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In Crastes lebte einst ein junger Mann, der weder Vater noch Mutter hatte und allein in seinem Häuslein wohnte. Dieser junge Mann war schön wie der Tag und stark und kühn wie sonst keiner. Er war ferner so schlau, so schlau, daß er die schwierigsten Dinge erlernte und durchschaute. Die Leute von Crastes sagten oft im Scherz zu ihm: »Junger Mann, du bist arm wie die Steine. Aber es steht bei dir, dein Glück zu versuchen und so reich zu werden wie das Meer. Droben im Gebirge ist eine Höhle voll Gold, gehütet von einer großen Bestie mit einem Menschenkopf. Sie hat dem, der ihr drei Fragen beantwortet, die Hälfte ihres Goldes versprochen. Mehr als hundert Leute sind schon dort gewesen. Aber sie sind stumm geblieben und die große Bestie mit dem Menschenkopf hat sie lebendig aufgefressen. Sieh zu, daß du dein Glück machst!« Der Jüngling antwortete: »Danke, ich habe keine Lust, lebendig aufgefressen zu werden!«
In dieser Zeit lebte in Schloß Roquefort ein Edelmann, der zwei Söhne hatte und eine Tochter, die war treu wie das Gold und schön wie der Tag. Der junge Mann erblickte sie. Auf der Stelle verliebte er sich kopflos in sie. Eines Abends klopfte er an das Tor von Schloß Roquefort. »Guten Abend, Fräulein!« »Guten Abend, mein Freund! Was wünschest du?« »Fräulein, ich wünsche Euren Vater!« »Mein Vater ist heute früh mit meinen beiden Brüdern auf die Jagd gegangen. Er ist noch nicht zurückgekehrt. Was willst du meinem Vater sagen?« »Fräulein, ich will ihm sagen, daß ich kopflos in Euch verliebt bin und daß ich Euch zur Frau begehre.« »Mein Freund, ich werde deine Frau werden oder mich niemals verheiraten. Unglücklicherweise ist mein Vater nicht begütert. All sein Besitz wird auf meine Brüder übergehen. Morgen trete ich in ein Kloster in Auch ein.« »Fräulein, tretet in ein Kloster in Auch ein. Aber bindet Euch nicht vor Ablauf von sieben Tagen. Ich will mein Glück versuchen. Wenn ich sterbe, so nehmt den schwarzen Schleier und werdet Nonne für immer. Wenn ich wiederkomme, so werde ich genug haben, um Euch reicher zu machen als die größten Damen des Landes.« »Mein Freund, ich werde tun, wie du gesagt hast.« »Lebt wohl, Fräulein; ich gehe zufriedenen Herzens.« »Leb wohl, mein Freund!«
Der Jüngling verabschiedete sich von dem Fräulein und suchte unverzüglich den Erzbischof von Auch auf. »Guten Abend, Erzbischof von Auch!« »Guten Abend, mein Freund! Was steht dir zu Diensten?« »Erzbischof von Auch, ich bin in ein Fräulein verliebt, das schön ist wie der Tag und treu wie das Gold. Niemals wird sie meine Frau werden, wenn ich nicht alsbald reich werde. Ich will mein Glück versuchen. Ehe ich gehe, möchte ich Euch um Rat fragen.« »Rede, mein Freund!« »Erzbischof von Auch, Ihr seid ein weiser und gelehrter Mann. Man sagt, da droben im Gebirge sei eine Höhle voll Gold, gehütet von einer großen Bestie mit einem Menschenkopf. Sie hat dem, der ihr drei Fragen beantwortet, die Hälfte ihres Goldes versprochen. Mehr als hundert Leute sind schon dort gewesen. Aber sie sind stumm geblieben und die große Bestie mit dem Menschenkopfe hat sie lebendig aufgefressen.