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Märchenbasar

Der Maultrommelspieler

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Vor zwei oder drei Menschenaltern verschwand auf der Alp im Westfjäll ein dreijähriger Ochse. Die Leute mochten nach ihm suchen, soviel sie wollten, sie konnten ihn nicht finden, und im Herbst zogen sie wieder zu Tal. Während die Großmutter am Tag vor der Talfahrt draußen im Schuppen den Rahm von den Milchschüsseln schöpfte und die erste Magd in der Hütte den Käse aus dem großen Kessel fischte, kam ein kleines Hirtenmädel hereingesprungen und rief, der große Ochse stehe an der Salzlecke und lecke. Als die Mutter hinaustrat, sah sie nichts von ihrem Ochsen. Da meinte sie, das kleine Mädchen habe wohl falsch gesehen; aber die Kleine blieb dabei, es sei der große Ochse gewesen. „Ich habe den weißen Fleck gesehen, den er an der Stirn hat, und er hatte sich das eine Hörn abgebrochen“, sagte sie. Der Mann und zwei von den Söhnen waren jeder nach einer anderen Richtung unterwegs und suchten und suchten: aber alle drei kamen sie am Abend zurück und keiner hatte etwas gefunden. Als sie hörten, was das kleine Mädchen erzählte, warf sich der eine von den Söhnen auf sein Pferd und ritt in gestrecktem Galopp heim, um seine Büchse zu holen, zerbrach einen stählernen Pfeil in kleine Stückchen, lud damit die Büchse, kehrte in höchster Eile zurück und schoß kreuzweise über die Salzlecke. „War der Ochse verhext, so sollte er nun zum Vorschein kommen“, meinte er. Aber es half nichts, der Ochse war und blieb verschwunden.
Der älteste Sohn sollte noch einmal auf die Alp hinaufgehen und sich überall umsehen. Er suchte weit und breit nach allen Himmelsrichtungen, bis er meinte, er rieche den Ochsen; aber trotzdem: er sah kein lebendes Wesen, weder da noch dort, so lang es Tag war. Schließlich wurde er zornig und schwur, das verhexte Vieh solle bis ans Ende der Welt gehen, wenn es nicht mit der übrigen Herde gehen wolle. Damit kehrte er um, ging auf die Almhütte zu, so rasch er konnte, und hatte vor, auf dem Heimweg den Bären mitzunehmen, den er erlegt hatte.
Da stand am Zaun der Almhütte der große Ochse und leckte Salz. Und das eine Hörn hatte er abgebrochen. Wo er sich so lange herumgetrieben hatte, wußte wohl nur er, der Bursche wußte es nicht. Nun war es aber schon so spät am Tag, daß er gerade noch heimkommen konnte, wenn er sich eilte. Hätte er aber noch dazu den Ochsen führen und ziehen sollen, so wäre es finstere Nacht geworden, ehe er recht unterwegs war. Es waren dunkle Herbstnächte, müßt ihr wissen, und kalt dazu, und da ist nicht gut sein unter freiem Himmel im Gebirg. Darum beschloß er, bis zum Morgen zu warten, obgleich die Nacht öde und einsam werden mußte in der Alphütte. Also hieb er sich einen gehörigen Arm voll Birkenreis, legte es auf den Herd, und bald wurde es in der Hütte warm und behaglich, und so hell wie in einer Weihnachtsstube. Als er sein Abendbrot gegessen hatte, warf er sich auf die Pritsche, zog seine Maultrommel aus der Westentasche und fing an, den Thomasglockenreigen zu spielen. Aber er spielte nicht lange, da schlief er schon mit dem Instrument am Munde ein. Auf einmal erwachte er wieder und meinte, am anderen Ende der Hütte etwas ganz leise rascheln zu hören; er wandte den Kopf ein wenig und erblickte ein junges schönes Mädchen, das am Tisch stand und die Haare flocht. Die waren so lang, daß sie dem Mädchen bis über die Hüften fielen, und so schön und glänzend, als ob sie vergoldet wären. Ihr Gesicht konnte der Bursche nicht gleich sehen, aber als sie sich ihm einmal zuwandte, dünkte ihn, sie sei das schönste und feinste Mädchen, das ihm je vor Augen gekommen war. Ihresgleichen war weit und breit nicht zu finden, und er kannte die Mädchen der Gegend, vornehme und geringe. Der Bursche wagte nicht, sie anzureden; sie glaubte sich allein und sah so lieb und treuherzig aus, daß er fürchtete, sie zu verscheuchen. Also lag er mäuschenstille und bewegte nicht einmal einen Fuß.
