Nach einiger Zeit kam er in einen großen Wald. Da begegnete ihm ein alter Mann und bat ihn um eine kleine Gabe. „Ich bin schon drei Tage ohne Essen und habe kein Geld, um mir etwas zu kaufen. Wollt Euch meiner erbarmen, lieber Herr!“ bat er. Der Prinz aber wies ihn mit barschen Worten von sich und ritt weiter, immer tiefer in den dunkeln Tannenforst hinein. Am Abend traf er plötzlich mitten im Wald ein großes Gasthaus an. Müde und hungrig kehrte er ein, stärkte sich und ging dann früh zu Bett. Als er aber am andern Morgen weiterreisen wollte, traten zwei wunderschöne Mädchen zu ihm ins Zimmer und baten ihn mit schönen Blicken und Schmeichelworten, doch noch eine Weile hierzubleiben und zum Zeitvertreib ein Kartenspiel mit ihnen zu machen. Da vergaß er seinen kranken Vater und die wichtige Reise ganz, blieb bei den Mädchen und spielte und spielte Karten, bis er zuletzt all sein Geld verloren hatte. Weil er aber einmal wieder zu gewinnen hoffte, gab er seine Sache nicht verloren, sondern machte beim Wirt Schulden. Doch er verspielte auch das entliehene Geld und hatte nun nichts mehr bei sich was er zum Pfande geben konnte. Als ihn aber der Wirt nach Namen und Herkunft fragte, gab er keine Auskunft und verschwieg auch, daß er einer der drei Königssöhne war. Da ließ ihn der Wirt gefangennehmen und in den Kerker werfen und sagte: „Zwei Jahre gebe ich dir Frist; wenn du bis dahin deinen Namen nicht genannt und deine Schuld bezahlt hast, so bringe ich dich an den Galgen!“
Nun war ein Jahr um, und der älteste Prinz war nicht zurückgekehrt. Da machte sich der zweite auf den Weg. Auch er kam in den großen dunkeln Wald und begegnete dem alten Mann. Als der ihn aber um ein Almosen bat, machte er es wie sein Bruder und wies den Bettler mit unfreundlichen Worten ab. Dann ritt er weiter, bis er an das einsame Waldwirtshaus kam. Dort stieg auch er ab, übernachtete in derselben Kammer, in der vor einem Jahr sein Bruder geschlafen hatte, und wollte in der Frühe wieder weiterreisen. Als er aber die zwei schönen Mädchen zu Gesicht bekam, dachte er mit keinem Gedanken mehr an seinen kranken Vater und den Liebesdienst, den er ihm erweisen sollte. Er blieb im Wirtshaus sitzen, spielte Tag und Nacht Karten mit den Mädchen, verlor sein ganzes Geld und machte noch viele Schulden dazu. Da ging es ihm genau so wie seinem Bruder: Er wurde eingesperrt und ins Gefängnis geworfen. , Als wieder ein Jahr vergangen und auch der zweite Prinz nicht zurückgekehrt war, wollte der jüngste die Reise in das ferne Land antreten, um dem kranken Vater einen Apfel aus dem Traumgarten zu holen. Doch seinen jüngsten und liebsten Sohn wollte der König nicht ziehen lassen. Er befürchtete, es möchte ihm ein Unglück zustoßen wie seinen Brüdern; denn er dachte nicht anders, als daß sie ums Leben gekommen seien. Weil ihm aber der Prinz gar keine Ruhe ließ und Tag für Tag seine Bitte wiederholte, so gab der König endlich nach und ließ auch seinen letzten Sohn die weite Reise antreten.
Er schlug die gleiche Straße wie seine beiden älteren Brüder ein, gelangte bald in den großen Wald und traf den alten Bettler zerlumpt und todesmatt unter einer Eiche sitzend an. Als er ihm seine Not klagte und ihn um ein Almosen bat, griff er sogleich voller Mitleid in die Tasche und drückte dem Greis ein Goldstück in die Hand. Darauf unterhielt er sich noch eine Weile freundlich mit ihm, erzählte auch von dem kranken Vater und seinem Traum von den Lebensäpfeln, und daß er, derjüngste Sohn, nun unterwegs sei, den wunderbaren Garten zu suchen. Der Alte hörte sich alles ruhig an und sagte dann: „Fahre mit Glück! Nur hüte dich, Galgenfleisch zu kaufen!“ Der Prinz wußte zwar nicht, was der Greis mit seiner Rede meinte, bedankte sich aber von Herzen und ritt weiter, bis er an das Wirtshaus im Walde kam. Da stand der Wirt unter der Türe und lockte ihn mit schönen Worten, bei ihm und seinen zwei jungen Töchtern einzukehren. Doch er ließ sich nicht dazu verleiten und setzte unbekümmert seinen Weg fort.
