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Märchenbasar

Der Königssohn und der Tod

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Ein mächtiger König saß in seinem Reiche; er hatte Güter aller Art und erlesene Berater, weltliche Ehre und unermeßlichen Reichtum an Gold und Edelsteinen, und seinen Stolz setzte er darein, in seiner Halle Männer zu haben, die man Philosophen nennt, das heißt hochgelehrte Weise. Nun geschah es, daß ihm die Königin einen Sohn gebar, und der wuchs heran, wie es einem Königskinde geziemt, hold und freundlich, beständig und trefflich, männlichen Sinnes ohne Falsch und Hehl.
Und als er so alt war, daß an seine Unterweisung gedacht werden mußte, stand eines Tages, als der König an seiner Tafel saß, der weiseste Meister auf, der in der Halle war, trat vor den Hochsitz und sagte: „Herr, wir glauben, Euer Sohn ist von Gott gegeben, auf daß er dereinst auf Eurem Throne sitze, und darum erbiete ich mich, ihn in jeglicher Wissenschaft zu unterweisen.“ Der König aber sagte mit gar zorniger Miene: „Was könntest du meinen Sohn lehren? Dein Wissen ist mehr wert als die Possen fahrender Leute und das Spiel der Kinder. Und mein Sohn soll nicht zu deinen Füßen sitzen, sondern er soll ohne Unterricht bleiben, oder er soll den Meister erhalten, der ihn unbekannte Weisheit lehren kann, von der ihr nie etwas gehört habt.“
Nach einigen Tagen, als der König wieder bei Tische saß, wurde leise an die Tür gepocht, und als die Wächter nachsahen, stand draußen ein Mann mit dem Gehaben eines Weisen, und der verlangte, vor den König geführt zu werden. Der König erlaubte es, und der Mann kam herein; er trug einen großen Filzhut, so daß man sein Gesicht nicht genau sehen konnte, rückte auch zum Gruße nur wenig an der Krempe und sagte: „Heil Euch, Herr!“ Und er fuhr fort: „Ihr seht, Herr, daß ich ein Weiser bin, und da mir ein Wort von Euch wegen des Unterrichts Eures Sohnes zu Ohren gekommen ist, das Euren Räten etwas hochfahrend erschien, so bin ich gekommen, um ihm mit meinem Wissen zu dienen; denn was ich ihn lehren kann, wird, hoffe ich, keinem lebenden Menschen bekannt sein. Da ich aber alt und schrullig bin, so mag ich nicht dem Lärm der Welt ausgesetzt sein, und darum laßt für uns in dem Walde zwei Meilen vor der Stadt ein Haus errichten und Unterhalt für ein ganzes Jahr hinschaffen; denn ich will, daß uns dort niemand störe.“ Dieser Rede war der König froh, und er ließ schleunigst alles so herrichten. Und als der Meister und der Königssohn das Haus bezogen hatten, da setzte sich der Meister, wie es ihm zukam, auf den Hochsitz, und der Königssohn setzte sich ihm zu Füßen, so demütig, wie ein Kind geringen Standes. Und so saßen sie am ersten Tag und schwiegen, und den zweiten und den dritten, und kein Wort wurde laut. Um es kurz zu machen, das ganze Jahr diente der Königssohn früh bis spät dem Meister und saß schweigend zu seinen Füßen. Und als das Jahr zu Ende war, sagte der Meister: „Morgen, mein Sohn, wird man uns holen und vor den König führen. Er wird dich um den Unterricht fragen, und du magst ihm antworten, du dürftest von deiner Belehrung nichts sagen, du wissest aber, daß dergleichen noch nie ein menschliches Ohr vernommen habe. Und dein Vater wird fragen, ob du noch weiter bei mir bleiben willst, ich gebe dir keinen Rat.“ Und so geschah es, wie der Meister gesagt hatte, und der Königssohn sagte, er gehe gern in das Haus am Walde zurück.

Das zweite Jahr verlief wie das erste, und wieder entschloß sich der Königssohn, in der Einsamkeit zu verharren, und das dritte Jahr verging in demselben Schweigen. Als aber auch dieses Jahr zu Ende war, sagte der Meister: „Mein Sohn, nun sollst du den Lohn für dein Schweigen, deine Geduld und deine Treue erhalten; denn du bist der Lehre würdig, die noch keinem Wesen zuteil geworden ist. Wisse, ich bin kein Mensch, sondern ich bin der Tod, und die Weisheit, die ich dir geben will, soll dich berühmt machen durch alle Lande, und nun gib wohl acht: Wenn ein Mensch in der Stadt krank wird, so gehe zu ihm, und du wirst mich bei ihm sitzen sehen, und du mußt beachten, wo ich sitze. Sitze ich bei seinen Füßen, so sollst du, wie es auch eintreffen wird, sagen, daß er lange, aber nicht sehr schwer krank sei und davonkommen wird; sitze ich ihm zur Seite, so wird die Krankheit schwerer, aber kürzer sein und ihr Genesung folgen; sitze ich aber zu seinen Häupten, so ist der Tod gewiß, mag die Qual länger oder kürzer währen. Und erkranken deine Freunde oder angesehene Leute, die du erfreuen oder deren Freundschaft du erwerben willst, oder willst du Geld oder Ehre von ihnen erlangen, so nimm den Vogel Karadius: sitze ich nicht am Kopfende des Kranken, so halte ihm den Vogel ins Gesicht, denn der Vogel hat die Eigentümlichkeit, die Krankheit aufzusaugen und aufzunehmen, und dann laß ihn los, und er fliegt mit der Krankheit hoch in die Luft und nahe zur Sonne und bläst die Krankheit in sie hinein, und sie nimmt sie auf und zerstört sie in ihrer Hitze. Und damit ist meine Lehre zu Ende und unser erstes Zusammensein; wir werden uns zwar wiedertreffen, aber das Widersehen wird dir keine Freude bringen.“ Damit schloß der Tod seine Rede.