« »Mein Freund, man hat dir die Wahrheit gesagt.« »Erzbischof von Auch, ich will mein Glück versuchen. Noch diese Nacht wandere ich ins Gebirge, suche die große Bestie mit dem Menschenkopf in ihrer Höhle auf und beantworte ihre drei Fragen. Wenn ich stumm bleibe, wird sie mich lebendig auffressen. Wenn ich antworte, wird mir die große Bestie mit dem Menschenkopf die Hälfte ihres Goldes geben und ich werde das Fräulein heiraten, das ich liebe.« »Mein Freund, du bist verliebt. Nichts wird dich hindern zu tun, wie du sagst. Handle also nach deinem Kopf, da dir kein Ratschlag nützen kann. Über die große Bestie mit dem Menschenkopf hat man dir gesagt, was man weiß, aber das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Bevor die große Bestie mit dem Menschenkopf die Leute dreimal fragt, trägt sie ihnen drei unmögliche Dinge auf. Kümmere dich nicht darum. Beweise, daß sie unmöglich sind. Was die drei Fragen anlangt, so ist das eine andere Sache. Du wirst lebendig aufgefressen werden, wenn du stumm bleibst. Höre gut zu! Versteh sie recht! Antworte ohne Überstürzung! Wenn du richtig antwortest, wird die große Bestie mit dem Menschenkopf ihre Macht verlieren und zu dir sagen: ‚Nimm die Hälfte meines Goldes!‘ Nimm sie und kehre eilends um, wenn du dich außerstande glaubst, mehr zu unternehmen. Wenn du dich aber für hinreichend schlau hältst, so bleib und sprich: ‚Große Bestie mit dem Menschenkopf, ich habe erst die Hälfte meiner Arbeit verrichtet. Du hast mich nicht aus der Fassung bringen können. Jetzt ist die Reihe an mir, deine Stelle einzunehmen.‘ Dann wirst du drei Fragen an sie richten, die schwersten, die du dir ausdenken kannst. Bleibt sie stumm, so wirst du dieses goldene Messer nehmen, welches du unter deinen Kleidern verbergen mußt, um es erst im rechten Augenblick hervorzuziehen. Du wirst die große Bestie mit dem Menschenkopf abschlachten, dann wirst du ihr den Kopf abschneiden und schleunigst mit ihrem ganzen Gold heimkehren.« »Danke, Erzbischof von Auch!«
Der Jüngling verbarg das goldene Messer unter seinen Kleidern, um es erst im rechten Augenblick hervorzuziehen, verabschiedete sich vom Erzbischof von Auch und ging noch in derselbigen Nacht ins Gebirge auf die Suche nach der großen Bestie mit dem Menschenkopfe. Drei Tage später kam er in eine wüste Gegend, in ein wildes und dunkles Land, wo die Wasser tausend Klafter tief herabstürzten, wo die Berge so hoch, so hoch sind, daß die Vögel nicht hinauffliegen können und daß der Schnee darauf niemals schmilzt. Dort hauste die große Bestie mit dem Menschenkopfe. Der junge Mann trat ohne Angst und Schrecken in die Höhle. »Ho! Große Bestie mit dem Menschenkopfe! Ho! Ho! Ho!« »Was willst du von mir?« »Große Bestie mit dem Menschenkopf, ich will deine drei Fragen beantworten und die Hälfte deines Goldes erwerben. Wenn ich stumm bleibe, wirst du mich lebendig auffressen.