Nach langer, langer Zeit kam der Prinz endlich in ein Land, in dein er weder Menschen, noch Dörfer, noch Städte antraf Nur unzählige Vögel und alle Arten Tiere aus Wald, Wiese und Feld umdrängten ihn zutraulich und begleiteten ihn in langem Zuge zu ihrem König – einem uralten weißen Raben, der mitten im Walde auf einer Eiche wohnte. Wie wunderte sich der Prinz, als er unter den mächtigen Bau betrat und der Rabe ihn mit menschlicher Stimme begrüßte und ihn fragte, wer er sei und was ihn hierher in sein Reich führe. Da erzählte der Prinz den Traum seines Vaters und fragte, ob dies das Land sei, in dem der Garten mit dem wunderbaren Apfelbaum liege. – „ja“, sagte der Rabe, „dies ist das Land mit dem Garten des Lebens. Alles aber, was in ihm lebt, ist verwunschen, und du bist der Glücksprinz, der es aus seiner Verzauberung befreien kann. Brich auch für mich einen Apfel von dem Baume, so wird nicht nur dein kranker Vater wieder gesund werden, sondern auch ich und alle Tiere des Landes werden ihre enschliche Gestalt wiedererhalten.“ – „Oh, wie gerne will ich deinen Wunsch erfüllen!“ rief da der Prinz voller Freude aus. „Sage mir nur, wie ich dabei zu Werke gehen soll!“ – „Geh ohne Furcht in den Garten, derjenseits der goldenen Brücke liegt; schrecke auch nicht davor zurück, das Schloß zu betreten; versäume nur nicht, den (;arten zur rechten Stunde wieder zu verlassen!“ sprach der Rabe und flog in den höchsten Wipfel der Eiche hinauf.
Der Prinz machte sich sogleich auf den Weg, und die Tiere begleiteten ihn durch den Wald zu dem Garten. Als sie bei der goldenen Brücke angelangt waren, blieben sie zurück und ließen ihn allein weitergehen. Obwohl zu beiden Seiten der Brücke ein grimmig großer Löwe auf Wache lag, schritt der Prinz ohne Furcht hindurch und betrat den Garten. Was war da für eine Pracht an seltenen Blumen und Blüten aller Art zu schauen! Doch der Prinz beachtete sie kaum; er ging geradeaus auf den Wunderbaum zu, pflückte zwei der, goldenen Äpfel und barg sie sorgsam in seiner Reisetasche. Als er sich umwandte, stand mit einem Male ein marmelweißes Schloß inmitten des Gartens. Um die Torsäulen ringelten sich aber zwei riesige Schlangen, die mit bösen Blicken und wildem Zischen dem Prinzen den Eintritt wehren wollten. Er aber trat ohne Bangen in das Schloß und traf in dem großen, goldenen Saal ein Mädchen an, das so hold und schön war, wie ihm in seinem Leben noch keines begegnet war. „O mein Prinz! Mein Erretter!‘ ’sprach es überglücklich vor Freude. „Wie lange schon warte ich hier auf dich; nun bist du endlich gekommen und wirst mich arme Königstochter und alle, die mit mir verwunschen sind, befreien!“ Und der Prinz, der die schöne Prinzessin auf den ersten Blick liebgewonnen hatte, küßte sie, steckte ihr seinen Ring an die Hand und verlobte sich mit ihr in derselben Stunde. Plötzlich aber brüllten die beiden Löwen, die die goldene Brücke bewachten, laut auf und die Prinzessin sprach: „Dies ist das Zeichen! Nun mußt du mich und den Garten verlassen. Beeile dich! Aber sei ohne Sorge, wir werden uns wiedersehen, wenn die Zeit gekommen ist.“ Da verließ der Prinz das Schloß und den Garten, und kaum war er draußen im Walde angelangt, da wurde die goldene Brücke hochgezogen und all die Herrlichkeit war wie ein Traum verschwunden.
