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Der Regenmacher

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In einem fernen Land namens Brimborien lebte einst Jeremias. Die Leute nannten ihn den Regenmacher, obwohl das gar nicht stimmte, denn Jeremias machte nicht nur Regen. Er war für das ganze Wetter zuständig – den Sonnenschein, die Wolken, den Wind, den Regen und den Schnee. Auf seinem Dachboden stand die silberne Wetterkugel genau in der Mitte des Raumes, so dass sie ihre Strahlen durch die winzige Dachluke in den Himmel senden konnte. Für die Wetterzaubersprüche hatte Jeremias ein dickes Buch, das er von seinem Vater geerbt hatte. Aber meistens brauchte er es gar nicht, denn er kannte fast alle Wetterzaubersprüche auswendig.
Jeremias gab sich große Mühe, seine Arbeit ordentlich zu machen, um alle Menschen, Tiere und Pflanzen in seinem Land zufrieden zu stellen. Deshalb ließ er jeden Tag die Sonne scheinen – damit die Kinder sich freuten, wenn sie draußen spielen konnten und die Erwachsenen zum Himmel hinaufsahen und lächelten, wenn sie zur Arbeit gingen.
Und Jeremias ließ es auch jeden Tag ein bisschen regnen, damit die Fische im Fluss nicht auf dem Trockenen saßen und die Pflanzen ihren Durst löschen konnten.
Doch so viel unterschiedliches Wetter zu machen, war sehr anstrengend. Manchmal, war Jeremias abends so müde, dass er kaum noch etwas essen konnte und gleich ins Bett fiel.
So ging es eine Zeitlang und Jeremias wurde immer dünner und blasser. Eines Tages im Herbst konnte sein kleiner schwarzer Kater Nepomuk es nicht mehr mit ansehen.
„Jeremias“, sagte er und setzte sich entschlossen auf die Hinterpfoten. „Hör zu, so geht das nicht weiter!“
„Ich weiß“, seufzte Jeremias. „Aber ich möchte es doch so gern allen Recht machen.“
„Das tust du aber nicht“, sagte Nepomuk. „Die Menschen schimpfen trotzdem, weil es jeden Tag regnet.“
„Stimmt.“ Jeremias senkte betrübt den Kopf. Dann rollte ihm eine dicke Träne über die Wange und tropfte auf seinen Hemdkragen.
„Nun, wein doch nicht“, bat Nepomuk und reichte ihm ein Taschentuch. „Vielleicht fällt uns ja etwas ein, wie du es in Zukunft besser machen kannst.“
Jeremias nickte. Er kochte sich eine Tasse heißen Kakao und setzte sich mit Nepomuk vor den Kamin, in dem ein gemütliches Feuer flackerte. Angestrengt dachten beide nach. Sie grübelten und grübelten, bis Jeremias schließlich eine Idee hatte.
„Ich könnte die Leute einfach jeden Morgen fragen, welches Wetter ich machen soll. Alle im Land dürfen mitentscheiden. Dann müssen sie doch zufrieden sein.“
„Hm, ich weiß nicht …“ Nepomuk wiegte seinen Katzenkopf bedächtig hin und her. „Das ist ein interessanter Vorschlag, Jeremias. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er funktioniert.“
„Lass es uns trotzdem ausprobieren!“, rief Jeremias, sprang auf und klatschte in die Hände. „Es ist jedenfalls einen Versuch wert! Ich hänge gleich draußen ein Schild an den Zaun, das allen die Neuigkeit verkündet.“
Er nahm ein großes Blatt, klebte es auf ein Stück Karton und schrieb mit sauberen Druckbuchstaben darauf:

Liebe Brimborianer,
ab sofort darf jeder über das Wetter mitentscheiden.
Wünsche und Bestellungen werden jeden Morgen
ab 7.00 Uhr entgegengenommen.
gez. Jeremias

Er war sehr gespannt, ob die Menschen im Land seine Idee gut finden würden. Vor lauter Aufregung konnte er an diesem Abend kaum einschlafen. Während Nepomuk schon längst selig schlummerte und ab und zu ein leises Katzenschnarchen hören ließ, wälzte Jeremias sich nur von einer Seite des Bettes auf die andere. Aber irgendwann schlief er dann doch ein.