« Während die große Bestie mit dem Menschenkopf sich bereitmachte, um ihn aus der Fassung zu bringen, dachte der junge Mann an das, was der Erzbischof von Auch zu ihm gesagt hatte: »Bevor die große Bestie mit dem Menschenkopf die Leute dreimal fragt, trägt sie ihnen drei unmögliche Dinge auf. Kümmere dich nicht darum. Beweise, daß sie unmöglich sind. Was die drei Fragen anlangt, so ist das eine andere Sache. Du wirst lebendig aufgefressen werden, wenn du stumm bleibst. Höre gut zu! Versteh sie recht! Antworte ohne Überstürzung!« Schließlich sprach die große Bestie mit dem Menschenkopf: »Ich gebe dir auf, das Meer zu trinken.« »Trink es selbst! Weder du noch ich haben einen hinreichend großen Magen, um das Meer zu trinken.« »Ich gehe dir auf, den Mond zu essen.« »Iß ihn selbst! Der Mond ist zu fern, als daß ich oder du ihn erreichen könnten.« »Ich gebe dir auf, hundert Meilen Tau aus Meeressand zu drehen.« »Dreh es selbst! Der Meeressand läßt sich nicht binden wie Flachs oder Hanf. Niemals werden weder du noch ich solche Arbeit verrichten.« Da dachte die große Bestie mit dem Menschenkopf, daß sie ihre Zeit damit vergeudet habe, daß sie ihm drei unmögliche Dinge aufgetragen hätte. Sie streckte ihre Klauen aus und fletschte die Zähne. Der Jüngling wußte, daß sie nun ihre drei Fragen stellen wolle, und er dachte an das, was der Erzbischof von Auch zu ihm gesagt hatte: »Höre gut zu! Versteh sie recht! Antworte ohne Überstürzung!« Schließlich sprach die Bestie mit dem Menschenkopf: »Es geht schneller als die Vögel, schneller als der Wind, schneller als ein Blitz.« »Das Auge geht schneller als die Vögel, schneller als der Wind, schneller als ein Blitz.« »Der Bruder ist weiß und die Schwester ist schwarz. Jeden Morgen tötet der Bruder die Schwester. Jeden Abend tötet die Schwester den Bruder. Dennoch sterben sie nie.« »Der Tag ist weiß. Er ist der Bruder der schwarzen Nacht. Jeden Morgen bei Sonnenaufgang tötet der Tag die Nacht, seine Schwester. Jeden Abend bei Sonnenuntergang tötet die Nacht den Tag, ihren Bruder. Dennoch sterben Tag und Nacht nie.« »Es kriecht bei Sonnenaufgang wie Schlangen und Gewürm. Es geht um Mittag auf zwei Beinen wie die Vögel. Es entschwindet bei Sonnenuntergang auf drei Beinen.« »Wenn der Mensch klein ist, kann er nicht gehen. Er kriecht auf dem Boden wie Schlangen und Gewürm. Wenn er groß ist, geht er auf zwei Beinen wie die Vögel. Wenn er alt ist, hilft er sich mit einem Stock, der sein drittes Bein ist.« Da sagte die große Bestie mit dem Menschenkopf: »Nimm die Hälfte meines Goldes!« Aber der junge Mann dachte an das, was der Erzbischof von Auch zu ihm gesagt hatte: »Nimm sie und kehre eilends um, wenn du dich außerstande glaubst, mehr zu unternehmen. Wenn du dich aber für hinreichend schlau hältst, so bleib und sprich: ‚Große Bestie mit dem Menschenkopf, ich habe erst die Hälfte meiner Arbeit verrichtet. Du hast mich nicht aus der Fassung bringen können. Jetzt ist die Reihe an mir, deine Stelle einzunehmen.‘ Dann wirst du drei Fragen an sie richten, die schwersten, die du dir ausdenken kannst.« Als der Jüngling dieses gedacht hatte, sprach er: »Große Bestie mit dem Menschenkopf, ich habe erst die Hälfte meiner Arbeit verrichtet. Du hast mich nicht aus der Fassung bringen können. Jetzt ist die Reihe an mir, deine Stelle einzunehmen: was befindet sich am einen Ende der Welt?