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Märchenbasar

Der Hirt Ans

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Bei einem reichen Gutsherrn diente der arme Ans als Hirt.
Er war ein guter Kerl. Alle im Dorf und auf dem Herrenhof mochten ihn gern wegen seines munteren Wesens, aber mehr noch, weil er so schön auf der Rohrflöte blasen konnte. Ans hatte seine Flöte aus einem einfachen Schilfhalm selbst geschnitten und trennte sich niemals von ihr. Wer Ans flöten hörte, fand das Leben leichter und fröhlicher.

Nur der Gutsherr liebte diese Lieder nicht. Er behandelte Ans grob und schrie ihn oft ,,Spielst du schon wieder deine dummen Lieder? Ich habe dich in den Dienst genommen, damit du das Vieh hütest, aber nicht, um auf der Flöte zu blasen.“ Dabei störte die Rohrflöte Ans bei seiner Arbeit überhaupt nicht.

Einmal erzürnte sich der Gutsherr wegen einer Kleinigkeit so sehr, daß er Ans aus seinem Dienst jagte. Er ließ seine Wut an dem armen sie. So, dachte er, da hast Burschen aus, nahm ihm seine Flöte weg und zerbrach du es! Wie willst du jetzt noch spielen!
Ans begann zu weinen und zog vom Herrenhof weg. Er wußte nicht wohin.
Da begegnete ihm ein altes Männchen.
,,Was ist mit dir, Bursche? Warum weinst du?“
,,Mein Herr hat mich fortgejagt und meine geliebte Flöte in lauter kleine Stücke gebrochen.“
Da sprach der Alte zu ihm: ,,Weine nicht, Ans. Komm mit mir! Ich lehre dich, wie du dich an dem Herrn rächen kannst.“

Der Alte nahm ihn zu sich, und Ans fertigte sich eine neue Flöte an, die noch besser war. Der Alte lehrte ihn, auf der Flöte so wunderbar zu blasen, daß alle Tiere des Waldes zusammenliefen, sich niederließen und der Musik lauschten.

Der Gutsherr hatte inzwischen längst Vergessen, wie sehr er den armen Ans gekränkt hatte. Denn bei einem Herrn vergeht ja kein Tag, an dem er nicht neue Launen hat.

Eines Tages rief er seine Söhne zu sich und sprach: ,,Ich habe im Traum einen wunderbaren Hasen gesehen. Er war so weiß wie Schnee, nur auf der Stirn hatte er ein schwarzes Sternchen. Einen solchen Hasen will ich mir im Garten halten.“

,,Vater, woher sollen wir dir einen solchen Hasen beschaffen?“ fragten die Söhne. Da bestand der Herr erst recht auf seiner Laune.
,,Ich will einen solchen Hasen! Wer ihn mir bringt, dem hinterlasse ich mein gesamtes Gut als Erbe.“
Die Brüder verließen den Vater, dachten nach und berieten, was zu tun sei. Der älteste Bruder ging in den Wald, um solch einen Hasen zu suchen.
Da begegnete ihm der Alte.
,,Nun, junger Bursche, wohin führt dich dein Weg?“
Der älteste Bruder erzählte ihm, weshalb er sich aufgemacht hatte. Der Alte gab ihm einen Rat: ,,Geh in den Wald, dort hütet ein junger Hirt meine Kühe. Frage ihn, vielleicht kann er dir helfen.“
Der älteste Bruder ging in den Wald, traf den Hirten Ans und erzählte ihm von seinem Vorhaben. Ans lächelte spöttisch. ,,Gut“, sagte er, „Ich helfe dir, einen solchen Hasen zu finden. Komm heute abend hierher und bring tausend Rubel mit!“
Der älteste Bruder freute sich: Tausend Rubel waren viel Geld, aber dafür würde er den gesamten väterlichen Reichtum bekommen.
Er ging abends wieder in den Wald und brachte das Geld mit. Ans saß auf einem Baumstumpf und spielte so schön auf seiner Flöte, wie es nicht einmal die herrschaftlichen Musikanten konnten. Ringsum hatten sich die Tiere des Waldes versammelt und lauschten der Musik. Unter ihnen saß auch der Hase mit dem schwarzen Sternchen auf der Stirn.
Ans nahm den Hasen an den Ohren und gab ihn dem Sohn des Herrn. ,,Nimm ihn“, sagte er, ,,aber halt ihn recht fest. Wenn du ihn aus den Händen läßt, bekommst du ihn nicht zurück!“
Der Herrensohn gab Ans das Geld, bedankte sich und ging mit dem Hasen nach Hause. Kaum hatte er den Wald verlassen, als Ans von neuem auf seiner Flöte zu spielen begann. Der Hase befreite sich, sprang in den Wald zurück und war nicht mehr zu sehen. Der Sohn des Herrn lief zu Ans zurück und sagte ,,Dein Hase ist mir durch die Hände geschlüpft und in den Wald gelaufen. Was soll ich nun tun?“
,,Das weiß ich nicht“, antwortete Ans, ,,ich habe ihn dir gegeben. Du bist selbst schuld, wenn du ihn nicht festgehalten hast.“
Der älteste Bruder kam nach Hause und erzählte, wie es ihm ergangen war.
,,Morgen werde ich gehen“, sagte der mittlere Bruder.
Es erging ihm nicht anders. Ans hatte schon zweitausend Rubel in der Tasche, aber die Herrensöhnchen kehrten mit leeren Händen aus dem Wald zurück.
Auch der dritte Bruder brachte den Hasen nicht nach Hause.
Als der Herr sah, daß seine Söhne nichts ausrichten konnten, entschloß er sich, selbst in den Wald zu gehen, um den weißen Hasen zu suchen. Ans erkannte den Herrn schon von weitem und begann auf seiner Flöte zu spielen. Im Nu kamen alle Tiere des Waldes zu ihm gelaufen. Nicht nur Hasen, sondern auch Wölfe und Bären.
Der Herr stand starr vor Schreck — er wußte nicht, wohin er sich vor den wilden Tieren retten sollte.
Da sprach Ans: ,,Erinnerst du dich, Herr, wie du mich und das übrige Gesinde gekränkt hast? Wenn ich jetzt will, stürzen sich die Tiere auf dich und zerreißen dich.“
,,Bester“, schrie der Herr, ,,nimm, was du willst! Ich gebe dir die Hälfte meines Vermögens, aber bring mich nicht um!“
,,Gut“, sagte Ans, ,,ich bin einverstanden. und vergiß nicht, daß auch die Armen es heimzahlen können.“
Aber du, Herr, denke daran und vergiß nicht, daß auch die Armen es den Herren recht gut einmal heimzahlen können.

Quelle: (Lettland)

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