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Märchenbasar

Der Haustürschlüssel

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Jeder Schlüssel hat seine Geschichte, und es gibt viele Schlüssel: Kammerherrenschlüssel, Uhrschlüssel, St.-Peters-Schlüssel; wir könnten von allen Schlüsseln erzählen, aber jetzt erzählen wir nur von dem Haustürschlüssel des Kammerrats.
Er war bei einem Schlosser zur Welt gekommen, aber er hätte gern glauben können, dass es ein Grobschmied sei, so fasste der Mann ihn an, hämmerte und feilte. Er war zu groß für die Hosentasche, darum musste er in die Rocktasche. Hier lag er oft im Dunkeln, aber übrigens hatte er einen bestimmten Platz an der Wand neben der Silhouette des Kammerrats aus der Kindheit.
Man sagt, dass jeder Mensch in seinem Charakter und seiner Handlungsweise etwas von dem Himmelszeichen mitbekommt, unter dem er geboren wird, sei es nun der Stier, die Jungfrau, der Skorpion oder wie sie alle im Kalender heißen. Die Kammerrätin nannte keins von diesen, sie sagte, ihr Mann sei unter dem „Zeichen der Schubkarre“ geboren. Immer musste er vorwärtsgeschoben werden.
Sein Vater schob ihn aufs Kontor, seine Mutter schob ihn in den Ehestand hinein, und seine Frau schob ihn zum Kammerrat hinauf, aber das sagte sie nicht, sie war eine besonnene, brave Frau, die immer zur rechten Zeit schwieg und zur rechten Zeit sprach und schob.
Jetzt war er seit Jahren „wohlproportioniert“, wie er selber sagte, ein Mann mit Bildung, Gutmütigkeit und dazu schlüsselklug, etwas, das wir näher erklären werden. Immer war er guter Laune, alle Menschen hatte er gern und mochte gern mit ihnen reden. Ging er in die Stadt, so war es schwer, ihn nach Hause zu bekommen, wenn seine Frau nicht mit war und schob. Er musste mit jedem Bekannten reden, dem er begegnete. Er hatte viele Bekannte, und darunter musste das Mittagessen leiden. Vom Fenster aus gab die Kammerrätin auf ihn acht. „Jetzt kommt er!“ sagte sie zu dem Mädchen. „Setz den Kochtopf auf! – Jetzt steht er still und spricht mit jemand, nimm den Kochtopf ab, sonst kocht das Essen zu lange! – Aber nun kommt er! Ja, dann setz den Kochtopf nur wieder auf!“.
Aber deswegen kam er doch noch nicht.
Er konnte gerade unter dem Fenster des Hauses stehen und hinaufnicken, aber dann kam ein Bekannter vorüber, dann konnte er es nicht lassen, er musste ihm ein paar Worte sagen. Kam dann, während er mit diesem sprach, ein anderer Bekannter, dann hielt er den ersten am Knopfloche fest und ergriff die Hand des andern, während er einen dritten, der vorüberwollte, anrief.
Das war eine Geduldsprobe für die Kammerrätin. „Kammerrat! Kammerrat!“ rief sie dann. Ja, der Mensch ist unter dem Zeichen der Schubkarre geboren, vorwärts kann er nicht kommen, ohne dass er geschoben wird.
Er wollte gern in Buchläden gehen, in Büchern und Zeitungen blättern, er gab seinem Buchhändler ein kleines Honorar, um zu Hause bei sich die neuen Bücher lesen zu dürfen, das heißt, um Erlaubnis zu haben, die Bücher der Lange nach aufzuschneiden, aber nicht quer, denn dann konnten Sie nicht als neu verkauft werden. Er war eine lebende Zeitung in aller Gutmütigkeit, wusste Bescheid mit Verlobungen, Hochzeiten und Begräbnissen. Büchergeschwätz, ja, er ließ geheimnisvolle Andeutungen fallen, dass er Bescheid wusste, wo niemand Bescheid wusste, das hatte er vom Haustürschlüssel.
Schon als junges Ehepaar wohnten Kammerrats in ihrem eigenen Hause, und seit der Zeit hatten sie denselben Haustürschlüssel, aber da kannten sie seine wunderbaren Kraft noch nicht, die lernten sie erst später kennen.