« Die große Bestie mit dem Menschenkopf blieb stumm. »Am einen Ende der Welt befindet sich ein gekrönter König, ein König in purpurnem und goldbetreßtem Gewand, der sich zum Kampfe bereitet und ein großes Schwert schwingt. Er schaut auf den Himmel, die Erde und das Meer. Aber der gekrönte König sieht nichts kommen. Große Bestie mit dem Menschenkopf, was befindet sich am andern Ende der Welt?« Die große Bestie mit dem Menschenkopf blieb stumm. »Am andern Ende der Welt befindet sich ein großer Rabe, der siebentausend Jahre alt ist. Er hockt auf dem Gipfel eines Berges. Er weiß und sieht alles, was geschieht und alles, was geschehen wird. Aber der große Rabe, der siebentausend Jahre alt ist, will nicht sprechen. Große Bestie mit dem Menschenkopf, sage mir, was die wilde Nachtigall am Karfreitag singt. Sage mir, was sie am heiligen Samstag singt. Sage mir, was sie am Ostertag bei Sonnenaufgang singt.« Die große Bestie mit dem Menschenkopf blieb stumm. »Am Karfreitag singt die wilde Nachtigall von der Passion unseres Herrn Jesu Christi, der von Judas verraten wurde. Am heiligen Samstag singt die wilde Nachtigall von den sieben Schmerzen der heiligen Jungfrau Maria. Am Ostertag bei Sonnenaufgang singt die wilde Nachtigall von der Auferstehung unseres Herrn Jesu Christi.« Da kauerte sich die große Bestie mit dem Menschenkopf zusammen. Der junge Mann aber dachte an das, was der Erzbischof von Auch zu ihm gesagt hatte: »Du wirst das goldene Messer nehmen, welches du unter deinen Kleidern verbergen mußt, um es erst im rechten Augenblick hervorzuziehen. Du wirst die große Bestie mit dem Menschenkopf abschlachten, dann wirst du ihr den Kopf abschneiden und schleunigst mit ihrem ganzen Gold heimkehren.« Im rechten Augenblick zog also der junge Mann das Messer, das ihm der Erzbischof von Auch gegeben hatte, aus seinen Kleidern hervor. Hierauf packte er die große Bestie mit dem Menschenkopf bei den Haaren und schlachtete sie ab. Während ihr Blut entströmte, sprach die große Bestie mit dem Menschenkopf: »Höre! Ich muß sterben. Trink mein Blut! Sauge meine Augen und mein Hirn aus! So wirst du stark und kühn wie Samson werden und brauchst niemanden auf der Welt zu fürchten. Reiß mir das Herz aus, bring es deiner Liebsten und laß sie es am Hochzeitsabend ganz roh essen. Dann wird sie sieben Kinder gebären, drei Knaben und vier Mädchen. Die drei Knaben werden stark und kühn werden wie du. Die vier Mädchen werden schön werden wie der Tag. Sie werden den Gesang der Vögel verstehen. Wenn sie zu ihren Jahren gekommen sein werden, werden sie Könige heiraten.« Die große Bestie mit dem Menschenkopf starb. Da schnitt ihr der Jüngling den Kopf ab. Er trank ihr Blut. Er sog ihre Augen und ihr Hirn aus. Er riß ihr das Herz aus, um es seiner Liebsten zu bringen. Dann bestattete er die große Bestie mit dem Menschenkopf, ohne dabei zu Gott zu beten, denn Tiere haben keine Seele. Als die Arbeit beendet war, eilte der Jüngling in die nächste Stadt, wo er hundert Rosse mietete. Darauf kehrte er zur Höhle zurück und belud die Rosse mit dem ganzen Golde, das die große Bestie mit dem Menschenkopf hinterlassen hatte.
