Mehr als ein Jahr war der Königssohn nun schon dort herumgereist, als er schliesslich auf seines Vaters „Wunsch heimkehrte. Aber auf den vielen Wanderungen hatte der Königssohn seine Natur ganz geändert; er war nachdenklich und traurig geworden. – Das machte den König ganz stutzig, und er sann nach, was wohl die Ursache dieser grossen Veränderung sein könnte. Er sprach jedoch zu niemandem davon; nur in sich brütete er darüber, bis er auf den Gedanken kam, der Königssohn sei sicherlich verliebt, darum sei er so nachdenklich.
Da geschah es einmal, dass der König mit dem Königssohn selbander im Speisesaal der königlichen Residenz war; da nahm der König seinen Sohn beim Arm, führte ihn in das Nebenzimmer, das war ganz voll mit allerlei schönen Mädchenbildern, und sprach zu ihm:
„Mein lieber Sohn, du bist sehr missmutig. Es wäre gut, wenn du heiratetest. Sieh, in diesem Zimmer sind alle Kaiser-, Königs- und Fürstentöchter abgemalt; du kannst nach deinem Gefallen wählen. Welche am meisten nach deinem Herzen ist, die nimm dir zur Gemahlin! Nur lass mich dich besserer Laune sehen!“
„Ach, mein lieber königlicher Vater,“ erwiderte der Königssohn, „weder Liebe noch Heiraten bekümmern mich. Aber der Gedanke macht mich traurig, dass alle Menschen, auch die Könige, einmal sterben müssen. Deshalb möchte ich ein Reich auffinden, wo der Tod keine Macht hat. Auch bin ich fest entschlossen, und sollte ich mir auch die Füsse bis zu den Knieen ablaufen, so lange will ich wandern, bis ich es finde.“
Der alte König wandte alles auf, seinen Sohn von seinem Vorhaben abzubringen; er sagte ihm, das sei unmöglich. Er erzählte ihm, dass er schon fünfzig Jahre dieses Landes König sei, immer zufrieden und glücklich gelebt habe, und zugleich bot er seinem Sohne an, dass er ihm auch das Königreich übergeben wolle; nur möge er wieder guter Dinge sein und daheim bleiben. Aber der Königssohn blieb fest bei seinem Vorsatz. Am andern Morgen band er ein Schwert an die Seite und machte sich auf die Reise.
Als er schon seit mehreren Tagen aus seines Vaters Reich gewandert war und so auf der Strasse schlenderte, sah er von weitem einen riesengrossen Baum, als wenn da in seinem Wipfel ein grosser Adler schwebte. Er trat näher an den Baum; da sah er, dass wirklich ein grosser Adler in dem Wipfel dieses grossen Baumes die Äste tüchtig rüttelte und die Zweige nach allen Seiten auseinander trieb.
Wie er noch darüber staunt, überlegt sich’s der Adler, lässt sich neben dem Königssohn nieder, schlägt einen Purzelbaum; da wird er zu einem König und fragt den erstaunten Königssohn:
„Worüber wunderst du dich, Brüderchen?“
„Nun wahrhaftig, ich wundere mich,“ entgegnet dieser, „warum du dieses grossen Baumes Wipfel rüttelst.“
Darauf sagt der Adlerkönig:
„Siehst du, ich bin dazu verdammt, dass weder ich noch einer von meiner Sippschaft sterben darf, bis ich diesen Baum hier mit der Wurzel ausgerüttelt habe. Aber es ist schon Abend; heute arbeite ich nicht weiter, sondern gehe nach Hause, und auch dich werde ich gern als Gast zur Nacht in meinem bescheidenen Hause sehen.“ Der Königssohn schlug ein, und sie spazierten zusammen zur Residenz des Adlerkönigs. Nun hatte aber der Adlerkönig eine wunderbar schöne Tochter; die empfing ihren Vater und den königlichen Gast und liess sogleich den Tisch decken und versorgte sie mit Abendbrot. Während des Nachtmahls fragte der Adlerkönig unter anderen Gesprächen den reisenden Königssohn, was das Ziel seiner Reise sei. Der Königssohn eröffnete ihm darauf, dass er just so lange umherreisen wolle, bis er ein Reich gefunden, wo der Tod keine Macht habe.