Es war zu König Frederiks des Sechsten Zeit. Kopenhagen hatte damals kein Gas, es hatte Tranlampen, es hatte kein Tivoli oder Kasino, keine Straßenbahnen und keine Eisenbahnen. Es gab nur wenige Vergnügungen im Vergleich zu jetzt. Des Sonntags machte man einen Spaziergang zum Tor hinaus bis nach dem Assistenzkirchhof, las die Inschriften auf den Gräbern, setzt sich ins Gras, aß aus einem Vorratskorb und trank seinen Schnaps dazu, oder man ging nach Frederiksborg, wo vor dem Schlosse die Regimentsmusik, spielte und es von Menschen wimmelte, die die königliche Familie in den kleinen, engen Kanälen umherrudern sahen; der alte König steuerte das Boot, und er und die Königin grüßten alle Menschen ohne Standesunterschied. Da hinaus kamen wohlhabende Familien aus der Stadt und tranken ihren Abendtee. Warmes Wasser konnten sie in einem kleinen Bauernhaus auf dem Felde außerhalb des Gartens bekommen, aber sie mussten selber ihre Teemaschine mitbringen.
Da hinaus zogen Kammerrats an einem sonnigen Sonntagnachmittag. Das Dienstmädchen ging voran mit der Maschine, einen Vorratskorb und einer Schnapsflasche.
„Nimm auch den Haustürschlüssel mit“, sagte die Kammerrätin, „damit wir in unser eigenes Haus hineinschlüpfen können, wenn wir zurückkommen; du weißt, die Tür wird bei Abenddämmerung geschlossen, und der Klingelzug ist seit heute morgen kaputt. – Wir kommen spät nach Hause! Wir wollen, wenn wir in Frederiksborg gewesen sind, noch in Casortis Theater auf Vesterbro gehen und die Pantomime „Harlekin, der Vorarbeiter der Drescher“ sehen. Darin kommen sie in einer Wolke herunter. Das kosten zwei Mark die Person!“
Und sie gingen nach Frederiksborg, hörten die Musik, sahen die königlichen Boote mit wehenden Fahnen, sahen den alten König und die weißen Schwäne. Nachdem sie eine gute Tasse Tee getrunken hatten, eilten sie davon, kamen aber doch nicht rechtzeitig ins Theater.
Der Seiltanz war vorüber, der Stelzenmann war vorüber, und die Pantomime hatte begonnen; sie kamen wie immer zu spät, und daran war der Kammerrat schuld; jeden Augenblick blieb er auf dem Wege stehen, um mit Bekannten zu reden; im Theater traf er auch gute Freunde, und als die Vorstellung vorbei war, mussten er und seine Frau notwendigerweise mit zu einer Familie in der Vorstadt kommen, um ein Glas Punsch zu trinken, das würde nur zehn Minuten dauern, aber aus diesen zehn Minuten wurde freilich eine ganze Stunde. Es wurde geredet und geredet. Besonders unterhaltend war ein schwedischer Baron, oder war es ein deutscher, das hatte der Kammerrat nicht genau behalten, dahingegen die Kunst mit dem Schlüssel, die er ihn lehrte, die behielt er für alle Zeiten. Es war außerordentlich interessant! Er konnte den Schlüssel dazu kriegen, auf alles zu antworten, wonach man ihn fragte, selbst auf das allergeheimste.
Der Schlüssel des Kammerrats eignete sich besonders gut dazu. Er hatte einen schweren Bart, und der musste herunterhängen. Den Griff des Schlüssels ließ der Baron auf dem Zeigefinger ruhen, frei und leicht hing er da, jeder Pulsschlag an der Fingerspitze setzte ihn in Bewegung, so dass er sich drehte, und wenn das nicht geschah, dann verstand es der Baron so ganz unmerklich, ihn sich so drehen zu lassen, wie er es wollte. Jede Drehung bedeutete einen Buchstaben von A an und das ganze Alphabet hinunter, soweit man wollte. Wenn der erste Buchstabe gefunden war, drehte sich der Schlüssel nach der entgegengesetzten Seite, darauf suchte man den nächsten Buchstaben, und so bekam man das ganze Wort, ganze Sätze, Antworten auf Fragen. Eine Lüge war das ganze, aber doch immer amüsant, das war auch eigentlich der erste Gedanke des Kammerrats, aber er ging ganz in dem Schlüsselgedanken auf.