Drei Tage später klopfte er an das Tor des Schlosses von Roquefort. »Guten Abend, Herr von Roquefort! Ich komme mit hundert goldbeladenen Rossen. Ich komme, um deine Tochter heimzuführen, die in ein Kloster in Auch eingetreten ist.« »Mein Freund, ich gebe sie dir. Heiratet euch ohne Verzug.«
Sieben Tage später wurde die Hochzeit gefeiert. Abends, als die junge Frau im Bette lag, trat der Jüngling in die Kammer. »Frau, erhebe dich und iß dies ganz roh!« Die Frau erhob sich und aß das Herz der großen Bestie mit dem Menschenkopf ganz roh. Später gebar sie sieben Kinder, drei Knaben und vier Mädchen. Die drei Knaben wurden stark und kühn wie ihr Vater. Die vier Mädchen waren schön wie der Tag. Sie verstanden den Gesang der Vögel. Als sie zu ihren Jahren gekommen waren, heirateten sie Könige.
In dieser Zeit lebte in Schloß Roquefort ein Edelmann, der zwei Söhne hatte und eine Tochter, die war treu wie das Gold und schön wie der Tag. Der junge Mann erblickte sie. Auf der Stelle verliebte er sich kopflos in sie. Eines Abends klopfte er an das Tor von Schloß Roquefort. »Guten Abend, Fräulein!« »Guten Abend, mein Freund! Was wünschest du?« »Fräulein, ich wünsche Euren Vater!« »Mein Vater ist heute früh mit meinen beiden Brüdern auf die Jagd gegangen. Er ist noch nicht zurückgekehrt. Was willst du meinem Vater sagen?« »Fräulein, ich will ihm sagen, daß ich kopflos in Euch verliebt bin und daß ich Euch zur Frau begehre.« »Mein Freund, ich werde deine Frau werden oder mich niemals verheiraten. Unglücklicherweise ist mein Vater nicht begütert. All sein Besitz wird auf meine Brüder übergehen. Morgen trete ich in ein Kloster in Auch ein.« »Fräulein, tretet in ein Kloster in Auch ein. Aber bindet Euch nicht vor Ablauf von sieben Tagen. Ich will mein Glück versuchen. Wenn ich sterbe, so nehmt den schwarzen Schleier und werdet Nonne für immer. Wenn ich wiederkomme, so werde ich genug haben, um Euch reicher zu machen als die größten Damen des Landes.« »Mein Freund, ich werde tun, wie du gesagt hast.« »Lebt wohl, Fräulein; ich gehe zufriedenen Herzens.« »Leb wohl, mein Freund!«
Der Jüngling verabschiedete sich von dem Fräulein und suchte unverzüglich den Erzbischof von Auch auf. »Guten Abend, Erzbischof von Auch!« »Guten Abend, mein Freund! Was steht dir zu Diensten?« »Erzbischof von Auch, ich bin in ein Fräulein verliebt, das schön ist wie der Tag und treu wie das Gold. Niemals wird sie meine Frau werden, wenn ich nicht alsbald reich werde. Ich will mein Glück versuchen. Ehe ich gehe, möchte ich Euch um Rat fragen.« »Rede, mein Freund!« »Erzbischof von Auch, Ihr seid ein weiser und gelehrter Mann. Man sagt, da droben im Gebirge sei eine Höhle voll Gold, gehütet von einer großen Bestie mit einem Menschenkopf. Sie hat dem, der ihr drei Fragen beantwortet, die Hälfte ihres Goldes versprochen. Mehr als hundert Leute sind schon dort gewesen. Aber sie sind stumm geblieben und die große Bestie mit dem Menschenkopfe hat sie lebendig aufgefressen.« »Mein Freund, man hat dir die Wahrheit gesagt.« »Erzbischof von Auch, ich will mein Glück versuchen. Noch diese Nacht wandere ich ins Gebirge, suche die große Bestie mit dem Menschenkopf in ihrer Höhle auf und beantworte ihre drei Fragen. Wenn ich stumm bleibe, wird sie mich lebendig auffressen. Wenn ich antworte, wird mir die große Bestie mit dem Menschenkopf die Hälfte ihres Goldes geben und ich werde das Fräulein heiraten, das ich liebe.