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Märchenbasar

Der Sandmann

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Es gibt niemand in der ganzen Welt, der so viele Geschichten weiß wie der Sandmann! Er kann ordentlich erzählen.
Gegen Abend, wenn die Kinder noch am Tische oder auf ihrem Schemel sitzen, kommt der Sandmann, er kommt die Treppe sachte herauf, denn er geht auf Socken; er macht ganz leise die Türen auf und, husch, da streut er den Kindern Sand in die Augen hinein, und das so fein, so fein, aber immer genug, daß sie die Augen nicht offenhalten und ihn deshalb auch nicht sehen können. Er schleicht sich gerade hinter sie, bläst ihnen sachte in den Nacken, und dann werden sie schwer im Kopf. Aber es tut nicht weh, denn der Sandmann meint es gut mit den Kindern; er will nur, daß sie ruhig sein sollen, und das sind sie am schnellsten, wenn man sie zu Bette gebracht hat; sie sollen still sein, damit er ihnen Geschichten erzählen kann.
Wenn die Kinder nun schlafen, setzt sich der Sandmann auf ihr Bett. Er ist gut gekleidet; sein Rock ist von Seidenzeug, aber es ist unmöglich zu sagen, von welcher Farbe, denn er glänzt grün, rot und blau, je nachdem er sich wendet. Unter jedem Arm hält er einen Regenschirm.
Den einen, mit Bildern darauf, spannt er über die guten Kinder aus, und dann träumen sie die ganze Nacht die herrlichsten Geschichten; auf dem andern ist durchaus nichts, den stellt er über die unartigen Kinder. Dann schlafen die und haben am Morgen, wenn sie erwachen, nicht das allergeringste geträumt.
Nun werden wir hören, wie der Sandmann an jedem Abend in einer Woche zu einem kleinen Knaben, der Friedrich hieß, kam, und was er ihm erzählte. Es sind sieben Geschichten, denn es sind sieben Tage in der Woche.

Montag

„Höre einmal“, sagte der Sandmann am Abend, als er Friedrich zu Bett gebracht hatte, „nun werde ich aufputzen!“ Da wurden alle Blumen in den Blumentöpfen zu großen Bäumen, die ihre langen Zweige unter der Decke und längs der Wände ausstreckten, so daß die ganze Stube wie ein prächtiges Lusthaus aussah; alle Zweige waren voll Blüten, und jede Blüte war noch schöner als eine Rose, duftete lieblich, und wollte man sie essen, so war sie noch süßer als Eingemachtes! Die Früchte glänzten gerade wie Gold, und Kuchen waren da, die vor lauter Rosinen platzten es war unvergleichlich schön! Aber zu gleicher Zeit ertönte ein erschreckliches Jammern aus dem Tischkasten, wo Friedrichs Schulbücher lagen.
„Was ist das?“ fragte der Sandmann, ging zum Tisch und zog den Kasten auf. Es war die Tafel, in der es riß und wühlte, denn es war eine falsche Zahl in die Rechenaufgabe gekommen, so daß sie nahe daran war, auseinanderzufallen. Der Griffel hüpfte und sprang an seinem Bande, gerade als ob er ein kleiner Hund wäre, der helfen möchte; aber er konnte es nicht. Und dann war es Friedrichs Schreibebuch, in dem es auch jammerte; oh, es war häßlich mit anzuhören! Auf jedem Blatt standen der Länge nach herunter die großen Buchstaben, ein jeder mit einem kleinen zur Seite, das war eine Vorschrift; neben diesen standen wieder einige Buchstaben, die glaubten ebenso auszusehen, und die hatte Friedrich geschrieben. Sie lagen fast so, als ob sie über die Bleifederstriche gefallen wären, auf denen sie stehen sollten.
„Seht, so solltet ihr euch halten“, sagte die Vorschrift. „Seht, so zur Seite, mit einem kräftigen Schwung!“
„Oh, wir möchten gern“, sagten Friedrichs Buchstaben, „aber wir können nicht, wir sind so jämmerlich!“
„Dann müßt ihr Lebertran und Kinderpulver haben!“ sagte der Sandmann.
„O nein!“ riefen sie, und da standen sie alle schlank und rank, daß es eine wahre Lust war.
„Jetzt wird keine Geschichte erzählt“, sagte der Sandmann, „nun muß ich sie exerzieren. Eins, zwei; eins, zwei!“ Und so exerzierte er die Buchstaben, und sie standen so schlank und schön, wie nur eine Vorschrift stehen kann. Aber als der Sandmann ging und Friedrich sie am Morgen besah, da waren sie ebenso elend wie früher.