Auf einmal kam ein anderes Mädchen herein; aber sie war von derberem Aussehen und hatte einen großen Mund und dunkle Gesichtsfarbe, nicht so hell und frisch wie die erste; sie gefiel ihm nicht so gut. Beide waren gleich angezogen: sie hatten grüne Röcke und Leibchen von rotem Samt, blaue Strümpfe und blanke Silberschnallen an den Schuhen. Die jüngere hatte weiße Hemdärmel, die ihn nur so blendeten vor Frische. Ihr Leibchen war ausgeschnitten und man sah eine schöne runde Spange, die einen feinen Klang gab, wenn sich das Mädchen nur im Mindesten rührte. Der Bursche begriff nun, was für eine Art Mädchen das war und wunderte sich je länger je mehr darüber, daß es bei den Unterirdischen so schöne Frauen gäbe. Es war Samstagabend, und deshalb schmückten und putzten sie sich wohl auch so eifrig: sie erwarteten vielleicht Besuch oder Freier. Der Bursche konnte nicht genau verstehen, was sie miteinander sprachen, denn sie wisperten so leise, daß er nur dann und wann ein Wort auffing; einmal sprachen sie von einem kleinen weißen Lämmchen, das am Tage lahm gegangen war.
„Ach, daran war der Bursche schuld, der in all den leeren Hütten auf der ganzen Alm nach dem brandroten Ochsen suchte. Ich habe gesehen, daß er mit einem Stein nach dem Lämmchen geworfen hat. Eigentlich sollte man ihn dafür strafen!“ meinte sie.
„Ja, aber er hat nicht gewußt, daß es ein Lamm war“, gab die jüngere zurück – die schöne mit den roten Wangen. „Es war auch nicht recht von der Großmutter, daß sie ihm seinen Ochsen versteckt hat und ihn weit und breit danach suchen ließ.“
„Er hätte ja seinen Ochsen nehmen können, der stand ja gerade neben der Hütte, und er lief haardicht an ihm vorbei!“ gab die ältere zurück.
„Ja, weißt du, aber er hielt ihn für eine Ratte“, sagte darauf die jüngere.
„Ach, wie dumm sind doch die Leute“, sagte die ältere wieder und lachte, daß es sie nur so schüttelte, „sie wollen so siebenmal klug sein und können einen brandroten Ochsen nicht von einer Ratte unterscheiden! Ha ha ha!“ und sie lachte so von Herzen darüber, daß auch ihre Schwester davon angesteckt wurde, und der Bursche mußte das Gesicht auch ein wenig zum Lächeln verziehen.
Nach einer Weile fing er an, einen ausgelassenen Tanz zu spielen. Aber da bekamen die Mädchen einen gewaltigen Schrecken. Sie schrien und überstürzten sich fast vor Entsetzen, und weg waren sie! Aber der Bursche spielte weiter. Nach einer kleinen Weile steckte die eine den Kopf zur Tür herein, und als sie sahen, worüber sie erschrocken waren, fingen sie an, draußen auf dem Vorplatz zu flüstern und zu kichern. Nach einer Weile wagten sie sich hinein und begannen, nach dem Reigen zu tanzen. Und die Mädchen konnten sich wahrhaftig drehen und die Beine brauchen! Sie flogen fast über den unebenen Boden dahin und waren so taktfest, daß jeder Schritt an seinem Platz war.
Als sie eine Weile getanzt hatten, und der Bursche mit ihnen bekannt geworden war – wie er meinte -, machte er seinen Gürtel los und schlang ihn um die schönere von den beiden und zog sie zu sich heran. Und sie ließ sich ziehen. Das ärgerte den Burschen, er hatte nicht geglaubt, daß ein so feines und schönes Mädchen sich so leichten Kaufes gewinnen ließe. Er ließ wie aus Unachtsamkeit das eine Ende des Gürtels los, und witsch – war sie davon! Ihre
Schwester rannte hinterdrein und warf die Tür hart hinter sich zu. Nun ärgerte sich der Bursche über sich selber, weil er sich’s hatte verdrießen lassen. Aber er dachte, er sei’s wohl nicht wert, ein so schönes und liebes Mädchen zu bekommen, denn es ist ein altes Wort, daß keiner seinem Schicksal entgehen kann. Schließlich dachte er, er könne sie vielleicht wieder durch sein Spiel herbeilocken, und er spielte eine Weise nach der anderen, das Schönste, was er wußte. Aber die Huldremädchen ließen sich nicht mehr sehen. Schließlich wurden seine Hände und sein Mund so müde, daß er aufhören mußte. Da kam ihm die ,,blaue Weise“ in den Sinn, die ein Spielmann in seiner Gegend in alten Zeiten von den Unterirdischen gelernt hatte. Kaum hatte er sie begonnen, als die beiden schon wiederhereingefegt kamen.