„Nun, lieber Bruder,“ sagte der Adlerkönig, „da bist du gerade an den rechten Ort gekommen. Hörtest du nicht, dass weder über mich noch über einen meiner Sippschaft der Tod irgendwelche Macht hat, bis ich jenen grossen Baum mit Stamm und Wurzel ausgerüttelt habe? Bis dahin werden wohl sechshundert Jahre verstreichen. Heirate meine Tochter, und hier bei mir könnt ihr dann lang genug leben!“
„Ach, lieber Herr Bruder König, das wäre alles ganz schön; aber nach sechshundert Jahren müssen wir dann doch sterben. Ich dagegen will einen Ort auffinden, wo der Tod niemals Macht haben wird!“
Auch die Königstochter hiess ihn bleiben; denn sie waren schon vertraut mit einander geworden; aber auch sie konnte ihn auf keine Weise zum Bleiben bewegen. Schliesslich gab sie ihm, damit er nicht ohne ein Andenken wieder von ihr gehe, ein Kästchen, auf dessen innerem Boden ihr Bild gemalt war, und sagte ihm:
„Nun, du Königssohn, da du doch keinesfalls bei mir bleibst, so nimm dieses Andenken! Ihm ist diese Kraft zu eigen: wenn du auf deiner Wanderschaft müde wirst, öffne das Kästchen, schaue mein Bild an, und du kannst reisen, wie es dir einfällt; wenn du willst, in der Luft, wenn dort der Wind zu scharf geht, auf der Erde, wie der schnelle Gedanke oder wie der schnelle Wirbelwind.“
Der Königssohn bedankte sich für das Kästchen und steckte es in die Tasche. Anderntags nahm er Abschied vom Hause des Adlerkönigs und setzte seine Reise fort.
Eine Weile war er auf der Landstrasse gegangen; aber nach einiger Zeit begann er müde zu werden, und das Kästchen fiel ihm ein; er zog es nun hervor, öffnete es und schaute das Bild der Königstochter an und dachte bei sich: „Könnte ich dahineilen wie der schnelle Wind oben in der Luft!“ und sofort wurde er emporgehoben und eilte dahin wie der schnelle Wind.
Als er eine gute Strecke zurückgelegt hatte und oberhalb eines riesig grossen, hohen Berges dahineilte, sah er, dass ein kahlköpfiger Mann mit Spaten und Haue Erde vom Gipfel des Berges in einen Korb lud und abwärts trug. Der Königssohn hält an und wundert sich darüber. Der kahlköpfige Mann hält auch an und fragt den Königssohn: „Worüber wunderst du dich, Bruder?“
„Nun wahrlich ich wundere mich, wohin Ihr diesen Korb mit Erde von hier tragen mögt!“
„Ach, lieber Bruder,“ sagt der Alte, „ich bin dazu verdammt worden, dass weder ich noch jemand aus meiner Familie sterben kann, bis ich den grossen Berg mit diesem Korb abgetragen und den Platz hier eben gemacht habe. Aber es wird schon Abend; heute arbeite ich nicht mehr.“ Damit schlug er einen Purzelbaum, und aus ihm wurde ein kahlköpfiger König, der trat zu dem reisenden Königssohn und lud ihn ein, bei ihm zu übernachten. Sie gingen zusammen zur Residenz des kahlen Königs; der hatte nun aber eine noch hundertmal schönere Tochter wie der vorige; die empfing sie herzlich und versorgte sie geschwind mit einem Nachtmahl. Während des Nachtmahls befragte der kahle König den reisenden Königssohn, wie lange er umherreisen wolle, worauf der Königssohn wiederum antwortete, dass er so lange umherreisen wolle, bis er ein Reich finde, wo der Tod keine Macht habe.
„Da kommst du gerade an den rechten Ort,“ sagt auch der kahle König. „Denn wie ich dir sagte, bin ich dazu verdammt worden, dass weder ich noch einer meiner Familie sterben kann, bis ich jenen grossen Berg ganz abgetragen habe; bis dahin werden wohl achthundert Jahre vergehen. Heirate meine Tochter; soviel sehe ich ohnehin, dass ihr euch zusammen nicht langweilt, und achthundert Jahre lang könnt ihr genug leben.“
„Allerdings“; sagt der Königssohn, „aber ich will dorthin gehen, wo der Tod niemals Macht haben wird.“
Damit stand er auf, und nachdem er gute Nacht gesagt hatte, ging er in sein Schlafzimmer. Am andern Tag standen alle sehr früh auf; die Königstochter bat den Königssohn aufs neue, zu bleiben; aber er blieb durchaus nicht. Damit der Königssohn nicht ohne jedes Andenken fortgehe, gab sie ihm einen goldenen Ring, der hatte die Kraft, wenn sein Eigentümer ihn am Finger drehte, so war er sofort dort, wo er zu sein wünschte. Der Königssohn nahm den Ring, bedankte sich dafür, und dann nahm er Abschied und machte sich wieder auf den Weg.
