In einer dunklen Winternacht lief eine Frau durch das Dorf Nikh-tua und hinaus in die verschneite Tundra. Sie floh vor ihrem Mann, dessen Grausamkeit ihr unerträglich geworden war. Die ganze Nacht hindurch und noch viele Tage wanderte sie nordwärts und machte um die Dörfer, in deren Nähe sie kam, einen Bogen, aus Furcht, entdeckt zu werden. Schließlich hatte sie schon alle Anzeichen menschlichen Lebens hinter sich und die Kälte wurde ärger und ärger. Ihr geringer Mundvorrat war verbraucht und um den Hunger zu stillen, begann sie Schnee zu essen. Eines Tags, als es schon Nacht wurde, war sie an einen so windigen Ort gekommen, daß sie gezwungen war, weiterzugehen. Schließlich sah sie etwas wie einen Hügel mit fünf Buckeln auf seinem Rücken vor sich, als sie näherkam, sah sie, daß er einem sehr großen Menschenfuß ähnelte. Nach dem sie den Schnee zwischen zwei Erhöhungen, die wie ungeheure Zehen aussahen, weggefegt, fand sie es warm und bequem da und schlief bis zum Morgen, wo sie dann aufbrach und bis zu einer vereinzelten Erhebung, die in der verschneiten Ebene erschien, weiterging. Diese erreichte sie bei Einbruch der Nacht und bemerkte, daß sie wie ein großes Knie geformt war. Sie fand einen geschützten Platz und blieb da, bis sie Morgens weiterging. Diesen Abend schützte sie für die Nacht ein Hügel, der einem großen Schenkel glich. Die nächste Nacht fand sie in einer runden, grubenartigen Vertiefung, um die herum verstreut Sträucher wuchsen, Schutz; als sie Morgens diesen Ort verließ, erschien er ihr wie ein großer Nabel.
Die nächste Nacht schlief sie in der Nähe zweier, wie enorme Brustmuskeln aussehender Hügel; die folgende Nacht fand sie eine geschützte, geräumige Höhlung, in der sie schlief. Als sie morgens gerade daran war von hier aufzubrechen, glaubte sie aus der Gegend, wo sie ihre Füße hatte, eine mächtige Stimme zu vernehmen: „Wer bist du? Was hat dich zu mir getrieben, zu dem menschliche Wesen niemals kommen?“ Sie war sehr erschrocken, brachte es aber doch zustande, ihre traurige Geschichte zu erzählen und daraufhin sprach die Stimme wieder: „Gut, du kannst hier bleiben, aber du darfst nicht mehr in der Nähe meines Mundes oder meiner Lippen schlafen, denn wenn ich dich anhauchte, so würde ich dich wegblasen. Du mußt hungrig sein. Ich will dir etwas zu Essen verschaffen.“
Während sie wartete, fiel ihr plötzlich ein, daß sie fünf Tage über den Körper des Riesen Kin-äk gewandert war. Nun wurde der Himmel plötzlich finster und eine große schwarze Wolke kam langsam auf sie zu; wie sie näher war, sah sie, daß es die Hand des Riesen war, welche sich öffnete und ein frisch getötetes Renntier fallen ließ und die Stimme sagte ihr, sie solle davon essen. Rasch brach sie einiges Strauchholz, das überall herumwuchs, machte Feuer und aß gierig das gebratene Fleisch. Der Riese sagte wieder: „Ich weiß, du willst einen Platz, wo du bleiben kannst und da ist es am besten für dich, in meinen Bart zu gehen, dort, wo er am dichtesten wächst, maßen ich jetzt Atem holen will, um den angesammelten Reif, der mich quält, aus meinen Lungen zu bringen; geh also schnell!“
Sie hatte gerade noch Zeit in den Bart des Riesen hinunterzusteigen, als ein fürchterlicher Sturmwind über ihren Kopf dahinbrauste, begleitet von einem blendenden Schneesturm, der aber, nachdem er sich über die Tundra ausgebreitet, so rasch aufhörte, als er begonnen und mit einemmal wurde der Himmel wieder hell.
