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Der Ruf des Kuckucks

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Es waren einmal zwei bettelarme Brüder. Als ihre Not zu groß wurde, kamen sie überein, dass der ältere sich eine Arbeit bei einem Bauern suchen und sich als Knecht verdingen sollte, dem jüngeren sollte er dann von seinem Verdienst nach Hause schicken – so gedachten sie beide, endlich besser leben zu können. Sie sagten es, sie taten es. Der jüngere Bruder blieb zu Hause und hielt da alles in bester Ordnung. Der ältere Bruder aber wanderte in die Welt hinaus und verdingte sich bei einem reichen Bauern. Es wurde abgemacht, dass er bis zum Frühjahr arbeiten sollte, aber sein Herr stellte eine Bedingung und sagte: „Derjenige von uns muss zahlen, den in dieser Zeit einmal der Zorn packt. Werde ich selbst wütend, dann zahle ich dir tausend Rubel, wirst du wütend, dann zahlst du mir tausend.“ „Soviel Geld habe ich ja gar nicht“, erwiderte der Knecht.
„Das ist einfach“, sagte der Herr, „statt der tausend Rubel arbeitest du eben zehn Jahre lang ohne Bezahlung!“
Dem Knecht war nicht wohl bei dem Gedanken. Dann aber dachte er bei sich: „Hm, wird der Herr wütend, muss er mir tausend Rubel zahlen, ein hübsches Sümmchen. Und ich – ich werde eben niemals wütend, was da auch kommen mag.“ So nahm er die Bedingung an. Der Herr schickte den Knecht am nächsten Morgen gleich aufs Feld. „Nimm die Sense“, sagte er, „und mähe fleißig, bis es dunkel wird!“
Der Knecht arbeitete mit großem Fleiß den ganzen langen Tag auf dem Feld und kehrte erst abends müde nach Hause. „Warum kommst du schon vom Feld?“ fragte der Herr.
„Nun, die Sonne ist doch untergegangen!“
„Du hast wohl nicht auf meine Worte gehört“, sagte der Herr. „Ich habe dir gesagt, mähe fleißig – bis es dunkel wird! Es ist aber nicht dunkel geworden! Die Sonne ging unter und der Mond ging auf. Der Mond leuchtet schön, man kann gut dabei mähen!“
„Das ist ja allerhand“, sagte der Knecht, „kann man denn überhaupt nicht ausruhen?“
„Du wirst wohl wütend?“ fragte prüfend der Herr.
„Nein, nein, ich werde nicht wütend,… ich bin nur sehr müde,… will etwas ruhen…, müde nur…“, erwiderte der Knecht mit stockender und unsicherer Stimme und ging wieder aufs Feld hinaus. Er mähte, bis der Mond unterging und die Sonne wieder aufging. Dann sank er erschöpft ins Gras.
„Verflucht seien dein Feld, dein Brot und dein Geld!“
Kaum aber hatte der Knecht diesen Fluch getan, da stand plötzlich der Herr vor ihm. Der hatte in einem Versteck gesessen und gelauert. „Nun bist du also doch wütend geworden! Entweder zahlst du mir jetzt tausend Rubel oder du arbeitest noch zehn Jahre lang ohne Bezahlung!“
Nun wusste der Knecht nicht mehr weiter. Geld hatte er nicht, und bei einem solchen Herrn arbeiten, dies konnte man auch nicht, dies wollte er auf keinen Fall mehr. Vieles überlegte er, vieles verwarf er. Schließlich schrieb er dem Herrn einen Schuldschein über tausend Rubel aus und kehrte mit leeren Händen nach Hause zurück. „Nun, wie geht’s?“ fragte der jüngere Bruder. Da erzählte der ältere ihm die ganze Geschichte.
„Sei nicht traurig, es gibt Schlimmeres!“ sagte der jüngere Bruder. „Bleib du nur jetzt zu hause und versorge hier die Wirtschaft! Ich werde mich aufmachen und mich bei diesem Herrn als Knecht verdingen.“ Der reiche Bauer stellte wieder die gleiche Bedingung. Wird der Herr wütend, dann muss er tausend Rubel zahlen und den Knecht sofort freilassen. Wird der Knecht wütend, dann zahlt er an den Herrn tausend Rubel oder er arbeitet für ihn zehn Jahre lang ohne Bezahlung. Der jüngere Bruder hörte sich alles aufmerksam an und sagte dann: „Tausend Rubel sind zu wenig! Wenn du wütend wirst, zahlst du mir zweitausend Rubel, wenn ich wütend werde, zahle ich dir zweitausend Rubel oder arbeite bei dir zwanzig Jahre lang ohne Bezahlung!“ Der Herr freute sich insgeheim, war sofort damit einverstanden und nahm den jüngeren Bruder als Knecht an. Die Sonne ging auf am nächsten Tag, der Knecht aber schlief. Die Sonne stieg höher, der Knecht schlief immer noch. Der Herr hatte schon mehrfach versucht, ihn zu wecken, aber vergebens. „Steh auf!“ rief er, „es ist bald Mittag, und du schläfst noch.“
Der Knecht öffnete die Augen und fragte: „Warum bist du denn so wütend?“
„Ich bin doch nicht wütend“, sagte mit gereizter Stimme der Herr, „ich wollte nur sagten, dass es Zeit ist, aufs Feld zu gehen.“
„Es hat alles keine Eile“, antworte der Knecht, erhob sich und zog langsam seine Stiefel an.