Dienstag

Sobald Friedrich zu Bette war, berührte der Sandmann mit seinem kleinen Zauberstab alle Möbel in der Stube, und sogleich fingen sie an zu plaudern. Allesamt sprachen sie von sich selbst, mit Ausnahme des Spucknapfes, der stumm dastand und sich darüber ärgerte, daß sie so eitel sein konnten, nur von sich selbst zu reden, nur an sich selbst zu denken und durchaus keine Rücksicht auf den zu nehmen, der doch so bescheiden in der Ecke stand und sich bespucken ließ.
Über der Kommode hing ein großes Gemälde in einem vergoldeten Rahmen, das war eine Landschaft. Man sah darauf große, alte Bäume, Blumen im Grase und einen großen Fluß, der um den Wald herum floß, an vielen Schlössern vorbei, und weit hinausströmte in das wilde Meer.
Der Sandmann berührte mit seinem Zauberstabe das Gemälde, und da begannen die Vögel darauf zu singen, die Baumzweige bewegten sich, und die Wolken zogen weiter, man konnte ihren Schatten über die Landschaft hin erblicken.
Nun hob der Sandmann den kleinen Friedrich gegen den Rahmen empor und stellte seine Füße in das Gemälde, gerade in das hohe Gras, und da stand er, die Sonne beschien ihn durch die Zweige der Bäume. Er lief hin zum Wasser und setzte sich in ein kleines Boot, das dort lag. Es war rot und weiß angestrichen, das Segel glänzte wie Silber, und sechs Schwäne, alle mit Goldkronen um den Hals und einem strahlenden, blauen Stern auf dem Kopf, zogen das Boot an dem grünen Walde vorbei, wo die Bäume von Räubern und Hexen und die Blumen von niedlichen, kleinen Elfen und von dem, was die Schmetterlinge ihnen gesagt hatten, erzählten.
Die herrlichen Fische mit Schuppen wie Silber und Gold schwammen dem Boote nach; mitunter machten sie einen Sprung, daß es im Wasser plätscherte, und Vögel, rot und blau, klein und groß, flogen in langen Reihen hinterher, die Mücken tanzten, und die Maikäfer sagten: „Bum, bum!“ Sie wollten Friedrich alle folgen, und alle hatten sie eine Geschichte zu erzählen.
Das war eine Lustfahrt! Bald waren die Wälder ganz dicht und dunkel, bald waren sie wie der herrlichste Garten mit Sonnenschein und Blumen. Da lagen große Schlösser von Glas und von Marmor; auf den Altanen standen Prinzessinnen, und alle waren es kleine Mädchen, die Friedrich gut kannte; er hatte früher mit ihnen gespielt. Sie streckten jede die Hand aus und hielten das niedlichste Zuckerherz hin, das je eine Kuchenfrau verkaufen konnte, und Friedrich faßte die eine Seite des Zuckerherzens an, während er vorbeifuhr, und die Prinzessin hielt recht fest, und so bekam jedes sein Stück, sie das kleinere, Friedrich das größere. Bei jedem Schlosse standen kleine Prinzen Schildwache, sie schulterten die Säbel und ließen Rosinen und Zinnsoldaten regnen. Das waren echte Prinzen!
Bald segelte Friedrich durch Wälder, bald durch große Säle oder mitten durch eine Stadt; er kam auch durch die, in der sein Kindermädchen wohnte. Es hatte ihn getragen, da er noch ein ganz kleiner Knabe war, und war ihm immer gut geblieben. Sie nickte und winkte und sang den niedlichen, kleinen Vers, den sie selbst mit vieler Anstrengung gedichtet und Friedrich gesandt hatte:

