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Märchenbasar

Der Richter und die Tochter des Armen

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Es war einmal ein sehr armer Bauer, der hatte einen einzigen Ochsen. Jedes Frühjahr mußte der Bauer einen zweiten Ochsen bei seinem reichen Nachbarn fürs Pflügen mieten.
Einmal pflügfe der Arme sein kleines Feld und führte den Ochsen nach der Arbeit wieder in den Stall des reichen Bauern zurück. Nach einem Monat wurde der Ochse krank und verreckte. Der Reiche beschuldigte den Armen, er habe den Ochsen zu sehr geschunden, und forderte Schadenersatz. Der Arme schlug das rundweg ab. Darum wandte sich der Reiche ans Gericht.
Der Richter hörte die beiden an und entschied zugunsten des armen Bauern. Dem Reichen aber behagte der Richterspruch nicht, er wollte nicht nachgeben. Da sagte der Richter: „Wenn ihr verlangt, daß ich sogleich meinen Urteilsspruch fälle, so beantwortet mir drei Fragen: Was ist am schnellsten, was am fettesten und was am süßesten auf der Welt? Wer diese Fragen richtig beantwortet, der soll recht behalten.“ Der Reiche und der Arme konnten die Fragen nicht gleich beantworten, deshalb sagte der Richter: „Ich verschiebe euren Fall um zwei Tage. Geht jetzt und kommt in zwei Tagen mit den Antworten zurück.“
Daheim angekommen, setzte sich der Arme finster ans Herdfeuer und klagte der Tochter sein Leid: „Offenbar möchte der Richter, daß ich ihm das Fetteste, Süßeste und Schnellste bringe. Was soll ich tun? Wo ist das Geld, um das zu kaufen? Ich habe doch keinen Heller.“ Die Tochter hörte zu und sagte: „Laß dir keine grauen Haare wachsen, Vater. Der Richter verlangt keine Gaben, sondern richtige Antworten. Und die sind bald gefunden, denn die Fragen sind nicht allzu schwer.“
Als es Zeit wurde, den Gang zum Richter anzutreten, sagte die Tochter zum Vater: „Sage dem Richter, das Schnellste ist der Gedanke, das Fetteste die Erde und das Süßeste der Schlaf.“
Auch der Reiche machte sich auf zum Gericht. Er nahm seinen besten Renner mit, ferner ein gemästetes Schwein und einen groben Schlauch voll Honig. Damit kam er zum Richter und begann zu prahlen: „Da wäre alles, wonach du gefragt hast. Mein Schwein ist das fetteste, es hat dicken Speck angesetzt! Mein Pferd ist das schnellste weit und breit. Und in dem Schlauch habe ich den süßesten Honig!“ — „Siehst du, wie dein Nachbar meine Fragen beantwortet? Sage nun, was du dir zurechtgelegt hast“, sprach der Richter zum Armen. „Ich denke, das Schnellste auf der Welt ist der Gedanke, das Fetteste die Erde und das Süßeste der Schlaf“, erklärte der Arme. „Wer hat dir das eingegeben? Du hast doch geschwiegen, als ich diese Fragen zum erstenmal gestellt habe“, sagte der Richter. „Meine Tochter“, antwortete der Arme. „Sie muß sehr klug sein“, sagte der Richter. „Bringe sie zu mir.“ Dem Reichen aber sagte er: „Du hast meine Fragen nicht beantworten können. Nimm deine Habe und geh nach Hause. Ich nehme keine Geschenke von denen, die meinen Urteilsspruch hören wollen.“
Anderntags kam der Arme mit seiner Tochter zum Richter. Das Mädchen gefiel dem Richter sehr, und er heiratete sie nach kurzer Zeit.
Einmal mußte der Richter in Geschäften für einige Tage verreisen, und er sagte zu seiner Frau: „Während meiner Abwesenheit tu, was du willst, laß dir aber bloß nicht einfallen, zu Gericht zu sitzen, Urteile zu fällen und den Leuten Ratschläge zu erfeilen. Wenn du meinen Worten zuwiderhandelst, sind wir die längste Zeit zusammen gewesen.“
Schon bald nach der Abreise des Richters kamen zwei Fremde zu seinem Haus: ein Reiter und der Besitzer eines zweirädrigen Karrens. Die beiden hatten folgenden Handel miteinander: Der Reiter hatte eine Stufe geritten, die in der Nacht ein Füllen warf, und das Füllen geriet irgendwie unter den Karren. Am nächsten Morgen wollte der Reiter das Füllen nehmen, aber der Inhaber des Karrens behauptete: „Da das Füllen unter meinem Karren liegt, muß der Karren es geworfen haben.“ Nun sollte der Richter den Handel schlichten. Als sie erfuhren, daß der Richter nicht daheim war, baten und bettelten sie, die Frau des Richters möge zu ihnen herauskommen und ihren Streit entscheiden. Die Frau hörte die beiden auf der Vortreppe an und verschwand im Haus. Es verging sehr viel Zeit, ehe sie sich wieder sehen ließ. . Die beiden warfen ihr vor, sie ließe sie sehr lange warten. Darauf antwortete sie: „Ich bin aufgehalten worden, weil in der Nähe ein Bach fließt, der soeben in Brand geraten ist, ich habe das Feuer mit trockenen Blättern gelöscht.“ Die beiden Männer riefen erstaunt: „Brände werden mit Wasser geloscht, nicht mit Blättern. Wie konnte Wasser überhaupt in Brand geraten?“ — „Ihr beiden wißt also, daß Wasser nicht brennt, wißt jedoch nicht, daß ein Karren kein Füllen werfen kann!“
So entschied sie den Streit, und die beiden gingen davon.
Es dauerte nicht lange, und der Richter kehrte nach Hause zurück. Als er erfuhr, daß seine Frau seinem Gebot zuwidergehandelt hatte, beschloß er, sich scheiden zu lassen. „Nimm alles, was du brauchst und verlasse mein Haus“, sagte er. „Ich bin einverstanden, aber bevor wir uns trennen, möchte ich noch einmal mit dir zu Mittag essen“, antwortete sie und deckte den Tisch. Beim Essen gab sie dem Mann Wein zu trinken. Nachdem er fest eingeschlafen war, trug sie ihn zum Wagen und fuhr zum Hause ihres Vaters. Unterwegs wachte der Richter auf und fragte die Frau erstaunt: „Wohin bringst du mich?“ — „Du hast mir erlaubt mitzunehmen, was ich wünsche. Da habe ich dich auf den Wagen geladen, denn du bist doch das Teuerste für mich“ , antwortete die Frau.
Diese Worte rührten den Richter. Sie kehrten zusammen nach Hause zurück, und von nun an holte sich der Richter, wenn er einen strittigen Fall klären mußte, stets Rat bei seiner klugen Frau.

Quelle:
(abchasisches Märchen )

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