« »Mein Freund, du bist verliebt. Nichts wird dich hindern zu tun, wie du sagst. Handle also nach deinem Kopf, da dir kein Ratschlag nützen kann. Über die große Bestie mit dem Menschenkopf hat man dir gesagt, was man weiß, aber das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Bevor die große Bestie mit dem Menschenkopf die Leute dreimal fragt, trägt sie ihnen drei unmögliche Dinge auf. Kümmere dich nicht darum. Beweise, daß sie unmöglich sind. Was die drei Fragen anlangt, so ist das eine andere Sache. Du wirst lebendig aufgefressen werden, wenn du stumm bleibst. Höre gut zu! Versteh sie recht! Antworte ohne Überstürzung! Wenn du richtig antwortest, wird die große Bestie mit dem Menschenkopf ihre Macht verlieren und zu dir sagen: ‚Nimm die Hälfte meines Goldes!‘ Nimm sie und kehre eilends um, wenn du dich außerstande glaubst, mehr zu unternehmen. Wenn du dich aber für hinreichend schlau hältst, so bleib und sprich: ‚Große Bestie mit dem Menschenkopf, ich habe erst die Hälfte meiner Arbeit verrichtet. Du hast mich nicht aus der Fassung bringen können. Jetzt ist die Reihe an mir, deine Stelle einzunehmen.‘ Dann wirst du drei Fragen an sie richten, die schwersten, die du dir ausdenken kannst. Bleibt sie stumm, so wirst du dieses goldene Messer nehmen, welches du unter deinen Kleidern verbergen mußt, um es erst im rechten Augenblick hervorzuziehen. Du wirst die große Bestie mit dem Menschenkopf abschlachten, dann wirst du ihr den Kopf abschneiden und schleunigst mit ihrem ganzen Gold heimkehren.« »Danke, Erzbischof von Auch!«
Der Jüngling verbarg das goldene Messer unter seinen Kleidern, um es erst im rechten Augenblick hervorzuziehen, verabschiedete sich vom Erzbischof von Auch und ging noch in derselbigen Nacht ins Gebirge auf die Suche nach der großen Bestie mit dem Menschenkopfe. Drei Tage später kam er in eine wüste Gegend, in ein wildes und dunkles Land, wo die Wasser tausend Klafter tief herabstürzten, wo die Berge so hoch, so hoch sind, daß die Vögel nicht hinauffliegen können und daß der Schnee darauf niemals schmilzt. Dort hauste die große Bestie mit dem Menschenkopfe. Der junge Mann trat ohne Angst und Schrecken in die Höhle. »Ho! Große Bestie mit dem Menschenkopfe! Ho! Ho! Ho!« »Was willst du von mir?« »Große Bestie mit dem Menschenkopf, ich will deine drei Fragen beantworten und die Hälfte deines Goldes erwerben. Wenn ich stumm bleibe, wirst du mich lebendig auffressen.« Während die große Bestie mit dem Menschenkopf sich bereitmachte, um ihn aus der Fassung zu bringen, dachte der junge Mann an das, was der Erzbischof von Auch zu ihm gesagt hatte: »Bevor die große Bestie mit dem Menschenkopf die Leute dreimal fragt, trägt sie ihnen drei unmögliche Dinge auf. Kümmere dich nicht darum. Beweise, daß sie unmöglich sind. Was die drei Fragen anlangt, so ist das eine andere Sache. Du wirst lebendig aufgefressen werden, wenn du stumm bleibst. Höre gut zu! Versteh sie recht! Antworte ohne Überstürzung!« Schließlich sprach die große Bestie mit dem Menschenkopf: »Ich gebe dir auf, das Meer zu trinken.« »Trink es selbst! Weder du noch ich haben einen hinreichend großen Magen, um das Meer zu trinken.