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Märchenbasar

Der Jäger und die Baumprinzessin

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Es war einmal ein junger Jäger, der frei durch alle Lande zog und dem jeweiligen Herrscher seine Dienste gegen Kost und Unterkunft anbot. Und weil er sich vortrefflich auf das Waidwerk verstand, säuberte er manchen Wald von gefährlichen Tieren, und manch König oder Fürst hatte nach langer Zeit wieder einen guten Braten auf dem Tisch.

Eines Tages war der Waidmann wieder unterwegs in ein neues Königreich. Dabei durchquerte er einen großen, düsteren Wald, und als er bei Anbruch der Nacht noch immer keinen Weg nach draußen gefunden hatte, bereitete er sich sein Nachtlager unter einem hohen Baum mit mächtiger Krone. „Das dichte Blattwerk wird mich, wenn es nötig ist, selbst vor Regen und Hagel schützen“, dachte er zufrieden und war bald darauf tief und fest eingeschlafen.
Seltsame Geräusche weckten ihn um Mitternacht aus seinem Schlummer. Zunächst wusste er gar nicht, was um ihn herum geschah, als er mit einem Satz auf die Füße kam. Doch dann sah er zu seiner Verwunderung, dass der Baum unter dem er gelegen hatte, zu schrumpfen begann. Immer kleiner wurden Äste, Blätter und Stamm, und statt des Baumes stand plötzlich ein wunderschönes Mädchen mit meergrünen Augen und langen kupferroten Locken vor ihm. „Fürchte dich nicht, lieber Jäger“, sprach es ihn an. „Ich bin eine Prinzessin, und meinem Vater gehört das Königreich hinter dem düsteren Wald. Die böse grausträhnige Hexe vom Spiegelberg, der in meines Vaters Reich liegt, hat mich verzaubert, weil sie neidisch ist auf meine Jugend. Und nur eine Stunde darf ich jede Nacht meine menschliche Gestalt annehmen.“
Der Jäger, der zuerst erschrocken zurückgewichen war, verliebte sich sofort in die wunderbare Erscheinung. „Liebste Prinzessin“, sagte er, „mich dauert dein Geschick. Ich bin zwar nur ein armer Waidmann, aber ich will dir helfen. Gibt es denn keine Möglichkeit, den bösen Zauber der Hexe zu lösen?“ „Die gibt es wohl“, antwortete die Prinzessin, „jedoch begibst du dich in höchste Gefahr. Du musst den Spiegelberg finden und diesen in einem Tag hochreiten, bis du auf seine Spitze gelangst, wo die Hexe wohnt; du hast nur drei Tage Zeit und somit auch nur drei Versuche. Gelingt dir dein Vorhaben, zerbricht der ganze Berg in Scherben und die Hexe stirbt. Doch viele haben schon ihr Glück versucht und sind nicht einmal auf die Hälfte gelangt, weil die Pferde an der glatten Haut des Berges immer wieder abrutschten. Und am dritten Tag wurden sie von dem scharfkantigen Spiegel durchbohrt und mussten sterben.“

