Dann erschien eines Tages Bruder Löwe im Wald. Er war sehr eingebildet und sehr stark, und bald begann er mit den Tieren zu streiten, mir um ihnen zu zeigen, dass er mehr galt als sie. Es dauerte nicht lange, so tötete er sogar einige der Tiere.
Die Tiere waren sehr empört über den Löwen; aber weil er so stark war, wagten sie nicht, sich zu beklagen. Sie wussten nicht, was sie tun sollten. Eines Tages setzte sich Bruder Löwe selbst zum König ein und machte Bruder Schakal zu seinem Ministerpräsidenten.
Bruder Schakal war bei den andern Tieren nicht mehr beliebt als Bruder Löwe. Er war ein Schmeichler und zugleich ein großer Feigling. Immer erzählte er dem Bruder Löwen das, was dieser gerne hörte und ihm am besten gefiel. Bruder Schakal hatte jetzt eine gute Zeit.
Eines Tages beschloss Bruder Löwe, dass jedes der Tiere abwechselnd ihm an den Abenden eine heiße Mahlzeit zu bereiten hätte. Er schickte Bruder Schakal in den Wald, um diesen Entschluss zu verkünden. Bruder Schakal nahm eine große Trompete, blies laut drauf, während er im Land hin und her spazierte, und verbreitete den Befehl des Löwen.
Die Tiere waren so zornig, dass sie in der Nacht gar nicht zum Schlafen kamen; aber nicht eines wagte es, sich gegen den Löwen zu erheben und ihm die Zubereitung der Mahlzeit zu verweigern. Bruder Schakal spazierte durch das ganze Land, blies auf seiner
Trompete und rief seine Botschaft aus. Niemand erhob Einwand. Von nun an erhielt Bruder Löwe jeden Abend einen feinen Braten. Er fraß ihn in seiner Höhle und dachte, was für ein hochgestellter und mächtiger Bursche er doch war. Bruder Schakal saß neben ihm und lobte ihn bis in den Himmel, in der Gewissheit, dass ein Teil der Mahlzeit ihm zufallen werde, sobald Bruder Löwe gesättigt war.
Schließlich hatten alle Tiere dem Löwen eine Mahlzeit bereitet, nur sein Bruder Hase noch nicht. Er saß friedlich mit Weib und Kindern in seinem Haus, als Bruder Schakal die Straße daherkam und laut auf seiner Trompete blies.
»Bist du hier, Bruder Hase?« schrie er. »Ja, ich bin hier«, antwortete Bruder Hase gelassen. »Hast du den Befehl des Löwen befolgt?« »Welchen Befehl, Bruder Schakal?« fragte Bruder Hase, als ob er nichts davon wüsste. »Nun, du bist an der Reihe, dem Löwen heute abend die Mahlzeit zu bereiten«, antwortete Bruder Schakal, und er grinste über das ganze Gesicht. »Sie muss gut zubereitet sein, das sage ich dir, oder Bruder Löwe wird dich samt Frau und allen Kindern auffressen Also beeile dich, und tu deine Pflicht!« »Gut, Bruder Schakal«, entgegnete Bruder Hase. »Geh und sag deinem Herrn, dass ich pünktlich dort sein werde mit seiner Mahlzeit.«
Darauf nahm er einen mit Wasser gefüllten Eimer und leerte ihn aus, so dass das Zimmer unter Wasser stand und Bruder Schakal nasse Füße bekam. Sehr verdrossen über seine nassen Füße, ging Bruder Schakal fort, während er lächelnd zu sich selbst sagte: »Der kleine Hase wird niemals imstande sein, den großen Löwen ausreichend zu versorgen. Er wird selber aufgefressen werden. Freilich, er wird bloß ein kleiner Bissen sein, aber ein zarter, wohlschmeckender Bissen wird er sein!«
Mittlerweile schrubbte der Hase friedlich sein Haus und sang vergnügt vor sich hin.
Da öffnete sich die Tür, und Frau Hase mit ihren Kindern kam herein. Sie hielten alle die Taschentücher vor ihre Augen und weinten bitterlich.
»Was habt ihr denn? Was ist denn los?« fragte Bruder Hase höchst erstaunt.
“O Jammer !« wimmerte Frau Hase. “Wir haben gehört, was Bruder Schakal gesagt hat Nun wird Bruder Löwe uns alle auffressen, denn woher sollten wir eine Mahlzeit nehmen, die ihm genügen könnte?«
»Mach dir keine Sorge«, sagte Bruder Hase tröstend. “Und ihr Kinder .seid jetzt ruhig! Nur keine Angst! Der Löwe wird weder euch noch mich auffressen..«
Daraufhin bat Bruder Hase um eine Schüssel warmen Wassers, wusch sich sorgfältig, zog sein bestes Gewand an, wählte die schönste Krawatte, zwirbelte die Enden seines Schnurrbarts auf und verließ das Haus mit seinem Wanderstock unterm Arm.