« »Ich gehe dir auf, den Mond zu essen.« »Iß ihn selbst! Der Mond ist zu fern, als daß ich oder du ihn erreichen könnten.« »Ich gebe dir auf, hundert Meilen Tau aus Meeressand zu drehen.« »Dreh es selbst! Der Meeressand läßt sich nicht binden wie Flachs oder Hanf. Niemals werden weder du noch ich solche Arbeit verrichten.« Da dachte die große Bestie mit dem Menschenkopf, daß sie ihre Zeit damit vergeudet habe, daß sie ihm drei unmögliche Dinge aufgetragen hätte. Sie streckte ihre Klauen aus und fletschte die Zähne. Der Jüngling wußte, daß sie nun ihre drei Fragen stellen wolle, und er dachte an das, was der Erzbischof von Auch zu ihm gesagt hatte: »Höre gut zu! Versteh sie recht! Antworte ohne Überstürzung!« Schließlich sprach die Bestie mit dem Menschenkopf: »Es geht schneller als die Vögel, schneller als der Wind, schneller als ein Blitz.« »Das Auge geht schneller als die Vögel, schneller als der Wind, schneller als ein Blitz.« »Der Bruder ist weiß und die Schwester ist schwarz. Jeden Morgen tötet der Bruder die Schwester. Jeden Abend tötet die Schwester den Bruder. Dennoch sterben sie nie.« »Der Tag ist weiß. Er ist der Bruder der schwarzen Nacht. Jeden Morgen bei Sonnenaufgang tötet der Tag die Nacht, seine Schwester. Jeden Abend bei Sonnenuntergang tötet die Nacht den Tag, ihren Bruder. Dennoch sterben Tag und Nacht nie.« »Es kriecht bei Sonnenaufgang wie Schlangen und Gewürm. Es geht um Mittag auf zwei Beinen wie die Vögel. Es entschwindet bei Sonnenuntergang auf drei Beinen.« »Wenn der Mensch klein ist, kann er nicht gehen. Er kriecht auf dem Boden wie Schlangen und Gewürm. Wenn er groß ist, geht er auf zwei Beinen wie die Vögel. Wenn er alt ist, hilft er sich mit einem Stock, der sein drittes Bein ist.« Da sagte die große Bestie mit dem Menschenkopf: »Nimm die Hälfte meines Goldes!« Aber der junge Mann dachte an das, was der Erzbischof von Auch zu ihm gesagt hatte: »Nimm sie und kehre eilends um, wenn du dich außerstande glaubst, mehr zu unternehmen. Wenn du dich aber für hinreichend schlau hältst, so bleib und sprich: ‚Große Bestie mit dem Menschenkopf, ich habe erst die Hälfte meiner Arbeit verrichtet. Du hast mich nicht aus der Fassung bringen können. Jetzt ist die Reihe an mir, deine Stelle einzunehmen.‘ Dann wirst du drei Fragen an sie richten, die schwersten, die du dir ausdenken kannst.« Als der Jüngling dieses gedacht hatte, sprach er: »Große Bestie mit dem Menschenkopf, ich habe erst die Hälfte meiner Arbeit verrichtet. Du hast mich nicht aus der Fassung bringen können. Jetzt ist die Reihe an mir, deine Stelle einzunehmen: was befindet sich am einen Ende der Welt?« Die große Bestie mit dem Menschenkopf blieb stumm. »Am einen Ende der Welt befindet sich ein gekrönter König, ein König in purpurnem und goldbetreßtem Gewand, der sich zum Kampfe bereitet und ein großes Schwert schwingt. Er schaut auf den Himmel, die Erde und das Meer. Aber der gekrönte König sieht nichts kommen. Große Bestie mit dem Menschenkopf, was befindet sich am andern Ende der Welt?« Die große Bestie mit dem Menschenkopf blieb stumm. »Am andern Ende der Welt befindet sich ein großer Rabe, der siebentausend Jahre alt ist. Er hockt auf dem Gipfel eines Berges. Er weiß und sieht alles, was geschieht und alles, was geschehen wird. Aber der große Rabe, der siebentausend Jahre alt ist, will nicht sprechen. Große Bestie mit dem Menschenkopf, sage mir, was die wilde Nachtigall am Karfreitag singt. Sage mir, was sie am heiligen Samstag singt. Sage mir, was sie am Ostertag bei Sonnenaufgang singt.