Und es kam der Tag, wo sie beide vor den König gerufen wurden, und der Königssohn stellte dem Meister ein Zeugnis des Lobes aus, und der Meister erntete von dem König reichen Dank und das Angebot von Gaben und Ehrenbezeigungungen; er aber schlug alles aus und bat nur um Urlaub. Die Weisheit des Königssohnes wurde zunächst nicht gar hoch angeschlagen, aber mit der Zeit gewann er Ansehen, und das wuchs immer mehr, und schließlich war es das allgemeine Urteil, seinesgleichen sei noch nie geboren gewesen. Und bald waren gleichsam alle Länder in Bewegung ihn aufzusuchen, und er macht weite Reisen zu vornehmen Leuten, um ihre Krankheiten zu untersuchen. Und dann starb sein Vater, und als er den Thron bestiegen hatte, besuchte er nur noch die seine Freunde und die Mächtigen des Landes. Aber trotz seiner Gabe war er nicht hochmütig, sondern blieb herablassend und sanft und mild, so daß ihm jedes Kind von Herzen hold war. So vergingen seine Tage in Ruhm und Glück, und als er hundert erreicht hatte, war er noch ein rüstiger Mann.

Da kam eine heftige Krankheit über ihn, die wenig Aussicht zur Rettung ließ, und als er da einmal aus einer Ohnmacht erwachte, sah er, daß sein alter Meister mit dem breiten Filzhut gekommen war, und der saß dicht bei seinem Haupte. Und er sagte zu ihm: „Meister, warum bist du so bald gekommen!“ Und er Tod antwortete: „Einmal muß es sein.“ Und der König sagte: „Damals als ich, ein Königskind, drei Jahre lang schweigend zu deinen Füßen saß, hätte ich nicht gedacht, daß du mich wegreißen werdest aus der Fülle des Glücks und der königlichen Ehren und obwohl ich noch rüstig bin und zur Regierung wohl tauglich.“ Der Tod aber sagte, der König müsse durchaus mit ihm gehen; da sagte dieser: „So viel Frist wirst du mir aber doch gewähren, daß ich noch ein Vaterunser sprechen kann“, und der Tod gewährte die Frist eines Vaterunser. Und der König sprach die ersten vier Bitten des Vaterunsers; als er aber zu der Stelle gekommen war: „Vergib uns unsere Schuld“, schwieg er still. Der Meister wartete lange, aber er blieb stumm. Endlich sagte der Meister: „Warum, mein Sohn, betest du nicht weiter?“ Und der König antwortete: „Ich will nicht. Du hast mir gewährt, daß ich noch ein Vaterunser sprechen darf, und den Schluß werde ich nicht ehr beten, als bis ich gelebt habe, solange es mein Herz begehrt, und dann werde ich das Gebet freiwillig beenden.“
Und er Tod sagte: „Es ist deiner List gelungen, mich zu betrügen, und so wiest du für diesmal deinen Willen behaupten.“ Und er schied, und mit dem Könige wurde es so rasch besser, daß es allen ein Wunder schien, wie die Krankheit wich.

Und er lebte in seinen Ehren ein zweites Jahrhundert; dann aber hatte ihn das Alter so gebeugt und gelähmt, daß ihm das Leben zur Last ward. Er berief alle Großen seines Landes, und sie kamen allesamt, und der Königsstuhl wurde aufgestellt, und seine Mannen führten ihn hin. Und er traf Bestimmungen über das Reich und die Königswürde und erteilte seinem Volke guten Rat und väterliche Ermahnung, Gott zu fürchten und die Rechte des Landes nach den alten Satzungen guter Fürsten zu gewahren.
Dann legt er sich bei hellem Tage zu Bett und gebot den Geistlichen, ihn auf die letzte Stunde vorzubereiten. Und das geschah, und dann erzählte er seinen Vertrauten alles, was sich zwischen ihm und dem Tod zugetragen hatte, und endlich sagte er: „Nun komm, Meister, und höre, wie ich mein Gebet beende; ich bin bereit.“ Und der Meister kam, und der König begann: „Vergib uns unsere Schuld“, und in dem Augenblicke, wo er das Amen sprach, schied er aus seinem Leben.
Und er wurde, obgleich er alt war, sehr beweint, und damit hat diese Geschichte ein Ende.

Quelle: Märchen aus Schottland

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