„Mann! Mann!“ rief die Kammerrätin. „Das Westtor wird um zwölf Uhr geschlossen! Wir kommen nicht hinein, wir haben nur eine Viertelstunde, müssen uns beeilen.“
Ja, beeilen mussten sie sich; mehrere Personen, die auch in die Stadt wollten, überholten sie bald. Endlich näherten sie sich dem ersten Wachthaus, da schlug die Uhr zwölf, das Tor knallte zu; eine ganze Menge Menschen stand ausgeschlossen da, und zwischen ihnen Kammerrats mit Mädchen, Teemaschine und leerem Vorratskorb. Einige standen dort in großem Schrecken, andere voller Ärger; jeder fasste es auf seine Weise auf. Was war dabei zu machen?
Glücklicherweise war in der letzten Zeit der Beschluss gefasst worden, dass eines der Tore der Stadt, das Nordtor, nicht geschlossen werden sollte, dort konnten die Fußgänger durch das Wachthaus in die Stadt hineinkommen. Der Weg war gar nicht kurz, aber das Wetter war schön, der Himmel klar und voller Sterne und Sternschnuppen, die Frösche quakten im Graben und im Teiche. Die Gesellschaft selber fing an zu singen, ein Lied nach dem andern, aber der Kammerrat sang nicht mit, sah auch nicht nach den Sternen, ja nicht einmal auf seine eigenen Beine, er fiel, so lang er war, dicht am Grabenrand hin, man hätte glauben können, er hätte zuviel getrunken, aber es war nicht der Punsch, sondern der Schlüssel, der ihm zu Kopf gestiegen war und sich dort umdrehte.
Endlich erreichten sie das Wachthaus des vorderen Tores, gelangten über die Brücke und in die Stadt hinein.
„Jetzt bin ich wieder froh!“ sagte die Kammerrätin. „Hier ist unsere Haustür!“
„Aber wo ist denn der Haustürschlüssel?“ sagte der Kammerrat. Er war nicht in der hinteren Rocktasche, auch nicht in der Seitentasche.
„Herr du meines Lebens!“ rief die Kammerrätin. „Hast du den Schlüssel nicht? Den hast du bei den Schlüsselkünsten mit dem Baron verloren. Wie kommen wir nun hinein! Der Glockenstrang ist, wie du weißt, seit heute morgen kaputt, der Nachtwächter hat keinen Schlüssel zu unserem Hause. Wir sind ja in Verzweiflung!“
Das Dienstmädchen fing an zu heulen, der Kammerrat war der einzige, der die Fassung bewahrte.
„Wir müssen eine Fensterscheibe zum Laden des Fetthändlers einschlagen“, sagte er, „ihn wecken und dann hineinschlüpfen.“
Er schlug eine Fensterscheibe ein, er schlug zwei ein. „Petersen!“ rief er und steckte den Schaft seines Regenschirms in das Fenster hinein; da schrie drinnen die Tochter des Fetthändlers laut auf. Der Krämersmann riss die Ladentür mit dem Rufe „Nachtwächter!“ auf, und ehe er recht die Familie des Kammerrats gesehen, erkannt und hineingelassen hatte, pfiff der Wächter, und in der nächsten Straße antwortete ein anderer Wächter und pfiff. Leute kamen an den Fenstern zum Vorschein. „Wo ist das Feuer? Wo ist der Spektakel?“ fragten sie und fragten noch, als der Kammerrat schon in seiner Stube war, den Rock auszog und – da lag der Hautürschlüssel, nicht in der Tasche, sondern in dem Futter; er war durch ein Loch hineingeschlüpft, das nicht in der Tasche hätte sein sollen.
Seit dem Abend bekam der Haustürschlüssel eine besonders große Bedeutung, nicht nur, wenn man des Abends ausging,, sondern auch, wenn man zu Hause saß und der Kammerrat seine Geschicklichkeit zeigte und den Schlüssel Antwort auf die Fragen geben ließ.
Er dachte sich die wahrscheinlichste Antwort aus, und dann ließ er den Schlüssel sie geben, schließlich glaubte er selber daran; aber das tat der Apotheker nicht, er war ein junger Mann und ein naher Verwandter der Kammerrätin.
