück, ja, sie kehrte heim.

Aber als ihre Mutter sie in ihrem Zustand gesehen hatte, erstarrte ihr Blut und alle ihre Adern stockten. Bei diesem Verhalten wurde es der Tochter seltsam zumute und sie sprach:

„Aber Mutter, was ist denn mit dir los? Was hat dir denn die Sprache verschlagen?
Warum machst du nicht den Mund auf und sagst keinen Ton?“ Auf diese Frage sagte ihre Mutter weder ja noch nein und hielt ihr nur den Spiegel vors Gesicht.
Da schaute sie hinein – was sollte sie sehen? –

Weder war an ihren Augenbrauen ein Haar, noch an den Augen eine Wimper geblieben. Als ob ein böser Geist ihr Gesicht zerkratzt hätte, so ungeheuer war es zerzaust. Das Mädchen, dem „der Sperling in der Hand lieber war als die Taube auf dem Dache“, fühlte sich an sieben Stellen von Kugeln getroffen und zerschlug den Spiegel in seiner Hand am Stein mit den Worten:

„Hast du gesehen, was mir passiert ist? Wer wird noch seinen Kopf erheben und mir ins Gesicht schauen?“ Sie begann zu jammern und zu klagen.

Darauf brach im Haus ein Donnerwetter los:

„Durch dich ist alles geschehen!“

Es gab überhaupt nichts, was man dem Waisenmädchen, das seit seiner Kindheit nicht gelacht hatte, nicht angetan hätte. Fast hätte man ihr sogar die Haut vom Leibe abgezogen. Da sprach wiederum die gelbe Kuh: „Ach, ihr ungerechten Diener Gottes! Das Waisenmädchen hat keine Schuld, Schuld hat das Mädchen, dessen Ohr nicht hört, was ihrem Mund entfloh. Es hat jener verständigen, weisen Frau gegenüber so ungehörige und böse Worte gebraucht, dass selbst den Bergen und Steinen das Herz brach. Sollte das Mädchen unbestraft bleiben für das, was es getan hat? So ist es in einen Affen verwandelt worden. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch rühmen oder mit Steinen werfen.“

Die Stiefmutter schäumte und raste vor Wut und ging auf die gelbe Kuh zu, indem sie schrie:

„Du elender Bastard, bist du der Sprache mächtig? Du bist der eigentliche Grund für alles! Wenn man dich nicht zur Weide gebracht hätte, hätte man weder Wasser auf die Mühle für jenes Mädchen gegossen, das jedem, der ihm ins Gesicht schaut, Unglück bringt, noch wäre mein eigenes goldiges Töchterlein in ein solch zerrupftes Huhn verwandelt worden. Behalte deine Milch für dich selbst! Die Schönheit soll dem Mädchen kein Glück bringen!“

Als sie sich nach diesen Worten auf den Weg zum Schlächter Hadschi machte,
umfasste das Waisenmädchen ihre Hände und den Saum ihres Gewandes und flehte:

„Wenn du die Kuh schon umbringen willst, bring mich um, aber schone doch diese gutmütige und verträgliche Kuh! Welche Kuh kann denn sprechen und reden?

Es muss doch einen geben, der sie zum Sprechen brachte. Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, mit was für einem Gesicht kannst du später vor Gott hintreten! „

So flehte sie zwar, aber die Augen der Stiefmutter füllten sich auf einmal mit Blut.

Voller Zorn schrie sie: „Du blödes Waisenkind! Bist du denn der einzige Mensch, der mir Vernunft beibringen will? Kümmere dich um deinen eigenen Kopf.

Ich will erst einmal drei Handvoll Blut von ihr trinken, dann werde ich dir zeigen, wozu ich mit dir fähig bin. “ Darauf ging sie fort.

Das Mädchen aber fiel der Kuh um den Hals und begann schluchzend zu weinen.

Viel Zeit verging nicht, da erschien der Schlächter mit den blutigen Messern vor der Tür. Aber die goldgelbe Kuh sagte weder „maa“ noch „muh“; sie hielt dem Schlächter ihren Kopf hin und überlieferte sich ihm.