Die Tiere aber, die ihm den Weg zum Garten mit dem Lebensbaum gewiesen, hatten geduldig auf ihn gewartet und begleiteten ihn nun wieder zu dem Baum des weißen Raben. Der empfing den Prinzen voller Freude und aß sogleich den Apfel, den ihm dieser mitgebracht hatte. Kaum aber war dies geschehen, da war der Rabe in einen König verwandelt, und auch alle die hundert und aberhundert Tiere waren wieder zu Menschen geworden. Auch die Städte und Dörfer, die versunken waren, stiegen aus der Erde empor, und Straßen und Gärten und alles war wieder so, wie es einst gewesen. Aus allen Fenstern wehten bunte Fah- nen, und die Freude und der Jubel wollte kein Ende nehmen. jeder wünschte den Prinzen zu sehen, um sich bei ihm für die wunderbare Befreiung zu bedanken. Der König hätte ihm gern sein ganzes Königreich gegeben, aber der Prinz‘ hatte nur den einen Wunsch, seinen Vater bald wiederzusehen und ihm mit dem goldenen Lebensapfel seine Gesundheit wiederzuschenken. Deshalb nahm er mit herzlichen Worten Abschied und trat die Heimreise an.
Als er ohne Unterbrechung einen Tag und eine Nacht geritten war, kam er in eine große Stadt. Da sah er zwei schwarze Fahnen vom Turme wehen und fragte einen Mann, was das denn zu bedeuten habe. – „Das kann ich Euch erzählen“, antwortete der Mann. „Es ist nun etwas mehr als zwei Jahre her, da haben in einem nahen Wirtshaus zwei fremde Prinzen beim Kartenspiel große Schulden gemacht, die sie bis heute noch nicht bezahlen konnten. Weil sie aber auch in böser Verstocktheit verschweigen, wie sie heißen und woher sie stammen, sollen sie morgen vor Sonnen-‚ aufgang gehängt werden.“ -„Kann denn niemand sie retten?“ fragte der Prinz. – „O doch“, entgegnete der Mann; „wenn sich einer findet, der für sie die zweitausend Taler Schulden bezahlt, wird man sie schon freilassen.“ Der Prinz hatte gleich geahnt, wer die beiden Gefangenen waren, begab sich auf das Gericht und kaufte seine Brüder los. Ohne ihn aber erkannt zu haben, zogen sie auf seine Bitte mit ihm weiter, der Heimat zu.
Als sie aber eine Weile miteinander gewandert waren, gab sich der Prinz seinen Brüdern zu erkennen und erzählte ihnen, wie er ferne von hier den Garten mit dem wunderbaren Baum gefunden habe, und zeigte ihnen auch den Apfel, den er dem kranken Vater bringen wolle. Das hörten die beiden Brüder mit heimlichem Neide an und faßten böse Gedanken in ihren Herzen. Und als, sie bald darauf an einer tiefen Schlucht vorüberkamen, warfen sie sich hinterrücks auf den Bruder und stießen ihn über den Felsen hinunter. Dann töteten sie sein Pferd, nahmen den Apfel an sich und zogen weiter aufs Schloß ihres Vaters. Der König freute sich, daß er seine beiden ältesten Söhne wieder hatte, aß den Apfel und war von Stund an gesund. Sie aber belogen ihn, daß sie das Pferd ihres jüngsten Bruders in fremdem Land tot am Wegrande aufgefunden hätten und daß er wohl nicht mehr am Leben sein werde.
Ja, das hätten die beiden Übeltäter gerne wahrgehabt! Aber ihre böse Absicht war damals vereitelt worden. Derjunge Prinz war, als sie ihn über die Felswand gestoßen hatten, im Geäst einer Esche hängen- geblieben. Nachdem er sich aber einen Tag – lang vergeblich abgemüht hatte, aus dem abgründigen Geklüfte emporzusteigen, hörte er eine Stimme von oben rufen: „Prinz! Seid Ihr es, der da zwischen Leben und Tod über dem Abgrund schwebt?“ – „ja, ich bin es. Zum Dank dafür, daß ich sie vom Henkerstode losgekauft habe, stießen mich meine neidischen Brüder in die Schlucht. Sagt, wer seid Ihr? Helft mir! Helft!“ – „lch bin der Bettler, dem Ihr einst das Goldstück geschenkt habt. Habe ich Euch nicht gesagt, Ihr sollt kein Galgenfleisch kaufen? Weil Ihr es seid, will ich Euch noch einmal helfen.“ – So wurde der Prinz aus höchster Not gerettet, dankte dem Bettler und beschenkte ihn reichlich; dann wanderte er auf beschwerlichen und schier endlosen Wegen dem väterlichen Schlosse zu.
