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Märchenbasar

Der Rabe

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Es war einmal ein Graf von uralter Herkunft, aber von gar geringem Vermögen. Dieser gieng eines Tages, über die Zukunft seines einzigen, holdseligen Töchterleins sinnend, durch den Wald. Da rief ihm von einer Eiche herab eine krächzende Stimme zu, einen Augenblick zu verweilen. Der gute Graf schaute empor und erblickte einen Raben mit glänzendem Gefieder. Dieser sprach zum Grafen: »So du mir dein Töchterlein zur Frau gibst, erhältst du des Goldes die Fülle.« Dessen war der Graf wohlzufrieden, gieng heim und führte die Tochter zum befiederten Bräutigam, der sagte zu ihr: »Schöne Jungfrau, geht mit mir in die Kapelle meines Schlosses, kniet hin vor dem Altar einen ganzen Tag, füllet den bereitstehenden Krug mit Euren Thränen und begießt, wenn ich am Abend heimkomme, damit mein Gefieder. Thut Ihr solches, ohne den Inhalt des Kruges zu verschütten, so hat die böse Hexe, die mich in einen Raben verwandelte, keine Macht mehr über mich und vor Euch wird stehen ein junger, schmucker Ritter.« Sprach’s und flog von dannen, der Jungfrau durch das Dickicht den Weg zu einem fernen, prächtigen Schloß zeigend. In der Kapelle angelangt, kniete des Grafen Töchterlein hin und that, wie ihr geheißen worden.
Als sie aber am Abend mit dem vollen Thränenkrug in den Hof treten wollte, um des Raben zu harren, that sie einen falschen Schritt und verschüttete einen Theil des kostbaren Inhaltes. Da schwebte der Rabe herbei und sagte, daß er mit nichten erlöst sei, und die Jungfrau ihr frommes Werk von Neuem beginnen müsse. Und die Rabenbraut erhob sich früh Morgens vom Lager und hatte mit dem sinkenden Abend das Krüglein mit ihren Thränen wieder gefüllt. Aber auch diesmal gieng es ohne ein paar verschüttete Tropfen nicht ab, und abermals kam der Rabe herbeigeflogen und ermahnte gar rührend die Weinende, doch am dritten Tag des Inhaltes zu achten, weil er sonst noch hundert Jahre als Rabe verzaubert durch die Wälder fliegen müsse. Und das Mägdlein nahm sich die guten Worte mehr als je zu Herzen, weinte bitterlich den dritten Tag hindurch, und als der dritte Abend heraufgedämmert kam, richtete sie ein kräftig Gebet zum Himmel empor und gelangte bebenden Herzens aber sichern Schrittes ohne Unfall auf den Schloßhof, wo der Rabe ihrer wartete. Dann goß sie den Inhalt des Kruges auf das glänzende Gefieder des Vogels, und vor der erröthenden Jungfrau stand auf einmal ein herrlicher Ritter, welcher ihr für seine Befreiung mit warmen Worten dankte, der künftigen Herrin die im Schlosse aufgehäuften Schätze an Gold und Edelsteinen zeigte und sie dann mit prunkendem Gefolge in die halb zerfallene Burg ihres Vaters geleitete, wo eine prachtvolle Hochzeit gefeiert wurde. Dann kehrten sie Alle in das große Schloß des jungen Fürsten zurück, um dort für viele, viele Jahre in ungetrübter Freude zu leben.

(In Crestas bei Trons erzählt)
[Rätoromanien: Dietrich Jecklin: Volksthümliches aus Graubünden]

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