Der Mann wandte sich zur Stiefmutter und sagte:

„Was wissen diese Tiere nicht alles, sogar, dass sie sterben, merken sie.
Wenn die gelbe Fliege erscheint, kommen sie auf eigenen Beinen und halten ihren Kopf hin.“

Da setzte er sein Messer an, aber es schnitt nicht. Mit den Worten „Im Namen Gottes“ setzte er es nochmals an, aber wieder schnitt es nicht. Nochmals versuchte er, aber auch diesmal schnitt es nicht. Da griff sich der Schlächter Hadschi an den Bart und rief:

„O Gott, o Gott! Mein Messer schneidet, wenn es ein Stein wäre, auch den Stein. Das ist mir ein Rätsel. Wahrhaftig, ich kann dem guten Tier jetzt nicht mehr ein Härchen krümmen.“ Darauf warf er das Messer fort. Die Stiefmutter war so ärgerlich, dass sie den Mund nicht mehr auftat. Aber von jenem Tage an gab es für sie weder Feld noch Berghang, weder Gras noch Kraut; die Kuh bekam eine Handvoll Stroh, das Mädchen eine Scheibe Brot. Auf diese Weise beabsichtigte sie beide verhungern zu lassen. Das beabsichtigte sie zwar, aber das Waisenkind ass sein Brot nicht, es benetzte es mit seinen Tränen und gab es der goldgelben Kuh; die aber mischte zu der weißen Milch Honig und Rahm und liess das Waisenkind trinken.

Inzwischen waren Monate und Jahre vergangen, aber Hass und Groll waren nicht vergangen. Was sollen wir jetzt sagen. Gott möge es auf seine Waage legen! In jenen Tagen fand in einem der großen Landhäuser eine Hochzeit statt. Es wurde zwar nicht jeder offiziell eingeladen, es war ja auch nur ein Landhaus . . .

Die Türen aber standen offen, und keiner verwehrte den Eintritt. Diejenigen, die den Tag feiern wollten, kamen in großen Scharen. Kann man bei einer solchen Hochzeit fehlen! Auch die Stiefmutter kleidete ihre Tochter, die in ein Affengesicht verwandelt war, mit den Worten an: „Meine liebe, goldige Tochter.“

Sie zog ihr die Augenbrauen mit dem Stift und schminkte ihre Augen und rief:

„Auf zum Hochzeitshaus!“ Das sagte sie zwar, aber als sie aus der Tür heraustraten, streckte sie ihren Kopf zum Stall und sagte:

„Du blödes Schaf von Mädchen! Ich führe mein Herzenskind zur Hochzeit.

Ich hole dich heute aus dem Stall, damit du auf die Tür und den Kamin aufpasst.

Wenn auch nur einer Nadel etwas passiert, stecke ich dich in ein mit Nadeln gespicktes Fas.“ So vergaß sie nicht, ihre Stieftochter einzuschüchtern. Dem Waisenkind wurde es weh ums Herz. Die Worte der Frau mit scharfer Zunge drangen ihr wie eine Kugel ins Herz. Wenn sie sich nicht beherrschen konnte,

– was sollte sie tun!

Sie umarmte die gelbe Kuh und begann unter vielen Tränen zu sprechen:

„Ach, meine liebe, goldige Kuli! Du kennst diese Menschen nicht. Die meisten Väter lassen den Schornstein rauchen, die Mutter kümmert sich um die Kinder. Gott hat die meinige genommen, er möge die der anderen nicht nehmen. Wer führt und leitet ein mutterloses Kind, wer nimmt es zur Hochzeit mit? Wenn man in die Hände einer Stiefmutter geraten ist, was kann einem da alles passieren! Wenn ihr sonst nichts einfällt, spricht sie so scharfe Worte, dass man das mit Nadeln gespickte Fas vorzieht. Wenn man schön ist, was hat man davon! Was hilft einem, wenn man auf der Welt keinen schönen Tag erlebt hat. Ach, was wäre geschehen, wenn die alte Frau das, was sie mir gegeben hat, doch der Stiefschwester gegeben hätte. Dann wären mir wenigstens diese neidischen Wutausbrüche erspart geblieben.“

Während sie so klagte und jammerte, sprach die gelbe Kuh:

„Weine nicht, mein Waisenmädchen, weine nicht! Eines Tages hat die Hand einer Baumfee meine Stirn berührt. An der Stelle, die sie berührt hat, wachsen jetzt drei Haare. Entweder ist das ein Zeichen von jener Fee oder eine glückliche Botschaft von jener alten Frau mit dem lichtvollen Antlitz. Reiß du doch eins von jenen Haaren aus und verbrenne es.

Quelle:
(türkisches Märchen)

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