„Du spielst schön, du“, sagte die jüngere.
,,Man muß wohl schön spielen, wenn man so schöne Zuhörer hat“, gab der Bursche zurück.
„Ja, so sagte die Katze, da hatte sie eine Maus gefangen“, lachte das Mädchen.
„Kommt her, ich will euch die ,blaue Weise‘ lehren!“ sagte er. Sie kamen herbei und schauten ihm beim Spielen zu. Nach einer Weile griff die jüngere ihm in die Westentasche.
„Aber was ist denn das, ist das Lakritze?“ fragte sie und zog eine Rolle Tabak hervor.
„Ja, versuch nur!“ sagte der Bursche darauf. Sie biß ein Stückchen ab, spuckte es aber gleich wieder aus und zog ein jämmerlich saures Gesicht.
„Das ist aber eine bissige Lakritze“, sagte sie und putzte sich die Zunge am Ärmel ihres Hemdes ab.
„Ist das wirklich so bissig?“ fragte die andere und wollte auch versuchen. Der Bursche gab ihr auch davon und es ging ihr ebenso. Nie im Leben mehr wolle sie solche Lakritze haben, versicherte sie.
„Nein, ich will dir sagen, wie du gute Lakritze bekommst“, sagte die eine, „du mußt die Wurzel einer Blume kochen, die man Merialin nennt, und dieses Wasser in den Wacholderbeersaft gießen, dann bekommst du eine süße und gute Lakritze, die auch gegen Zahnweh hilft.“
Der Bursche sagte, er wolle es einmal versuchen, wenn er die Pflanze gefunden hätte.
Dann wollten die Mädchen wieder gehen; er war deswegen ganz verzweifelt und bat sie, noch eine Weile zu bleiben. Aber die Mädchen wollten durchaus nicht. Ihre Mutter erlaube es ihnen nicht, sagten sie. Als der Bursche sah, daß sie wirklich fortgingen, kam er ganz von Sinnen; er hatte das jüngere Huldremädchen so über alle Maßen gern, und nun sollte er sie nie mehr sehen! Ohne zu wissen, was er tat, warf er ihr die Maultrommel nach und traf sie am Kopf, gerade als sie zur Tür hinausging.
Da kam sie wieder herein. „Mutter, Mutter, ein Christenmensch hat Schwester Sireld gewonnen!“ rief die andere draußen auf dem Vorplatz.
Bald darauf kam ein uraltes Weib hinkend und schlurfend in die Hütte. Ihr Gesicht war so runzelig und dunkel, daß die gelben Zähne daraus hervorleuchteten, denn die hatte sie, so alt sie auch war.

„Nun kannst du sie behalten, da du sie gewonnen hast, jetzt ist sie nicht mehr verhext“, sagte die Alte zu dem Burschen, „wenn du gut gegen sie bist, so soll es dir nicht an Nahrung und Kleidung fehlen, und du sollst haben, was du am Sonntag und am Werktag brauchst. Bist du aber böse gegen sie, so sollst du es nicht umsonst gewesen sein!“ sagte die Alte und hob ihren Stock, als ob sie dem Burschen auf den Leib rücken wollte. Damit humpelte sie wieder hinaus. Er fand, er sei auf diese Art doch recht schnell zu einer Frau gekommen und fragte das Mädchen, wie die Sache zusammenhänge. „Die Maultrommel hat mich so schwer am Kopf getroffen, daß ein Tropfen Blut floß“, sagte das Mädchen, ,,und das war das Beste, was du tun konntest, denn ich will viel lieber bei Christenmenschen als bei den Unterirdischen sein“, sagte sie.
Er hatte sie auch jetzt über alle Maßen gern; aber doch schien ihm, als ob er nichts Schlimmeres hätte tun können; alles war so rasch gegangen und er hatte nichts zum Heiraten; aber nun war es eben geschehen. Am nächsten Morgen ging sie mit ihm heim. Seine Leute wunderten sich sehr, daß er mit solcher Begleitung nach Hause kam, und waren böse auf ihn; und sie suchten Fehler und Mängel an dem Mädchen, aber sie konnten nichts an ihr auszusetzen finden; das einzige war, daß sie gelbe Zähne hatte, aber das konnte ja nicht viel ausmachen. Sie war über alle Maßen freundlich, und es ging kein Mädchen zur Kirche hinauf, das ihr an Schönheit gleichkam.