Der Apotheker war ein guter Kopf, ein kritischer Kopf, er hatte schon als Schuljunge Kritiken über Bücher und Theater geschrieben, aber ohne Nennung des Namens, das macht so viel. Er war, was man einen Schöngeist nennt, glaubte aber durchaus nicht an Geister, am allerwenigsten an Schlüsselgeister.
„Ja, ich glaube, ich glaube“, sagte er, „verehrter Herr Kammerrat, ich glaube an den Haustürschlüssel und an alle Schlüsselgeister so fest, wie ich an eine neue Wissenschaft glaube, die anfängt, von sich reden zu machen; an den Tischtanz und die Geister in alten und neuen Möbeln. Haben Sie davon gehört? Ich habe davon gehört! Ich habe gezweifelt, Sie wissen, ich bin ein Zweifler, bin aber bekehrt worden, als ich in einem ganz glaubwürdigen ausländischen Blatt eine ganz schreckliche Geschichte las. Kammerrat! Denken Sie nur, ja, ich gebe Ihnen die Geschichte wieder, wie ich sie gelesen habe. Zwei kluge Kinder hatten die Eltern den Geist in einem großen Esstisch erwecken sehen. Die Kleinen waren allein und wollten nun versuchen, auf dieselbe Weise Leben in eine alte Kommode hineinzutreiben. Das Leben kam, und der Geist erwachte, aber er duldete das Kinderkommando nicht; er erhob sich, es krachte in der Kommode, er schob die Schubladen heraus und legte mit seinen Kommodebeinen die Kinder jedes in eine Schublade, und dann lief die Kommode mit ihnen zur offenen Tür hinaus, die Treppe hinab und auf die Straße hinaus nach dem Kanal, wo sie sich hineinstürzte und die beiden Kinder ersäufte. Die kleinen Leichen kamen in christliche Erde, aber die Kommode wurde aufs Rathaus gebracht, des Kindesmordes angeklagt und bei lebendigem Leibe auf dem Markte verbrannt. Ja, das habe ich gelesen“, sagte der Apotheker, „habe es in einem ausländischen Blatt gelesen, es ist nichts, was ich selber erfunden habe. Es ist, hole mich der Schlüssel, wahr! Nun fluche ich einen schweren Fluch!“
Der Kammerrat fand, dass eine solche Rede ein zu grober Spaß sei, die beiden konnten ja doch nicht über den Schlüssel reden. Der Apotheker war schlüsseldumm.
Der Kammerrat machte Fortschritte in der Schlüsselwissenschaft, der Schlüssel war seine Unterhaltung und Weisheit.
Eines Abends, der Kammerrat war eben im Begriff, zu Bett zu gehen, er stand schon halb entkleidet, da klopfte es an die Tür nach der Diele hinaus. Es war der Fetthändler, der so spät kam; er war auch schon halb entkleidet, aber er sagte, er habe plötzlich einen Gedanken bekommen, und er sei bange, dass er ihn nicht die Nacht über behalten könne.
„Es handelt sich um meine Tochter, Lotte-Lene, ich muss von ihr reden. Sie ist ein schönes Mädchen, sie ist konfirmiert, nun wollte ich sie gern gut angebracht sehen!“
„Ich bin noch nicht Witwer“, sagte der Kammerrat lächelnd, „und ich habe keinen Sohn, den ich ihr anbieten könnte!“
„Sie verstehen mich schon, Herr Kammerrat!“ sagte der Krämersmann. „Klavierspielen kann sie, singen kann sie, das muss man ja hier oben im Hause hören können. Sie wissen nicht, worauf das Mädchen alles verfallen kann. Sie kann genauso reden und gehen wie alle Menschen. Sie ist für die Komödie geschaffen, und das ist eine gute Karriere für nette Mädchen aus guter Familie, sie können sich eine Grafschaft erheiraten, aber daran denkt Lotte-Lene nicht und ich auch nicht. Singen kann sie, Klavierspielen kann sie. Da ging ich denn neulich mit ihr nach der Singschule. Sie sang; sie hat aber nicht, was ich einen Bierbass bei Frauenzimmern nenne, keinen Kanarienvogelgesang in den höchsten Tönen, so wie man es jetzt von den Sängerinnen verlangt, und dann riet man ihr ernstlich von der Karriere ab. Nun, dachte ich, kann sie nicht Sängerin werden, so kann sie immerhin Schauspielerin werden, dazu gehört ja nur die Sprache. Heute redete ich darüber mit dem Dramaturgen, wie sie ihn nennen. „Hat sie Kenntnisse?