Die erste, die am nächsten Morgen an Jeremias Gartenzaun vorbeikam, war ein kleines Mädchen namens Lucie. Lucie war auf dem Weg zur Schule und las mit großen Augen, was auf dem Schild geschrieben stand. Dann hopste sie durch den Garten und klingelte an der Tür von Jeremias Häuschen. Er öffnete schnell.
„Guten Morgen“, sagte Lucie artig. „Ich wünsche mir für heute hitzefrei. Kannst du bitte ganz heißes Wetter machen, damit die Schule ausfällt? Dann muss ich nämlich die Klassenarbeit nicht schreiben.“
„Na ja“, zögerte Jeremias. „Wir haben schon Oktober! Die Menschen werden sich sehr wundern, wenn es heute so heiß wird.“
„Aber es steht doch auf deinem Schild, dass man sich was wünschen darf!“ Lucie zog einen Schmollmund. Bettelnd sah sie zu Jeremias hoch.
„Also gut“, seufzte Jeremias. „Machen wir eben heute mal eine Ausnahme.“

Und obwohl es also schon Herbst war, zauberte Jeremias für Lucie einen wolkenlosen Himmel, von dem die Sonne heiß herunterbrannte.
Nepomuk verzog sich kopfschüttelnd in den Schatten, denn in seinem schwarzen Fell wurde es ihm schon bald viel zu warm. Und nicht nur ihm … Gegen Mittag kam der Schuldirektor höchstpersönlich angerannt.
„Ja, sind Sie denn komplett verrückt geworden?“, schrie er und rüttelte mit hochrotem Kopf an Jeremias Gartentor. „So eine Hitze! Ihretwegen musste ich die Kinder nach Hause schicken und jetzt verpassen sie wichtigen Unterricht!“
„Es, es … es tut mir Leid“, stammelte Jeremias und wies mit unglücklichem Gesicht auf sein Pappschild. „Ich habe nur das gewünschte Wetter geliefert.“
„Was ist das für ein Unsinn?“, brüllte der Schuldirektor. „Wo soll das noch hinführen, wenn sich hier jeder das Wetter wünschen darf, wie es ihm gefällt? Dann kommen die Kinder bestimmt bald gar nicht mehr zur Schule!“ Laut schimpfend eilte er davon.
Doch die nächste Beschwerde ließ nicht lange auf sich warten. Die Nachbarin von Jeremias, eine dicke Bäuerin, blickte erzürnt über den Zaun.
„Was soll das bedeuten?“, fragte sie und wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. „Was ist das bloß für ein Wetter? Wie soll ich denn bei dieser Hitze in meinem Garten arbeiten? Und sieh dir meine schönen Herbstblumen an, Jeremias – sie sind schon fast vertrocknet!“
Jeremias besah sich die Bescherung. Alle Blumen ließen erschöpft ihre Blüten und Blätter hängen. Für eine solche Hitze im Oktober waren sie nicht geschaffen.
„Oh weh“, sagte Jeremias. „Das wollte ich wirklich nicht.“
„Dann lass es regnen! Sofort!“ Die Bäuerin fuchtelte ärgerlich mit ihrem Rechen durch die Luft und Jeremias zog hastig den Kopf ein. „Mach uns ein richtiges Gewitter mit viel Regen, dann kühlt es sich hoffentlich bald wieder ab!“
Jeremias überlegte kurz. Aber Lucies Wunsch hatte er ja bereits erfüllt, so dass es keinen Grund gab, warum er die Hitze jetzt nicht wieder beenden sollte.
Er kehrte zurück auf den Dachboden, nahm die silberne Kugel und konzentrierte sich. Dann sagte er mehrmals hintereinander den Wetterzauberspruch für Gewitter auf.

Minuten später ballten sich dunkle Wolken am Himmel zusammen und in der Ferne grummelte leise der Donner. Als Jeremias aus der Dachluke spähte, winkte ihm die Bäuerin zufrieden zu und räumte schnell die Gartengeräte in den Schuppen.
Auch sein kleiner Kater Nepomuk flüchtete eilig ins Haus; er konnte Gewitter nämlich gar nicht leiden.
Kurze Zeit später prasselte bereits der Regen herunter. Oder besser gesagt: es goss wie aus Kübeln. Es blitzte und donnerte so gewaltig, dass Jeremias besorgt die Stirn runzelte. Hatte er vielleicht doch ein wenig übertrieben und das Gewitter zu stark gezaubert?
Auf der Straße vor seinem Haus bildeten sich im Nu riesige Pfützen und das Schild, das er gestern erst aufgehängt hatte, flatterte mit einer heftigen Windbö davon.
Aber das war Jeremias egal. Denn mittlerweile hielt er es nicht mehr für eine besonders gute Idee, wenn jeder sich das Wetter wünschen durfte. Und er ahnte, dass bestimmt gleich wieder jemand vorbeikam, um sich zu beschweren.