Den andern Tag sagte ihr Kun-äk, sie solle sich einen guten Platz suchen und aus seinen Barthaaren eine Hütte bauen. Sie sah sich um und wählte unweit seines Nasenloches, auf der linken Seite der Nase, eine Stelle und baute aus seinen Schnurrbarthaaren ihre Hütte. Hier lebte sie lange Zeit; der Riese half ihren Nöten ab, indem er seine große Hand ausstreckte und Renntiere und Seehunde oder was sie sonst immer zur Nahrung wollte, erbeutete. Aus Wolfsfellen, Fellen von braunen Vielfraßen und anderen befellten Tieren, die er für sie fing, machte sie sich selbst nette Kleider und bald hatte sie einen großen Vorrat von Fellen und Pelzen zurückgelegt.
Kin-äk fand mit der Zeit, daß sein Schnurrbart schütter werde, da sie die Haare als Feuerholz verwandte und er verbot ihr fürder, welche zu nehmen, aber er sagte, sie könne von den Haaren nehmen, die an der Seite des Gesichts wuchsen, wenn sie noch welche brauche. Lange Zeit verging so.
Eines Tages fragte sie Kin-äk, ob sie nicht nach Hause gehen wolle. „Ja“, sagte sie, „nur fürchte ich, mein Mann wird mich wieder schlagen und ich werde niemand haben, der mich beschützen wird.“
„Ich will dich beschützen“ sagte er. „Geh, schneide die Ohrspitzen von allen Fellen, die du hast, ab und gib sie in einen Korb. Dann setz dich selbst vor meinen Mund und wenn du einmal in Gefahr sein solltest, vergiß nicht zu rufen: „Kin-äk, Kin-äk, komm zu mir“ und ich werde dich beschützen. Geh jetzt und tu, wie ich dir gesagt habe. Es ist Zeit. Ich bin schon müde, so lange an einem Platz zu liegen und will mich umdrehen, und wenn du dann hier wärest, würdest du zerquetscht werden.“ Dann tat die Frau, wie ihr gesagt worden und kauerte sich vor seinen Mund.
Auf einmal erhob sich ein Wind und Schneewehen und die Frau fühlte sich davongehoben bis sie schläfrig wurde und die Augen schloß; als sie erwachte, war sie in der Gegend der Häuser von Nikh-tua, konnte aber nicht glauben, daß dem so sei, bis sie das gewohnte Geheul der Hunde hörte. Sie wartete den Abend ab und ging dann, nachdem sie den Korb mit den Ohrspitzen ins Vorhaus gestellt, in das Haus des Gatten. Der hatte sie schon lange als tot betrauert und seine Freude über ihre Rückkehr war sehr groß. Dann erzählte sie ihre Geschichte und ihr Mann versprach, sie nie mehr schlecht zu behandeln. Als er den nächsten Tag durch sein Vorhaus ging, war er sehr erstaunt, es mit wertvollen Pelzen angefüllt zu finden; es hatte sich jede Ohrspitze, die seine Frau gebracht, über Nacht in ein ganzes Fell verwandelt.