Schon war die Stunde um, und das Mädchen verwandelte sich wieder in einen Baum. Der Jägersmann aber, war fest entschlossen, seine geliebte Prinzessin vom Fluch der Hexe zu befreien und machte sich beim ersten Sonnenstrahl auf den Weg. Er fand auch bald einen Pfad aus dem Wald heraus. Es dauerte nicht lange, bis er an ein großes Stadttor gelangte. Nach scharfem Mustern ließ man ihn passieren. Auf seinem Weg zum Schloss des Königs sah er, dass die ganze Stadt mit schwarzen Tüchern verhängt war. Auch die Bewohner gingen alle in Schwarz gekleidet, und es gab nicht einen, der lächelte.
Bald war er am Schloss des Herrschers angelangt. Selbst hier herrschte nur die Farbe der Trauer. Auf sein Verlangen hin wurde er alsbald zum König geführt, der in schwarzem Gewand auf seinem Thron saß. „Was ist dein Begehr, fremder Jäger?“, fragte er, denn er sah sofort an Kleidung und Flinte, mit wem er es zu tun hatte.
„Allergnädigster Herr“, antwortete der Jäger, „ich bin gekommen, um Euch meine Hilfe anzubieten, was das Schicksal Eurer Tochter angeht. Doch sagt mir zunächst, ob alle Bewohner und die ganze Stadt aus Kummer um die Prinzessin Trauer tragen.“
Laut seufzte da der König auf. „Das furchtbare Los meiner Tochter ist schon Unglück genug, aber wenn es das nur wäre! Die Hexe hat uns noch weiteren Schrecken angetan. Ein riesiger Löwe lebt jetzt vor unserer Stadt. Jeden Morgen müssen wir ihm unsere Vorräte geben; denn tun wir es nicht, stiehlt er unsere Kinder. Jetzt haben wir seit zwei Tagen keine Vorräte mehr, und in der letzten Nacht hat er sich die drei Kinder des Stadtschäfers geholt.“
„Nun“, rief der Jäger, „dem Burschen will ich schon beikommen. Das Untier soll auf seinen Meister treffen!“

Am nächsten Morgen hörte man vor dem Tor schon das furchterregende Brüllen des Löwen, der auf seine Beute wartete. Der Jäger aber hatte sich in der Nacht noch eine Kugel aus reinem Silber gegossen und trat jetzt furchtlos vor das Tier hin. „Warte, ich habe für solch Hexenwerk die richtige Antwort parat!“, rief er; und als das Ungeheuer sein großes Maul aufriss, traf es der Schuss mitten in den geifernden Rachen. Wie ein gefällter Baum stürzte der Löwe zu Boden und war sofort tot.
Jubel und Dankesrufe schollen dem jungen Helden entgegen, als er kurz darauf ins Schloss zurückkam und der König schenkte ihm das Wertvollste aus seinem Besitz, das er sein Eigen nannte. Es waren drei Pferde aus edelstem Geblüt, ein Brauner, ein Rappe und ein Schimmel. Dazu gab er ihm die drei besten und wertvollsten Rüstungen, die je ein Hofschmied gearbeitet hatte. Eine war aus Bronze, eine aus Silber und eine aus purem Gold.

Frisch und ausgeruht trat der junge Mann am folgenden Morgen vor den König hin und sagte: „Euer Hochwohlgeboren, ich will mich nun auf den Weg zur Hexe machen, um Eure Tochter aus ihren Klauen zu befreien. Also sagt mir an, wie ich auf kürzestem Wege zum Spiegelberg komme.“ „Ach, lieber Jüngling, wenn dir das gelänge“, rief der Herrscher, „mein halbes Königreich möchte ich dir geben und die Hand meiner Tochter noch dazu. Schon viele Tapfere haben bei diesem gefährlichen Wagnis ihr Leben gelassen, und ich habe nur wenig Hoffnung. Mein edelster Knappe soll dir bei diesem Ritt auf Leben und Tod zur Seite stehen, denn er kennt den Weg zum Spiegelberg genau.“
Der Knappe eilte herbei, und der Waidmann zog die bronzene Rüstung an und bestieg das braune Pferd. Bald darauf waren sie beim Spiegelberg angekommen, der glashart und schimmernd vor ihnen lag. Der Jäger begann gegen den Berg anzureiten. Mal um Mal trieb er den Braunen auf die Spiegelflächen, aber immer wieder rutschte das Pferd mit seinen Hufen ab. Es konnte keinen Halt finden, obwohl es ein außergewöhnlich starkes Tier war. Bis zum Tagesende war es dem Jäger einmal gelungen, ein Drittel des Berges zu erklimmen, dann waren Ross und Reiter so erschöpft, dass der Knappe beide zum Schloss zurückbrachte.