Aber nach der Hochzeit fing er nach und nach an, sie schlecht zu behandeln. Er konnte nie vergessen, daß sie keine Christin war, wißt ihr; er schmollte und war immerfort böse und in schlechter Laune und redete niemals ein freundliches Wort mit ihr. Und er schlug ihr alles ab, worum sie ihn bat; war es auch die kleinste Kleinigkeit, immer hatte er nur ein kurzes „Nein“ dafür. Sie war trotzdem gut und freundlich und tat, als ob sie seine bösen Worte nicht höre, und war immer hilfreich und gütig. Aber er wurde doch von Tag zu Tag schlimmer. Rückwärts ging es mit ihnen, denn Streit im Haus jagt das Glück hinaus. Schließlich sah es aus, als ob sie Stab und Bettelsack nehmen und wie andere Bettler von Hof zu Hof ziehen müßten.
Eines Tages wußte sie gar nicht, was sie den Leuten zu essen geben sollte, denn es war auch nicht eine Brotkruste im Haus. Da wurde sie traurig, denn sie hätte es ja anders haben können, wenn er sie besser behandelt hätte; er stand gerade in der Schmiede und wollte ein Pferd beschlagen; da ging sie zu ihm hinaus.
„Willst du mir nun nicht den Pferch zimmern, um den ich dich schon so viele, viele Male gebeten habe?“ bat sie. „Tu es jetzt, ich will das Pferd beschlagen.“ Und sie riß das glühende Hufeisen von der Esse und bog es mit den bloßen Händen zurecht. Als er sah, was für Künste sie konnte, bekam er Angst und zimmerte ihr einen schönen großen Pferch hinter dem Stall, richtete einen Pfosten auf und schlug einen Haken hinein, gerade wie sie gesagt hatte. Am Morgen darauf war der ganze Pferch voller brandroter Rinder, die waren groß und fett und schön und gaben viel Milch; so gute Kühe hatte man noch nirgends gesehen. Am Haken hing ein kupferner Melkeimer und ein Paar Salzhörner mit einem silbernen Ring daran, um sie aufzuhängen. Wie ihr euch denken könnt, dauerte es nun nicht lange, so herrschte auf dem Hofe wieder Reichtum und Überfluß.
Eine Zeitlang ging es nun ganz gut. Er ließ sie im Hause arbeiten und befehlen, und sie hatte ein besonderes Glück mit allem, was sie anfing, so daß der Reichtum von allen Seiten herbeiströmte. Aber endlich fing er wieder an, sie schlecht zu behandeln. Ihm fiel es auf Schritt und Tritt ein, daß sie keine Christin war, mochte sie noch so lieb und freundlich und fügsam sein und in allem wie andere rechte Leute, nur viel, viel schöner. Einmal langte er die Feuerzange von der Wand herunter und wollte sie schlagen. Da sprang sie auf und bat ihn so eindringlich, er solle ihr nichts tun. ,,Sonst werden wir beide unglücklich!“ sagte sie. Aber er hörte nicht darauf und schlug sie auf den Kopf, bis das Blut über seine Hand lief. Da war sie auf einmal verschwunden. Es war, als sei sie durch die Wand davongeschwebt oder im Boden versunken. Er sah sie nirgends, aber er hörte eine Frau schluchzen und weinen, ganz still und leise und schmerzlich und sterbenstraurig. Nach einer kleinen Weile wurde alles stumm und still – und nun hörte er nichts mehr.
Er suchte und suchte tagaus, tagein, hier und dort, hin und her, und auch seine Nachbarn gingen mit und halfen ihm suchen, aber es half nichts, er fand nicht einmal eine Spur von ihr. Wenn er im Sommer auf der Alp war, konnte er Nacht für Nacht dasitzen und die ,blaue Weise‘ spielen; doch er sah seine Frau nie mehr und auch niemanden von ihren Leuten.
Es war im Sommer, als sein kleines Töchterchen so alt war, daß es anfing in die Schule zu gehen. Da sagte es eines Tages zu seinem Vater, als er auf die Alp kam: „Ich soll dir einen schönen Gruß von der Mutter sagen!“
,,Ach nein, mein kleines Mädelchen, wirklich! Wo hast du denn mit ihr gesprochen?“ fragte er.
,,Sie und zwei andere kamen an dem Tage hierher, als Guro die Schafe holte, und seitdem sind sie oft hergekommen“, gab die Kleine zur Antwort, ,,und sie haben mir auch ihre Spangen gegeben“, sagte sie und zeigte ihm drei schöne runde Spangen.
„Will sie denn nicht wieder zu uns nach Hause kommen?“ fragte er, das könnt ihr euch denken.
„Sie hat gesagt, das ginge wirklich nicht an, und sie müsse dich die ganze Zeit gegen Leute beschützen, die dir etwas antun wollten!“ sagte die Kleine.

Traurig war er schon zuvor gewesen, und das wurde nun nicht viel besser. Und es war ein Glück, daß es nicht mehr viele Jahre dauerte, bis die Erde sich über ihm schloß.

Ein Märchen aus Schweden

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