Eine Weile war er auf der Landstrasse gegangen, da kam ihm der geschenkte Ring in den Sinn; er drehte ihn also an seinem Finger und dachte bei sich, dass er just am Ende der Welt sein möge. Er schliesst die Augen, und wirklich, in einem Augenblick, als er die Augen öffnet, ist er inmitten einer prächtigen, königlichen Stadt und geht in ihren Strassen auf und ab. Er sah viele Menschen in sonderbarer Kleidung und von sonderbarer Gestalt; in siebenundzwanzigerlei Sprachen versuchte er mit ihnen zu reden; denn so viele Sprachen kannte der Königssohn; aber niemand antwortete ihm auf eine. Das bekümmerte ihn; denn was sollte er hier thun, wo er sich mit niemandem unterhalten konnte! Er spaziert solange umher in seinem Kummer, bis er auf einmal einem so gekleideten Menschen begegnet, wie sie in seinem eigenen Lande zu gehen pflegen; er spricht ihn in seiner eigenen Sprache an; der kann auch wirklich darauf antworten. Zu allererst fragt er ihn also, was dies für eine Stadt sei. Der Mann setzt ihm auseinander, dass dies die Hauptstadt vom Lande des Blauen Königs sei; aber der König selbst sei tot, es sei nur eine liebe, schöne Königstochter da, und die herrsche über sieben Reiche; denn von dem ganzen Königshause sei niemand anderes mehr da. Der Königssohn war mit dieser Auskunft zufrieden und fragte den Mann, ob er ihm die königliche Residenz weisen könne.
„Von Herzen gern,“ sagte der Mann und führte den Königssohn zur Residenz und verabschiedete sich dort von ihm. Der Königssohn betrat die Residenz, und da sass die Prinzessin auf den Stufen der Residenz, stickte goldglänzende Nebelschleier, und der Königssohn ging gerade auf sie zu. Die Prinzessin aber stand von ihrem Sitzplatz auf, und da sie erkannte, dass der Königssohn kein Alltagsmensch war, führte sie ihn in den Palast und nahm ihn dort wie einen Fürsten auf. Nach mancherlei Gesprächen, als die Prinzessin das Vorhaben des Königssohns erfahren hatte, bat sie ihn, dass er bei ihr bleiben und ihr Gefährte in der Regierung werden möge; jedoch der Königssohn erklärte, dass er sich nur in dem Reich niederlassen wolle, wo der Tod keine Macht habe. Da nahm die Prinzessin den Königssohn beim Arm, führte ihn an die Thür eines Nebenzimmers, und siehe! so voll gesteckt mit Nähnadeln war der Fussboden jenes Zimmers, dass auch nicht eine mehr hätte hineingesteckt werden können.
„Nun, du Königssohn,“ sagt nun das Fräulein, „siehst du diese zahllosen Nähnadeln? Ich bin dazu verdammt, dass weder ich noch jemand, der zu meiner Familie gehört, sterben kann, bis ich diese vielen Nadeln nicht aufgebraucht, beim Nähen abgenutzt habe. Bis dahin werden aber tausend Jahre verstreichen; wenn du bei mir bleibst, können wir bis dahin genug leben und regieren.“
„Allerdings“; sagt der Königssohn, „aber nach tausend Jahren müssen wir dann doch sterben; ich hingegen suche ein Reich, wo der Tod niemals Macht hat.“
Die Nebelschleier stickende Prinzessin gab sich Mühe genug, den Königssohn von seinem Vorhaben abzubringen; schliesslich erklärte er, dass er nicht bleiben, sondern seine begonnene Reise fortsetzen werde. Da trat die Prinzessin zum Königssohn und sprach also zu ihm:
„Da ich dich auf keine Weise zurückhalten kann, so empfange von mir zum Andenken eine kleine goldene Gerte; die hat die Kraft, dass sie sich im Notfall in das verwandelt, in was du sie verwandelt denkst.“
Der Königssohn bedankte sich für das Geschenk der Prinzessin, steckte es in seine Tasche; darauf nahm er Abschied von ihr und machte sich aufs neue auf den Weg.