Am zweiten Tag wählte der Jüngling das schwarze Pferd und die silberne Rüstung und machte sich mit dem Knappen wieder auf den Weg. Der feurige Rappe scharrte übermütig mit den Hufen, und die silberne Rüstung glänzte wie der Mondschein selbst.
Diesmal sah ihn die Hexe von weitem kommen und verengte ihre roten Augen vor dem Glanz der Rüstung zu Schlitzen. Sie wusste, dass sich der Jäger unter ihr verbarg, der ihren Löwen getötet hatte und blickte voller Hass auf die Ankömmlinge. „Der Glanz der Rüstung trübt die Kraft meiner Augen“, krächzte sie ärgerlich vor sich hin. „Dabei hängt die eisige Glätte und Härte meiner Spiegel von ihnen ab. Aber du, elender Jüngling, wirst meine Kraft nicht brechen können.“ Ihre Augen wurden rotglühend, als sie ihre ganze Macht in die Spiegel sandte.
Der Jägersmann ritt unterdessen unverdrossen gegen den Berg an. Der Rappe gehorchte jedem Zügeldruck und fand tatsächlich einzelne Tritte auf den Spiegelflächen. Dennoch gelang es ihm bis zum Abend, nur die Hälfte des Berges zu erklimmen und der Knappe führte Reiter und Pferd unverrichteter Dinge zurück zum König.

Der dritte und entscheidende Tag brach an, und der Jäger ließ diesmal das weiße Pferd und die goldene Rüstung bringen. Einen so mächtigen und stolzen Schimmel gab es wohl kein zweites Mal auf der Welt. Feurige Funken sprangen aus seinen Hufen, sobald er sich bewegte, und auf seinem starken Rücken hätten wohl zwei Männer bequem Platz gefunden. Auffordernd hob das prächtige Ross den Kopf, blähte die Nüstern und stieß ein helles Wiehern aus.
Der Jäger legte nun die goldene Rüstung an, die so strahlte, dass selbst die Sonne ein wenig von ihrem Glanz einbüßte.
Die Hexe hatte die beiden Reiter lange erspäht, als sie auf ihren Berg zuritten. Der Glanz der goldenen Rüstung stach ihr jedoch so in die Augen, dass sie sich abwenden musste und vor Entsetzen und Schmerz laut kreischte.
Am Fuße des Spiegelbergs ermunterte der Jäger seinen Schimmel: „Nimm alle Kraft zusammen, mein edles Pferd!“, rief er. „Bezwing den Berg mit deinen mächtigen Hufen, denn heute geht es um Leben und Tod. Trage mich nun hoch auf die Spitze des Spiegelbergs!“

Der Schimmel hatte seinem Reiter genau zugehört. Er begann in großen Sätzen, den Berg zu erklimmen. Es war kaum zu glauben; immer wieder fanden seine starken Hufe festen Halt auf den Spiegeln, so dass es seinen „goldenen Reiter“ ohne Aufenthalt bis auf die Spitze des Berges trug. Als die Hexe jetzt aus nächster Nähe auf die Rüstung blicken musste, wurde sie von deren glänzenden Strahlen in tausend Stücke gerissen.
Im selben Moment zerbarsten und zersplitterten auch die Spiegel, die den Berg eingeschlossen hatten. Wiesen, Bäume und Pflanzen kamen wieder zum Vorschein. Der Zauberfluch der Hexe war auf alle Zeit gebrochen und die Prinzessin befreit.

Einige Tage später klangen Fanfaren und Posaunen durch das ganze Land. Die Stadt war nun mit purpurrotem Samt und goldenen Tüchern geschmückt, denn der Jäger und die Prinzessin feierten ihre Vermählung. Und als Morgengabe erhielten sie, wie versprochen, noch das halbe Königreich.

Quelle: nicht angegeben

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