“ fragte der. „Nein“, sagte ich, „ganz und gar nicht!“ – „Kenntnisse sind notwendig für eine Künstlerin!“ sagte er. „Die kann sie noch bekommen“, meinte ich, und dann ging ich nach Hause. „Sie kann ja in eine Leihbibliothek gehen und die Bücher lesen, die sie da haben“, dachte ich, „dann bekommt sie Kenntnisse. „Aber wie ich nun heute Abend sitze und mich ausziehe, fällt mir plötzlich ein: „wozu soll man Bücher mieten, wenn man sie sich leihen kann? Der Herr Kammerrat hat Bücher in Hülle und Fülle, die kann sie ja lesen; dann hat sie Kenntnisse genug, und das kostet nichts!“
„Lotte-Lene ist ein gutes Mädchen“, sagte der Kammerrat, „ein hübsches Mädchen! Bücher zum Lesen soll sie haben, Aber hat sie wohl das, was man Feuer des Feistes nennt, das Geniale, das Genie? Und hat sie, was hierbei ebenso wichtig ist, hat sie wohl Glück?“
„Sie hat zweimal in der Waren-Lotterie gewonnen“, sagte der Fetthändler, „Einmal hat sie einen Schrank und einmal sechs Paar Laken gewonnen, das nenne ich Glück, und das hat sie!“
„Ich will den Schlüssel mal fragen!“ sagte der Kammerrat.
Und er hängte den Schlüssel auf seinen rechten Zeigefinger und auf den rechten Zeigefinger des Kellermanns, ließ den Schlüssel sich schwingen und einen Buchstaben nach dem andern von sich geben.
Der Schlüssel sagte: „Sieg und Glück!“ und dann war Lotte-Lenes Zukunft bestimmt.
Der Kammerrat gab ihr gleich zwei Bücher: „Dyreke“ und Knigges „Umgang mit Menschen“.
Seit dem Abend begann eine Art näherer Bekanntschaft zwischen Lotte-Lene und Kammerrats. Sie kam zu der Familie hinaus, und der Kammerrat fand, dass sie ein verständiges Mädchen sei, sie glaubte an ihn und an den Schlüssel. Die Kammerrätin sah in der Freimütigkeit, womit sie jeden Augenblick ihre große Unwissenheit offenbarte, etwas Kindliches, Unschuldiges. Das Ehepaar hatte sie, jeder auf seine Weise, gern, und sie schwärmte für das Ehepaar.
„Es riecht so reizend da oben!“ sage Lotte-Lene.
Da war Geruch, ein Duft, ein Apfelduft auf der Diele, wo die Kammerrätin eine ganze Tonne Gravensteiner Äpfel hingelegt hatte. Da war auch ein Räucherduft von Rosen und Lavendel in allen Zimmern.
„Das gibt so was Feines!“ sagte Lotte-Lene. Und dann erfreuten sich ihre Augen an all den schönen Blumen, die die Kammerrätin immer hatte; ja, mitten im Winter blühten hier Syringen und Kirschenzweige. Die abgeschnittenen blätterlosen Zweige wurde ins Wasser gestellt, und in der warmen Stube trugen sie bald Blüten und Blätter.
„Man sollte glauben, dass das Leben in den nackten Zweigen erloschen sei, aber siehe nur, wie es von den Toten aufsteht.“
„Das ist mir früher noch nie eingefallen!“ sagte Lotte-Lene. „Die Natur ist doch reizend!“
Und der Kammerrat ließ sie sein Schlüsselbuch sehen, worin merkwürdige Dinge aufgeschrieben standen, die der Schlüssel gesagt hatte, selbst von einer halben Apfeltorte, die aus der Speisekammer verschwunden war, gerade an einem Abend, als das Mädchen Besuch von ihrem Bräutigam gehabt hatte. Und der Kammerrat fragte seinen Schlüssel: „Wer hat die Apfeltorte gegessen, die Katze oder der Bräutigam?“ Und der Haustürschlüssel antwortete: „Der Bräutigam!“ Der Kammerrat glaubte es schon, ehe er fragte, und das Dienstmädchen gestand; der verdammte Schlüssel wusste ja doch alles.