„Ich denke deiner so manches Mal,
Mein Friedrich, immer wieder!
Ich gab dir Küsse ja ohne Zahl
Auf Stirne, Mund und Augenlider.
Ich hörte dich lallen das erste Wort,
Doch mußt‘ ich dir Lebewohl sagen.
Es segne der Herr dich an jedem Ort,
Du Engel, den ich getragen!“

Alle Vögel sangen mit, die Blumen tanzten auf den Stielen, und die alten Bäume nickten, gerade als ob der Sandmann ihnen auch Geschichten erzählte.

Mittwoch

Draußen strömte der Regen hernieder! Friedrich konnte es im Schlaf hören, und als der Sandmann ein Fenster öffnete, stand das Wasser gerade herauf bis an das Fensterbrett, es war ein ganzer See da draußen, aber das prächtigste Schiff lag dicht am Hause.
„Willst du mitsegeln, kleiner Friedrich“, sagte der Sandmann, „so kannst du diese Nacht in fremde Länder gelangen und morgen wieder hier sein!“
Da stand Friedrich plötzlich in seinen Sonntagskleidern mitten auf dem prächtigen Schiffe. Sogleich wurde die Witterung schön, und sie segelten durch die Straßen, kreuzten um die Kirche, und nun war alles eine große, wilde See. Sie segelten so lange, bis kein Land mehr zu erblicken war, und sie sahen einen Flug Störche, die kamen auch von der Heimat und wollten nach den warmen Ländern; ein Storch flog immer hinter dem andern, und sie waren schon weit, weit geflogen! Einer von ihnen war so ermüdet, daß seine Flügel ihn kaum noch zu tragen vermochten; er war der allerletzte in der Reihe, und bald blieb er ein großes Stück zurück. Zuletzt sank er mit ausgebreiteten Flügeln tiefer und tiefer, er machte noch ein paar Schläge mit den Schwingen, aber es half nichts; nun berührte er mit seinen Füßen das Tauwerk des Schiffes, glitt vom Segel herab, und bums‘ da stand er auf dem Verdeck.
Da nahm ihn der Schiffsjunge und setzte ihn in das Hühnerhaus zu den Hühnern, Enten und Truthähnen; der arme Storch stand ganz befangen mitten unter ihnen.
„Sieh den!“ sagten alle Hühner.
Der kalekutische Hahn, der Truthahn, blies sich so dick auf, wie er konnte, und fragte ihn, wer er sei. Die Enten gingen rückwärts und stießen einander:
„Rapple dich, rapple dich!“
Der Storch erzählte vom warmen Afrika, von den Pyramiden und vom Strauße, der einem wilden Pferde gleich die Wüste durchlaufe, von den Antilopen, die er gesehen habe; aber die Enten verstanden ihn nicht, und dann stießen sie einander: „Wir sind doch darüber einverstanden, daß er dumm ist?“
„Ja, sicher ist er dumm!“ sagte der Truthahn, und dann kollerte er. Da schwieg der Storch ganz still und dachte an sein Afrika und an all das Schöne, das es dort zu sehen gab.
„Das sind ja herrlich dünne Beine, die Ihr habt!“ sagte der Kalekute. „Was kostet die Elle davon?“
„Skrat, skrat, skrat!“ grinsten alle Enten, aber der Storch tat, als ob er es gar nicht höre.
„Ihr könnt immer mitlachen“, sagte der Truthahn zu ihm, „denn es war sehr witzig gesagt, oder war es Euch vielleicht zu hoch? Ach, er ist nicht vielseitig, wir wollen für uns selbst bleiben!“ Und dann gluckte er, und die Enten schnatterten:“ Gikgak! Gikgak!“ Es war erschrecklich, wie sie sich selbst belustigten.
Aber Friedrich ging zum Hühnerhause, öffnete die Tür, rief den Storch, und er hüpfte zu ihm hinaus auf das Deck. Nun hatte er ja ausgeruht, und es war, als ob er Friedrich zunickte, um ihm zu danken. Darauf entfaltete er seine Schwingen und flog nach den warmen Ländern, aber die Hühner gluckten, die Enten schnatterten, und der kalekutische Hahn wurde ganz feuerrot am Kopfe.
„Morgen werden wir Suppe von euch kochen!“ sagte Friedrich, und dann erwachte er und lag in seinem kleinen Bette.
Es war doch eine sonderbare Reise, die der Sandmann ihn diese Nacht hatte machen lassen.