Er hatte Recht. Kaum hatte der Regen nachgelassen, erschien der Zeitungsfotograf auf seinem Fahrrad, die Hosenbeine bis oben hin mit Schlamm bespritzt. Auch sonst war er völlig durchnässt. Und sehr wütend.
„Was hast du dir dabei nur gedacht, Jeremias?“, schrie er und hielt anklagend seine Kamera über den Zaun. „Sieh her, was du angerichtet hast! Ich sollte die Hochzeit fotografieren und dein Gewitter hat alles verdorben!“
„Welche Hochzeit …?“, fragte Jeremias ängstlich.
„Die Tochter des Bürgermeisters hat heute geheiratet. Und du bist schuld, dass alle patschnass geworden sind, als sie aus der Kirche kamen. Jetzt heult die Braut, der Bürgermeister ist sehr böse und meine Kamera ist auch ruiniert. Dein Gewitter hat alles kaputtgemacht.“
„Aber …“, begann Jeremias, doch dann klappte er den Mund wieder zu. Was hätte er auch sagen sollen? Es stimmte ja, was der Fotograf ihm vorwarf. Er allein hatte das Gewitter gezaubert – wenn auch nur mit den besten Absichten.
Betrübt schlich er zurück ins Haus, wo Nepomuk schon auf ihn wartete. Er erzählte ihm, was passiert war und der schwarze Kater hörte aufmerksam zu.
„Ach, Nepomuk“, sagte Jeremias. „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich glaube, ich will nicht mehr für das Wetter zuständig sein. Nie sind die Leute zufrieden. Egal, was ich mache, am Ende ist es immer das Falsche.“
„Ich hätte da vielleicht eine Idee …“ Nepomuk setzte sich auf. Seine Schnurrbarthaare zitterten leicht und er strich sie sorgfältig mit den Pfoten zurecht, bevor er weitersprach. „Warum überlässt du das Wetter nicht dem Zufall? Dann können sie dir nicht mehr die Schuld geben, wenn es ihnen nicht gefällt.“
„Aber wie soll das gehen?“, fragte Jeremias zweifelnd.

„Ganz einfach: schreib ein neues Schild und verkünde, dass ab jetzt die Zufallsmaschine das Wetter bestimmt und du nicht mehr verantwortlich bist.“
Jeremias kratzte sich ratlos am Kopf. „Eine Zufallsmaschine? Davon habe ich noch nie etwas gehört. Wo soll ich denn so eine Maschine herbekommen?“
Nepomuk verzog sein kleines Katergesicht zu einem schelmischen Grinsen. „Na, es gibt überhaupt keine Zufallsmaschine! Aber das brauchen die Leute doch nicht zu wissen.“
Jetzt war Jeremias völlig verwirrt. „Und wie machen wir das Wetter dann?“
„Ganz einfach“, wiederholte Nepomuk. „Wir würfeln es aus. Zuerst Regen oder Sonne. Eine Eins ist ein trüber Regentag, eine Sechs ist ein wunderschöner Sonnentag. Bei allen anderen Zahlen liegt das Wetter entsprechend dazwischen.“
„Aha“, nickte Jeremias. So langsam begriff er, was Nepomuk vorhatte.
„Als nächstes würfeln wir den Wind“, sagte der Kater. „Eine Eins ist ein winziges Lüftchen, eine Sechs ist ein mächtiger Sturm. Bei allen anderen Zahlen …“
„… liegt die Windstärke dazwischen“, sagte Jeremias und seine Augen leuchteten vor Freude. „Ich hab’s schon verstanden. Würfeln ist Glückssache. Welches Wetter dabei herauskommt, ist purer Zufall und niemand kann mir deshalb mehr etwas vorwerfen.“
„Genau!“ Höchst zufrieden mit sich sprang Nepomuk auf den Sessel, rollte sich dort zusammen und schleckte sein schwarzes Fell, bis es wie Samt zu glänzen begann.
Währenddessen bastelte Jeremias ein neues Schild und befestigte es draußen am Gartenzaun. Darauf stand:

Liebe Brimborianer,
ab sofort ist die Zufallsmaschine für das Wetter zuständig.
Beschwerden über das Wetter sind daher sinnlos.
gez. Jeremias

Ja, und ab dem nächsten Tag zauberte Jeremias das Wetter immer genau so, wie Nepomuk es erwürfelte.
Die Leute ärgerten sich zwar hin und wieder immer noch über einen Regentag, manche schimpften auch genau wie früher über zuviel Hitze oder zuviel Wind. Aber jetzt gaben sie nicht mehr Jeremias die Schuld, denn die geheimnisvolle Zufallsmaschine entschied ja über das Wetter.
Zwar hatte niemand sie je zu Gesicht bekommen, aber seltsamerweise fragte auch keiner danach. Und Jeremias hatte sein Ziel erreicht: niemand ärgerte sich mehr über ihn. Er konnte jetzt ganz in Ruhe seiner Arbeit nachgehen.
Und Nepomuk? Der bekam als Dankeschön für seine gute Idee jeden Sonntag eine Extraportion Fisch zum Abendessen.
Und so lebten beide noch viele Jahre friedlich und vergnügt in ihrem Häuschen.

Quelle:
(© Claudia Hornung)

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