„So geht das aber nicht, mach schneller!“ ließ sich wieder der Herr vernehmen.
„Was, du wirst wütend?“
„Nein, nein, wütend nicht. Ich will ja nur sagen, dass du zu spät zur Arbeit kommst!“
„Das ist etwas ganz anderes“, sagte der Knecht, „aber du weißt, unsere Verabredung gilt!“
Er reckte sich und steckte sich und machte sich in aller Ruhe fertig zur Arbeit. Aber erst gegen Mittag war er so weit, dass er hätte auf Feld gehen können. „Es lohnt jetzt nicht mehr, mit der Arbeit anzufangen. Alle Leute essen schon zu Mittag. Komm, lass uns auch erst essen!“ sagte da der Knecht zu seinem Herrn. Sie setzten sich zu Tisch. Nach dem Essen gingen beide aufs Feld. Dort angekommen, sagte der Knecht: „Wir sind Leute die schwer arbeiten und sich abrackern. Wir müssen daher nach dem Mittagessen ruhen und Kräfte sammeln.“
Sprach’s, legte seinen Kopf ins Gras und schlief bis zum Abend. Der Herr hielt es schließlich nicht mehr aus und weckte den Knecht: „Das ist ja eine Schande! Alle haben ihre Felder gemäht, nur meines ist ungemäht geblieben. Es wird ja schon dunkel!“ Der Knecht hob den Kopf und fragte: „Bist du etwas wütend?“
„Nein, nein, wütend bin ich nicht. Ich, ich meine nur, es ist dunkel und Zeit, nach Hause zu gehen!“
Dort war inzwischen ein Gast eingetroffen, der musste bewirtet werden. Der Herr schickte den Knecht in den Stall und befahl ihm, ein Schaf zu schlachten. „Welches?“ fragte der Knecht.
„Welches du gerade erwischst““
Der Knecht ging in den Stall. Nach einer Weile kamen Nachbarn angelaufen und meldeten: „Dein Knecht ist wohl verrückt geworden! Er schlachtet alle deine Schafe im Stall, eines nach dem anderen!“
Der Herr war entsetzt, lief in den Stall und sah, dass der Knecht seine ganze Herde geschlachtet hatte. Großer Zorn kam über ihn und er fluchte: „Du Elender! Was hast du getan? Dich soll die Erde verschlingen!“
Seelenruhig erwiderte der Knecht: „Du hast selbst gesagt: „Welches du erwischst, das schlachte!“ Und mit einer breiten Handbewegung zeigte er auf die geschlachteten Schafe: „Siehe, ich habe sie alle erwischt! Aber ich sehe: Du bist ja wütend!“
„Nein, nein, ich bin nicht wütend. Ich bin nur traurig, dass du die ganze Herde umgebracht hast“, sagte daraufhin der Herr, der vor Zorn rot und gelb war im Gesicht. „Na schön“, meinte der Knecht, „wenn du nicht wütend bist, so will ich auch bei dir weiterarbeiten.“
Nach mehreren Monaten war der Herr ganz ratlos und wusste nicht, wie er seine Wut noch länger verbergen sollte, denn der Knecht kam jeden Tag auf neue unmögliche Dinge. Er entschloss sich, den Knecht so bald wie möglich loszuwerden. Sie hatten aber damals vereinbart, dass der Knecht bis zum ersten Kuckucksruf im Frühjahr bleiben sollte. Vorher konnte, wenn keiner wütend wurde, der Arbeitsvertrag von keinem gekündigt werden. Bis zum ersten Kuckucksruf war aber noch eine lange Zeit, denn der Winter fing eben erst an. Da grübelte der Herr lange nach, wie er dem Knecht einen Streich spielen könnte. Bald hatte er einen guten Gedanken. Er führte sein Frau in den Wald, ließ sie auf einen Baum klettern und befahl ihr, sich dort gut zu verstecken und laut wie ein Kuckuck zu rufen. Er selbst ging wieder nach Haus, lud zwei Büchsen und sagte zu dem Knecht, er sollte mit ihm zur Jagd gehen. Kaum waren sie im Walde, da rief die Frau des Herrn von einem hohen Baum „Kuckuck, Kuckuck!“ Der Herr tat recht erstaunt und sagte: „Oh, der Kuckuck ruft! Deine Dienstzeit ist um! Ich gratuliere dir!“ Der Knecht hatte aber den Streich bereits durchschaut. „Nein“, sagte er, „ein Kuckuck im Winter? Hat man so etwas schon gehört? Diesen Kuckuck muss ich gleich schießen! Das will ich unbedingt sehen, was das für ein Vogel ist!“
Und er legte an und zielte genau auf den Baum, auf dem die Frau saß. Mit einem Schrei stürzte sich da der Herr auf ihn und riss ihm das Gewehr weg: „Du Räuber! Dass dich der Teufel hole! Du hast mich ganz krank gemacht!“
„Ich sehe, du bist wütend!“ sagte der Knecht.
„Ja, ja, ich bin wütend!“ rief da der Herr und konnte nicht mehr an sich halten: „Komm her, ich zahle dir zweitausend Rubel aus! Auf deine Dienste verzichte ich, aber lass mich in Zukunft ungeschoren!“
Und bei diesen Worten platzte er fast vor Wut. Der jüngere Bruder strich lachend die zweitausend Rubel ein, zahlte die Schuld seines Bruders und machte sich mit tausend Rubel zufrieden auf den Heimweg.

Quelle:
(Armenisches Märchen)

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