Kaum war er aus der Stadt gelangt, so stiess er dort auf einen grossen Strom; aber er sah, dass am jenseitigen Ufer die Fensterladen des Himmels schon heruntergelassen waren und man nicht weiter gehen konnte; denn dort war das Ende der Welt. Er ging also am Flussufer aufwärts, und wie er ein Weilchen aufwärts geschritten war, fiel ihm auf einmal eine strahlende Königsburg in die Augen, die über dem Wasser in der Luft schwebte; aber trotz allen Umherspähens sah er weder einen Weg noch eine Brücke dorthin, welche sie mit dem festen Land verbunden hätte; und doch hätte er so gern die strahlende Burg in Augenschein genommen. Da fällt ihm plötzlich die goldene Gerte ein, die er von der Nebelschleier stickenden Prinzessin bekommen hatte; er zieht sie hervor und wirft sie auf die Erde mit dem Gedanken: Möge aus ihr ein Steg hin zur strahlenden Königsburg werden! Und sofort wurde aus der Gerte ein goldner Steg hin zur strahlenden Königsburg. Der Königssohn säumte nicht lange; er sprang auf den goldenen Steg und ging auf ihm hinüber zur Burg; – aber wie er in das Thor der Burg tritt, da bewachen es die allerseltsamsten Wundertiere, wie er ihresgleichen noch niemals gesehen hatte. Er erschrickt und ruft seinem Schwert zu: „Schwert aus der Scheide!“ Sein Schwert springt auch heraus und schneidet einigen die Köpfe ab; doch siehe! sogleich wachsen ihnen andere Köpfe. Darüber erschrickt der Königssohn noch mehr, ruft sein Schwert in die Scheide zurück, und staunt. Die Königin der Burg hatte das von ihrem Fenster aus angesehen und sandte sogleich einen Diener zu ihm, damit ihm die Wächter nichts anthäten, und befahl dem Diener, dass er den fremden Reisenden zu ihr führe. So geschah es auch. Der Diener lief geschwind hin, führte den Königssohn zwischen den Wächtern hindurch vor die Schlossherrin.
Als der Königssohn vor die Königin trat, begann die Königin zu ihm zu sprechen:
„Das sehe ich, dass du kein Alltagsmensch bist; aber auch das will ich wissen: Wer bist du und was führt dich her?“
Darauf erzählte der Königssohn, welches Königs Sohn er sei, und dass er sich auf den Weg gemacht habe, damit er ein Reich auffinde, wo der Tod keine Macht habe.
„Nun, du stehst am rechten Ort,“ sagt die Königin, „denn ich bin des Lebens und der Unsterblichkeit Königin; hier kannst du dem Tode Trotz bieten.“
Sie hiess ihn gleich niedersitzen und nahm den Königssohn freudig bei sich auf und lud ihn gleich zu Tische ein.
Gerade tausend Jahre weilte nun der Königssohn schon in der strahlenden Burg; aber sie waren so schnell verflogen wie vordem ein Halbjahr.
Als die tausend Jahre verstrichen waren, war es dem Königssohn eines Nachts im Traum, als ob er zu Hause mit seinem Vater und seiner Mutter sich unterhalten hätte. Darüber ergriff ihn das Heimweh so, dass er sofort, wie er morgens aufgestanden war, der Königin der Unsterblichkeit verkündete, dass er nach Hause gehen wolle, um seinen Vater und seine Mutter noch einmal zu sehen. Die Königin der Unsterblichkeit staunte ob dieser Worte und sprach:
„Ach, du Königssohn, was kommt dir in den Sinn? Es sind ja doch schon mehr als achthundert Jahre, dass dein Vater und deine Mutter gestorben sind; von ihnen wirst du weder eine Kunde noch ein Stäubchen auffinden.“
Aber sie konnte den Königssohn nicht von seinem Vorhaben abbringen; so sprach sie denn:
„Nun, wenn du wirklich wieder fortgehen willst, so geh nicht eher, als bist du mit mir gekommen bist, dass ich dich für die Reise ausrüste.“ Sogleich hängte sie ihm eine goldene und eine silberne Flasche um den Hals und führte ihn erst in ein kleines Nebengemach, zeigte ihm in dem einen Winkel eine kleine Fallthür, hiess ihn sie öffnen und sprach:
„Von diesem Wasser, das unter der Thüre ist, fülle deine silberne Flasche voll. Es ist also beschaffen: wenn du damit irgend jemanden besprengst, wird er auf der Stelle ein Sohn des Todes, wären vorher auch tausend Leben sein gewesen.“
Dann führte sie ihn in ein anderes Seitengemach, in dessen einer Ecke gleichfalls eine kleine Fallthür sichtbar wurde; auch diese hiess ihn die Königin öffnen und füllte mit dem Wasser die goldene Flasche und sagte: „Nun, du Königssohn, dieses Wasser, das am Felsen der Ewigkeit entspringt, hat die Kraft: wenn jemand auch schon vier- oder fünftausend Jahre tot war, und du erhaschst nur ein Knöchelchen von ihm und besprengst es mit diesem Wasser, so erwacht er auf der Stelle in blühender Kraft.“
Der Königssohn dankte der Königin der Unsterblichkeit für ihre Geschenke; dann nahm er Abschied von ihr und der ganzen Burg und machte sich auf den Weg.