« Die große Bestie mit dem Menschenkopf blieb stumm. »Am Karfreitag singt die wilde Nachtigall von der Passion unseres Herrn Jesu Christi, der von Judas verraten wurde. Am heiligen Samstag singt die wilde Nachtigall von den sieben Schmerzen der heiligen Jungfrau Maria. Am Ostertag bei Sonnenaufgang singt die wilde Nachtigall von der Auferstehung unseres Herrn Jesu Christi.« Da kauerte sich die große Bestie mit dem Menschenkopf zusammen. Der junge Mann aber dachte an das, was der Erzbischof von Auch zu ihm gesagt hatte: »Du wirst das goldene Messer nehmen, welches du unter deinen Kleidern verbergen mußt, um es erst im rechten Augenblick hervorzuziehen. Du wirst die große Bestie mit dem Menschenkopf abschlachten, dann wirst du ihr den Kopf abschneiden und schleunigst mit ihrem ganzen Gold heimkehren.« Im rechten Augenblick zog also der junge Mann das Messer, das ihm der Erzbischof von Auch gegeben hatte, aus seinen Kleidern hervor. Hierauf packte er die große Bestie mit dem Menschenkopf bei den Haaren und schlachtete sie ab. Während ihr Blut entströmte, sprach die große Bestie mit dem Menschenkopf: »Höre! Ich muß sterben. Trink mein Blut! Sauge meine Augen und mein Hirn aus! So wirst du stark und kühn wie Samson werden und brauchst niemanden auf der Welt zu fürchten. Reiß mir das Herz aus, bring es deiner Liebsten und laß sie es am Hochzeitsabend ganz roh essen. Dann wird sie sieben Kinder gebären, drei Knaben und vier Mädchen. Die drei Knaben werden stark und kühn werden wie du. Die vier Mädchen werden schön werden wie der Tag. Sie werden den Gesang der Vögel verstehen. Wenn sie zu ihren Jahren gekommen sein werden, werden sie Könige heiraten.« Die große Bestie mit dem Menschenkopf starb. Da schnitt ihr der Jüngling den Kopf ab. Er trank ihr Blut. Er sog ihre Augen und ihr Hirn aus. Er riß ihr das Herz aus, um es seiner Liebsten zu bringen. Dann bestattete er die große Bestie mit dem Menschenkopf, ohne dabei zu Gott zu beten, denn Tiere haben keine Seele. Als die Arbeit beendet war, eilte der Jüngling in die nächste Stadt, wo er hundert Rosse mietete. Darauf kehrte er zur Höhle zurück und belud die Rosse mit dem ganzen Golde, das die große Bestie mit dem Menschenkopf hinterlassen hatte.
Drei Tage später klopfte er an das Tor des Schlosses von Roquefort. »Guten Abend, Herr von Roquefort! Ich komme mit hundert goldbeladenen Rossen. Ich komme, um deine Tochter heimzuführen, die in ein Kloster in Auch eingetreten ist.« »Mein Freund, ich gebe sie dir. Heiratet euch ohne Verzug.«
Sieben Tage später wurde die Hochzeit gefeiert. Abends, als die junge Frau im Bette lag, trat der Jüngling in die Kammer. »Frau, erhebe dich und iß dies ganz roh!« Die Frau erhob sich und aß das Herz der großen Bestie mit dem Menschenkopf ganz roh. Später gebar sie sieben Kinder, drei Knaben und vier Mädchen. Die drei Knaben wurden stark und kühn wie ihr Vater. Die vier Mädchen waren schön wie der Tag. Sie verstanden den Gesang der Vögel. Als sie zu ihren Jahren gekommen waren, heirateten sie Könige.
[Ernst Tegethoff: Französische Volksmärchen]