„Ja, ist es nicht merkwürdig?“ fragte der Kammerrat. „Dieser Schlüssel, dieser Schlüssel! Und von Lotte-Lene hat er gesagt: „Sieg und Glück!“ – Das werden wir ja noch sehen! – Ich stehe dafür ein!“
„Es ist reizend!“ sagte Lotte-Lene.
Die Frau des Kammerrats war nicht so vertrauensvoll, aber sie äußerte ihre Zweifel nicht, wenn der Mann es hörte; später aber vertraute sie Lotte-Lene, dass der Kammerrat, als er ein junger Mensch war, ganz versessen auf das Theater gewesen sei. Hätte ihn damals jemand geschoben, wäre er bestimmt Schauspieler geworden, aber die Familie schob davon weg. Auf die Bühne wollte er, und um dahin zu kommen, schrieb er eine Komödie.
„Es ist ein großes Geheimnis, das ich Ihnen anvertraue, liebe Lotte-Lene. Die Komödie war nicht schlecht, sie wurde auf dem königlichen Theater angenommen und ausgepfiffen, so dass man später nie mehr davon gehört hat, und darüber freue ich mich. Ich bin seine Frau, und ich kenne ihn. Nun wollen Sie denselben Weg gehen – ich wünsche Ihnen alles Gute, aber ich glaube nicht, dass es gehen wird, ich glaube nicht an den Haustürschlüssel!“
Lotte-Lene glaubte an ihn, uns in diesem Glauben begegnete sie dem Kammerrat.
Ihre Herzen verstanden einander in Zucht und Ehren.
Das Mädchen hatte übrigens allerlei Fähigkeiten, auf die die Kammerrätin Wert legte. Lotte-Lene verstand es, Stärke aus Kartoffeln zu machen, seidene Handschuhe aus seidenen Strümpfen zu nähen, seidene Tanzschuhe zu überziehen, obwohl sie in der Lage war, sich alles neu anzuschaffen. Sie hatte, wie der Fetthändler sagte: Schillinge in der Tischschublade und Hypotheken im Geldschrank. „Das wäre eigentlich eine Frau für den Apotheker“, dachte die Kammerrätin, aber sie sagte es nicht, ließ es auch den Schlüssel nicht sagen. Der Apotheker wollte sich bald niederlassen, seine eigene Apotheke einrichten, und zwar in einer der nächsten größeren Provinzstädte.
Lotte-Lene las noch immer „Dryveke“ und Knigges „Umgang mit Menschen“. Sie behielt die beiden Bücher zwei Jahre, aber dann konnte sie auch das eine auswendig, „Dyveke“, die sämtlichen Rollen, aber sie wollte nur in der einen in der Dyvekes, auftreten, und zwar nicht in der Hauptstadt, wo so viel Neid ist und wo sie sie nicht haben wollten. Sie wollte ihre Künstlerlaufbahn, wie der Kammerrat es nannte, in einer der größeren Provinzstädte beginnen.
Nun traf es sich ganz merkwürdig, dass es gerade in derselben Stadt war, wo der Apotheker sich als der jüngste, wenn auch nicht der einzige Apotheker niedergelassen hatte.
Der große, erwartungsvolle Abend kam, Lotte-Lene sollte auftreten, Sieg und Glück erringen, wie es der Schlüssel geweissagt hatte. Der Kammerrat war nicht da, er lag zu Bett, und die Kammerrätin pflegte ihn; warme Servietten und Kamillentee waren ihm verordnet: die Servietten um den Leib und der Tee in den Leib.
Das Ehepaar wohnte der „Dyveke“-Vorstellung nicht bei, aber der Apotheker war da, und der schrieb einen Brief darüber an seine Verwandte, die Kammerrätin.
„Der Dyveke-Kragen war das beste!“ schrieb er. „Hätte ich den Haustürschlüssel des Kammerrats in meiner Tasche gehabt, so hätte ich ihn herausgeholt und darauf gepfiffen, das hätte der Schlüssel auch verdient, der so schändlich gelogen hat: „Sieg und Glück“.
Der Kammerrat las den Brief. Das Ganze sei Bosheit, sagte er, Schlüsselhass, und darunter musste jetzt das unschuldige Mädchen leiden.