Diese Felle machten ihn sehr reich und er wurde infolgedessen einer der Häuptlinge des Dorfes. Nach einiger Zeit aber fühlte er sich unglücklich, denn er hatte keine Kinder und sprach daher zu seiner Frau: „Was wird mit uns sein, wenn wir alt und schwach sind und niemand haben, der für uns sorgt? Ja-, wenn wir nur einen Sohn hätten!“ Eines Tages hieß er seine Frau sich sorgfältig zu baden; dann tauchte er eine Feder in Öl und zeichnete damit die Gestalt eines Knaben auf ihren Bauch. Nach der bestimmten Zeit gebar sie einen Sohn und sie waren sehr glücklich. Der Knabe wuchs rasch auf und zeichnete sich vor allen Kameraden durch Stärke, Gewandtheit und als guter Schütze aus. Zur Erinnerung an den Riesen wurde er Kin-äk genannt. Schließlich wurde der Gatte dann aber doch wieder unfreundlich und mürrisch wie früher und eines Tages gar so aufgebracht, daß er einen Stock nahm, um seine Frau zu schlagen. Sie lief aus Angst aus dem Haus, glitt aber draußen aus und fiel; und wie ihr Mann dicht an ihr war, erinnerte sie sich des Riesen und rief: „Kin-äk! Kin-äk! komm zu mir“. Sie hatte diese Worte kaum gesprochen, als ein fürchterlicher Windstoß über sie wegblies und den Mann wegfegte, daß er nie mehr gesehen wurde.
Jahre vergingen und Jung-Kin-äk wuchs zu einem schönen, starken jungen Mann heran, wurde ein sehr erfolgreicher Jäger, hatte aber ein wildes und grausames Temperament. Eines Abends kam er nach Hause und erzählte seiner Mutter, daß er mit zweien seiner Gefährten Streit gehabt und beide getötet habe. Seine Mutter machte ihm Vorwürfe, indem sie ihn an die Gefahren der Blutrache seitens der Verwandten der Ermordeten erinnerte. Eine Zeit verstich und die Sache schien vergessen.
Wieder einmal kam Kin-äk damit nach Hause, daß er einen Genossen getötet habe. Seither hatte er alle paar Tage mit jemand Streit, was immer damit endete, daß er ihn erschlug. Schließlich hatte er so viel Leute erschlagen, daß seine Mutter ihm nicht länger erlauben wollte, mit ihr zu leben. Er schien aber darüber sehr erstaunt und sagte: „Bist du denn nicht meine Mutter? Wie kannst du mich so behandeln ?“
„Ja“, sagte sie, „ich bin deine Mutter, aber dein Ungestüm hat es so weit gebracht alle unsere Freunde umzubringen, oder zu vertreiben. Jeder haßt und fürchtet dich und bald wird niemand, außer alten Weibern und Kindern im Dorf leben. Geh weg! Verlaß diesen Ort, das wird für uns alle besser sein.“
Kin-äk sagte nichts, sondern jagte eine Zeitlang unausgesetzt, bis er seiner Mutter Vorhaus mit Fleisch und Pelzen angefüllt hatte. Dann ging er zu ihr und sagte: „Jetzt habe ich dich mit Nahrung und Pelzen versehen, wie meine Pflicht war, ich bin bereit, dich zu verlassen“ und ging weg.
Zufällig schlug er die gleiche Richtung ein, die seine Mutter auf ihrer Flucht gegangen war und kam schließlich zum Kopf des Riesen. Als der Riese erfuhr, daß er der Sohn jener Frau sei, die bei ihm gewesen, erlaubte er dem jungen Mann dazubleiben, sagte ihm aber, er solle ja nie an seine Lippen kommen, denn wenn er das wage, werde ihm etwas Böses zustoßen. Einige Zeit lebte Kin-äk da ganz ruhig, aber zuletzt fiel ihm doch ein zu den Lippen des Riesen zu gehen und zu sehen, was denn dort wäre. Nach einem guten Stück harter Arbeit durch das Bartdickicht auf des Riesen Kinn, erreichte ei den Mund. Im Augenblick, da er über die Lippen schritt und zur Öffnung zwischen ihnen gelangte, blies ein mächtiger Windstoß heraus, wirbelte ihn in die Luft und er ward nicht mehr gesehen.
Der Riese lebt noch immer im Norden, obwohl bis auf den heutigen Tag seit jener Zeit niemand dort war. Aber wenn er atmet, geben die wilden, schneeigen Nordstürme des Winters von seinem Dasein Kunde.
Quelle:
(Eskimomärchen)