Sogleich gelangte er in die Stadt, wo die Nebelschleier stickende Prinzessin gewohnt hatte; aber kaum erkannte er den Ort, so sehr war alles verwandelt. Er ging eilends zur königlichen Residenz; aber dort herrschte eine solche Ruhe, als wenn niemand darin wohnte. Er geht hinauf in den Palast, und wie er in das Wohnzimmer kommt, findet er dort die Prinzessin, auf ihre Stickerei gebückt und eingeschlafen; hübsch sachte schleicht er hin, spricht zu ihr, aber sie antwortet nicht, zupft sie beim Rock, aber sie bewegt sich nicht. Da läuft er hinaus in das Zimmer, das voll mit Nadeln gewesen war, und nicht eine Nadel ist darinnen; auch die allerletzte Nähnadel hatte die Prinzessin beim Nähen zerbrochen, und dann war die Prinzessin gestorben.
Geschwind nimmt er seine goldene Flasche, besprengt daraus die Prinzessin. Da erwacht sie zum Leben; auf einmal hebt sie das Haupt, fängt an zu reden und spricht zum Königssohn:
„O mein süsser Freund, wie gut, dass du mich geweckt hast. Ich mag wohl lange geschlafen haben.“
„Du hättest bis in alle Ewigkeit geschlafen,“ sagt der Königssohn, „wenn ich dich nicht erweckt hätte.“
Jetzt erst merkte die Prinzessin, dass sie tot gewesen war und der Königssohn sie auferweckt hatte; sie bedankte sich sehr schön und versprach, ihm Gutes mit Gutem zu vergelten.
Nachdem der Königssohn von dort Abschied genommen hatte, ging er geradewegs zum kahlen König; und schon von weitem sah er, dass er den grossen Berg ganz abgetragen hatte. Sobald er dort anlangte, sah er, dass der König den Korb unter das Haupt geschoben, den Spaten und die Haue neben sich hingelegt hatte und gestorben war. Geschwind zog er auch hier seine goldene Flasche hervor, besprengte damit den kahlen König und erweckte ihn zum Leben wie vorhin die Prinzessin. Auch dieser versprach, ihm Gutes mit Gutem zu vergelten, und der Königssohn verabschiedete sich von ihm und ging zum Adlerkönig, und der Adlerkönig hatte den grossen Baum von der Wurzel bis zum Wipfel so zusammengerüttelt, dass auch vom allerkleinsten Zweig nichts mehr zu hören und zu sehen war; er selbst aber hatte die Flügel ausgebreitet, seinen Schnabel zur Erde gesenkt und war tot; sogar die Fliegen umsummten ihn schon. Der Königssohn zieht erst die goldene Flasche vor, begiesst damit den Adlerkönig; da erwacht auch dieser, kommt zu sich und beginnt zu sprechen:
„Ach, wie lange habe ich geschlafen! Ich danke dir, dass du mich wecktest, mein lieber, guter Freund!“
„Du würdest bis in alle Ewigkeit geschlafen haben,“ sagt der Königssohn, „wenn ich dich nicht erweckt hätte.“
Jetzt merkt der Adlerkönig, dass er tot gewesen war. Er erinnert sich des Königssohns und dankt ihm, dass er ihn auferweckt habe, und verspricht, Gutes mit Gutem zu vergelten.