Als die anderen Tiere den Hasen so herausgeputzt sahen, rannten sie vor ihre Türen und riefen: »Bruder Hase, wohin gehst du denn in deinen besten Kleidern?«
»Guten Abend, meine Freunde«, antwortete Bruder Hase. »Ich bin auf dem Weg zum Löwen und hoffe, ihn zur Vernunft zu bringen. Bruder Schakal ist soeben bei mir gewesen, und wenn wahr ist, was er sagt, muss Bruder Löwe seinen Verstand verloren haben.« »Oh, geh nicht in die Nähe dieses fürchterlichen Kerls!« baten alle Tiere. »Du wirst bestimmt aufgefressen werden.«
Aber Bruder Hase zwirbelte seinen Schnurrbart, schwang seinen Wanderstock und ging gelassen den Weg weiter, der zur Höhle des Löwen führte.
Sobald er von den anderen Tieren nicht mehr gesehen werden konnte, raufte er sein Haar, löste den Krawattenknoten und wälzte sich im Staub; schließlich sah er aus wie ein Wanderer, der von Wegelagerern überfallen und geschlagen worden war. Dann ging er direkt auf die Höhle des Löwen zu.
Bruder Löwe saß in seinem Wohnzimmer. Er war schrecklich erzürnt, weil seine Mahlzeit sich verspätete. Als er den Hasen durch die Tür hereinkommen sah, brüllte er:
»Was soll das bedeuten? Wie kannst du es wagen, mich auf mein Abendessen warten zu lassen? Jetzt werde ich dich auffressen!«
Und er öffnete seinen Rachen so drohend weit, dass Bruder Schakal heimlich hinausschlich, um soviel Abstand wie möglich zwischen sich und seinen Herrn zu legen.
Bruder Hase jedoch bewegte sich nicht von der Stelle Er blickte mit dem traurigsten Gesicht auf den Löwen und sagte in schmerzlichem Ton:
»Bruder Löwe, bitte vergib mir, es ist nicht meine Schuld. ich hatte solch herrliche Mahlzeit für dich. Frau Hase bereitete sie selbst mit größter Sorgfalt, und sie ist eine hervorragende Köchin. Aber als ich dieses delikate Essen zu dir trug, kam ein großer, gewaltiger Löwe aus dem Gebüsch und nahm mir alles weg. Ich sagte ihm, es sei für dich bestimmt und du seiest der König aller Tiere, aber er brüllte nur noch lauter und meinte, er sei der einzige König hier. Er trug mir auf dir das mitzuteilen; dann verschlang er das ganze Essen.«
Bruder Löwe hob ein schreckliches Brüllen an und schlug mit seinem Schwanz auf den Boden. »Wo ist dieser Kerl, der sich selbst König der Tiere nennt?« brüllte er. »Zeige mir sein Versteck! Führe mich dorthin! Ich werde ihn in Stücke zerreißen!«
»Damit drohte ich ihm bereits«, erklärte Bruder Hase, »aber er lachte mich nur aus.”
So begaben sich die beiden auf den Weg, um das Versteck des schuftigen Löwen zu finden. Der Hase rannte voraus, und Bruder Löwe stapfte hinter ihm drein. Bald kamen sie zu einem tiefen Loch, das war vollgefüllt mit Wasser. Hier blieb der Hase stehen.
»Dein Feind wohnt in diesem Loch, Bruder Löwe. Ich wage mich nicht näher heran, weil ich so klein bin. Aber wenn du dich niederbeugst und in das Loch hineinschaust, wirst du ihn sehen. Gib acht, dass die fürchterliche Bestie nicht herausspringt und dich auffrisst «
Der Löwe trat an den Rand des Loches. Er blickte hinein und sah sein eigenes Spiegelbild im Wasser.
»So! Da bist du !« brüllte er und fletschte seine Zähne.
Der Löwe im Wasser tat dasselbe.
»Ich werde dich in tausend Stücke zerreißen!« donnerte Bruder Löwe, der mit immer größerer Wut seinen Feind anstarrte.
Der Löwe im Wasser tat dasselbe.
In seinem Zorn beugte sich Bruder Löwe tief nieder, um den Schurken zu packen; dieser machte sich ebenfalls zum Angriff bereit. Bruder Löwe sprang gegen seinen Feind, und – plumps! fiel er in das Wasser. Erst jetzt begriff er, dass Bruder Hase ihn überlistet hatte.
Bruder Löwe hatte große Mühe, um sich zu retten, aber die Seiten des Loches waren so steil, dass er allein nicht heraus- klettern konnte.
Bruder Hase bürstete seine staubigen Kleider aus, zwirbelte seinen Schnurrbart hoch und begab sich auf den Heimweg, indem er seinen Wanderstock schwang und dazu sang:
»Holderie und holderei!
Von dem Löwen sind wir frei !«
(Märchen aus Afrika)