Und sobald er aus dem Bett aufstand und wieder ein Mensch war, sandte er dem Apotheker einen kleinen, aber giftspeienden Brief, und der Apotheker antwortete wieder, als ob er den Brief nur als Spaß aufgefasst habe.
Er dankte ihm dafür, wie für jeden weiteren, freundlichen Beitrag zur Erkennung des unvergleichlichen Wertes und der Bedeutung des Schlüssels; ferner vertraute er dem Kammerrat an, dass er, außer seiner Apothekerwirksamkeit, an einem großen Schlüsselroman schreibe, in dem alle handelnden Personen Schlüssel seien, einzig und allein Schlüssel. „Der Haustürschlüssel“ war natürlich die Hauptperson, und der Haustürschlüssel des Kammerrats war ihm das Vorbild, mit Wahrsagungsfähigkeit begabt; um ihn mussten sich alle die andern Schlüssel drehen: der alte Kammerherrenschlüssel, der den Glanz und die Festlichkeit des Hofes kannte; der kleine Uhrschlüssel, fein und vornehm zu vier Schilling beim Eisenkrämer; der Schlüssel zum Kirchstuhl, der sich mit zur Geistlichkeit rechnete und der, als er eine Nacht im Schlüsselloch in der Kirche sitzen geblieben war, Geister gesehen hatte; der Speisekammer-, der Holzkammer- und der Weinkellerschlüssel, sie alle treten auf, verneigen sich und drehen sich um den Haustürschlüssel. Die Sonnenstrahlen lassen ihn wie Silber schimmern, der Wind, der Weltgeist, fährt in ihn hinein, so dass er pfeift. Er ist der Schlüssel für alle Schlüssel, er war der Haustürschlüssel des Kammerrats, jetzt ist er der Schlüssel zur Himmelspforte, er ist Papstschlüssel, er ist „unfehlbar“!
„Bosheit!“ sagte der Kammerrat. „Pyramidale Bosheit!“
Er und der Apotheker sahen einander nicht mehr. Ja doch, bei dem Begräbnis der Kammerrätin. Sie starb zuerst.
Es war Trauer und Kummer im Hause. Selbst die abgeschnittenen Kirschzweige, die schon frische Blätter und Blüten angesetzt hatten, trauerten und welkten hin, sie standen vergessen, sie pflegte sie nicht mehr.
Der Kammerrat und der Apotheker gingen hinter ihrem Sarge drein, Seite an Seite, als die zwei nächsten Verwandten, hier war keine Zeit und Stimmung, sich auf Wortgefechte einzulassen.
Lotte-Lene band einen Trauerflor um den Hut des Kammerrats. Sie war längst zurückgekehrt, ohne Sieg und Glück auf der Bahn der Kunst. Aber es konnte noch kommen, Lotte-Lene hatte eine Zukunft. Der Schlüssel hatte es gesagt, und der Kammerrat hatte es gesagt.
Sie kam zu ihm hinauf. Sie sprachen von der Verstorbenen, und sie weinten. Lotte-Lene war weich, sie sprachen von der Kunst, und Lotte-Lene war stark.
„Das Theaterleben ist reizend“, sagte sie, „aber da ist so viel Neid, da sind so viele Schwierigkeiten! Ich gehe lieber meinen eigenen Weg. Erst ich selber, dann die Kunst!“
Knigge hatte die Wahrheit gesprochen in dem Kapitel von den Schauspielern, das sah sie ein, der Schlüssel hatte nicht die Wahrheit geredet, aber davon sprach sie nicht mit dem Kammerrat; sie hatte ihn lieb.
Der Haustürschlüssel war ihm übrigens während des ganzen Trauerjahres ein Trost und eine Ermunterung. Er stellte ihm Fragen, und der Schlüssel gab ihm Antworten. Und als das Jahr vergangen war und er und Lotte-Lene eines stimmungsvollen Abends beisammen saßen, fragte er den Schlüssel:
„Verheirate ich mich, und mit wem verheirate ich mich?“
Da war niemand, der ihn schob, er schob den Schlüssel, und der Schlüssel sagte: Lotte-Lene!“
Und dann war es gesagt, und Lotte-Lene wurde Kammerrätin.
„Sieg und Glück!“ Die Worte waren gesagt, schon früher vom Haustürschlüssel.

Quelle: Hans Christian Andersen

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