Danach nimmt der Königssohn auch vom Adlerkönig Abschied, macht sich auf und gelangt bald zu seines Vaters Königsstadt; aber schon von weitem bemerkt er, dass die königliche Residenz versunken ist, keine Kunde, kein Stäubchen davon ist übrig geblieben. Er geht näher darauf zu, und da war ein Schwefelsee aus ihr geworden, der mit blauen Flammen brannte wie guter Pflaumenbranntwein. Da gab der Königssohn alle Hoffnung auf, dass er irgendwie seinen Vater und seine Mutter auffinden könne, und trat voll Kummer den Rückweg an; aber wie er da aus der Stadt schreitet, ruft ihn jemand von hinten mit diesen Worten an:
„Halt, Königssohn, du bist am rechten Platz. Es sind just tausend Jahre, dass ich dich unaufhörlich suche.“ Der Königssohn schaut sich um und erkennt, dass der, der ihn angerufen hat, der alte Tod ist. (Zum Kuckuck mit ihm!) Geschwind dreht er den Ring an seinem Finger, und wie der Gedanke so schnell ist er beim Adlerkönig, von da beim kahlen König, von dort bei der Nebelschleier stickenden Prinzessin; jeden heisst er, die ganze Heeresmacht bereit halten, um den Tod aufzuhalten, bis er bei der Königin der Unsterblichkeit angelangt sein kann. Aber der Tod galoppierte überall so schnell hinter ihm drein, dass, als der Königssohn seinen einen Fuss in die Burg der Königin der Unsterblichkeit setzte, der Tod den anderen draussen ergriff mit den Worten: „Halt! du bist mein!“
Das sah die Königin der Unsterblichkeit, und sie rief von ihrem Fenster hinunter und schalt den Tod, was er in ihrem Reiche zu suchen habe, da dort seine Macht ein Ende habe.
„Allerdings!“ sagt der Tod, „aber sein eines Bein ist in meinem Reich; das ist mein.“
„Allerdings, aber jedenfalls ist er zur Hälfte mein,“ sagt die unsterbliche Königin, „und was hättest du davon, wenn wir ihn teilten. Die Hälfte von ihm kann weder mir noch dir taugen. Aber ich sage dir: komm herein zu mir, ich erlaube es jetzt, und hier werden wir beide die Sache mit einer Wette ordnen.“
Der Tod ging darauf ein, kam in die Burg der Königin der Unsterblichkeit, und die Königin schlug ihm vor, dass sie den Königssohn hinauf werfen werde, geradwegs bis in den siebenten Himmel, hinter den Rücken des Morgensterns, und wenn sie ihn so hinaufschleudern könne, dass er in der Burg niederfällt, dann sei er der Königin; wenn er hingegen jenseits der Burgmauer niederfalle, so gehöre er dem Tode. Der Tod ging auf diese Wette ein. Nun stellte die Königin den Königssohn in die Mitte der Burg, zwängte ihren Fuss unter die Füsse des Königssohns und schleuderte ihn so hinauf zwischen die Sterne, dass er sich dort ganz verlor; aber bei der Anstrengung taumelte die Königin ein wenig und erschrak sehr, dass nun der Königssohn ausserhalb der Burg niederfallen werde; sie lauerte also eifrig, dass der Königssohn wiederkehre. Auf einmal erblickt sie ihn wie eine kleine Wespe; sie misst mit dem Auge, wo er wohl sei, wo er wohl niederfallen würde; wahrhaftig! gerade auf die Burgmauer! – durchfährt es die Königin. Aber ein kleiner Südwind hat doch so viel genützt, dass der Königssohn hart an der inneren Seite der Burgmauer niedergefallen wäre, hätte ihn die Königin nicht aufgefangen. Schnell sprang die Königin hinzu und wie einen leichten Ball fing sie ihn auf, trug ihn in ihren Armen ins Schloss, und wie sie sah, dass ihm ein wenig schwindelte, küsste sie ihn, dass er wieder zu sich komme. Nun befahl die Königin ihrem Hofgesinde, dass es alle Besen hervorsuchen, sie anzünden, und mit Feuerbesen den Tod aus der Burg der Königin der Unsterblichkeit hinauspeitschen sollten, und gebot ihm, dass er ferner nicht wagen solle seinen Fuss dahin zu setzen. Der Königssohn und die Königin aber leben glücklich und in Freuden bis heute. Wer es nicht glaubt, der suche das Schloss der Königin der Unsterblichkeit auf, das am Ende der Welt in den Wolken über dem Fluss schwebt, und wenn er es erwischt, so wird er sofort von der Wahrheit des Märchens überzeugt sein.
Quelle:
(Ungarische Volksmärchen)