Inzwischen war fast ein Jahr vergangen, seit er den Apfel aus dem Lebensgarten geholt und die verwunschene Prinzessin im Marmelschlosse geküßt und zu seiner Braut gemacht hatte. Nun hatte sie einen schönen Knaben geboren und sich mit ihm in Begleitung von tausend Rittern aufgemacht, das ferne Königreich und denjungen Prinzen zu suchen. Drei Monde war sie unterwegs, da leuchteten in der Ferne die Zinnen der Königsburg in der Morgensonne au£ Die Prinzessin befahl, das Heerlager aufzuschlagen; ließ den Weg, der zum Schloß hinaufführte, mit einem kostbaren scharlachroten Teppich belegen und sandte einen Boten zum König mit der Aufforderung, ihr seinen jüngsten Sohn entgegenzusenden, andernfalls werde sie die Burg stürmen und in Schutt und Asche legen lassen. Was sollte da der alte König in seiner Not tun? – „Woher soll die fremde Prinzessin wissen, welcher derjüngste von uns ist?“ sagte der älteste Sohn. „Laß m i c h ihr entgegenreiten, Vater!“ – Was blieb dem König anderes übrig, als ihn ziehen zu lassen? Wie nun aber der Prinz den kostbaren Scharlachteppich liegen sah, wagte er es nicht, das Pferd darauf zu lenken, sondern ritt daneben her. Daran erkannte die Prinzessin, daß es der falsche war, hieß ihn schnellstens umkehren und den richtigen Prinzen schicken. Nun sandte der König ihr seinen zweiten Sohn entgegen. Auch der wagte nicht, auf dem kostbaren Teppich zu reiten, sondern lenkte sein Pferd vorsichtig daran vorbei. Da wurde die Prinzessin zornig und befahl ihm, zurückzureiten und den zu schicken, den sie zu ihrem Empfange gewünscht habe. Erscheine er binnen drei Tagen nicht vor ihr, so werde geschehen, was sie angekündigt habe.
„Was nun tun?“ fragte der König verzweifelt. „Mein jüngster Sohn ist tot, und niemand kann ihn mir wiederbringen! Wäre ich doch an seiner Statt gestorben, so müßte ich nun nicht auch noch das Ende meines Hauses erleben“. Zwei Tage und zwei Nächte saß er grübelnd und ohne Schlaf zu, finden in seinem Stuhle und glaubte an keine Rettung mehr. Am Morgen des dritten Tages war aber auf geheimem Waldpfade der jüngste Prinz auf die väterliche Burg zurückgekehrt. Obwohl er von seiner langen Reise so müde und matt war, daß seine Füße ihn kaum mehr trugen, zog er doch gleich seine schönsten Kleider an und ritt der Prinzessin entgegen. Und er ritt aufrecht und stolz, so wie es einem echten Königssohne gebührt, mitten auf dem herrlichen Scharlachteppich. .,Er ist es!“ rief die Prinzessin aus und eilte ihm entgegen, den Knaben auf dem Arm und wie eine Braut geschmückt. Sie umarmten und küßten sich und weinten vor Glück und Freude. Er küßte auch den Knaben, strich ihm und dann der Mutter lächelnd übers Haar und sprach: „Nun bist du ja schon meine liebe Frau.“ Dann traten sie vor den greisen König und der gab ihnen seinen väterlichen Segen. Sie wollten aber nicht mit den Brüdern zusammen im selben Hause leben und kehrten darum in die Heimat der Prinzessin zurück, zögen in das Marmorschloß ein, das mitten im Garten des Lebens stand, bekamen viele gesunde und schöne Kinder und waren glücklich bis an ihr Ende.
Quelle:
(Schwäbische Volksmärchen – Franz Georg Brustgi)