Donnerstag

„Weißt du was?“ sagte der Sandmann. „Sei nur nicht furchtsam, hier wirst du eine kleine Maus sehen!“ Da hielt er ihm seine Hand mit dem leichten, niedlichen Tiere entgegen. „Sie ist gekommen, um dich zur Hochzeit einzuladen. Hier sind diese Nacht zwei kleine Mäuse, die in den Stand der Ehe treten wollen. Sie wohnen unter deiner Mutter Speisekammerfußboden; das soll eine schöne Wohnung sein!“
„Aber wie kann ich durch das kleine Mauseloch im Fußboden kommen?“ fragte Friedrich.
„Laß mich nur machen“, sagte der Sandmann, „ich werde dich schon klein bekommen!“ Und er berührte Friedrich mit seinem Zauberstab, und da wurde der sogleich kleiner und kleiner – zuletzt war er keinen Finger mehr lang. „Nun kannst du dir die Kleider des Zinnsoldaten leihen; ich denke, sie werden dir passen, und es sieht gut aus, wenn man Uniform in einer so außerordentlichen Gesellschaft hat!“
„Ja freilich!“ sagte Friedrich, und da war er im Augenblick wie der niedlichste Zinnsoldat angekleidet.
„Wollen Sie nicht so gut sein und sich in Ihrer Mutter Fingerhut setzen?“ fragte die kleine Maus. „Dann werde ich die Ehre haben, Sie zu ziehen!“
„Will sich das Fräulein selbst bemühen?“ sagte Friedrich, und so fuhren sie zur Mäusehochzeit.
Zuerst kamen sie unter dem Fußboden in einen langen Gang, der nicht höher war, als daß sie gerade mit dem Fingerhut dort fahren konnten; und der ganze Gang war mit faulem Holze erleuchtet.
„Riecht es hier nicht herrlich?“ sagte die Maus, die ihn zog. „Der ganze Gang ist mit Speckschwarten geschmiert worden! Es kann nichts Schöneres geben!“
Nun kamen sie in den Brautsaal. Hier standen zur Rechten alle die kleinen Mäusedamen, die wisperten und zischelten, als ob sie einander zum besten hielten; zur Linken standen alle Mäuseherren und strichen sich mit der Pfote den Schnauzbart. Aber mitten im Saal sah man das Brautpaar; sie standen in einer ausgehöhlten Käserinde und küßten sich gar erschrecklich viel und ganz ungeniert vor aller Augen, denn sie waren ja Verlobte und sollten nun auch gleich Hochzeit halten.
Es kamen immer mehr und mehr Fremde. Eine Maus war nahe daran, die andere totzutreten, und das Brautpaar hatte sich mitten in die Tür gestellt, so daß man weder hinaus- noch hineingelangen konnte. Die ganze Stube war ebenso wie der Gang mit Speckschwarten eingeschmiert, das war die ganze Bewirtung, aber zum Nachtisch wurde eine Erbse vorgezeigt, in die eine Maus aus der Familie den Namen des Brautpaares eingebissen hatte, das heißt die ersten Buchstaben. Das war etwas ganz Außerordentliches.
Alle Mäuse sagten, daß es eine schöne Hochzeit gewesen sei.
Dann fuhr Friedrich wieder nach Hause; er war wahrlich in vornehmer Gesellschaft gewesen, aber er hatte auch ordentlich zusammenkriechen, sich klein machen und Zinnsoldatenuniform anziehen müssen.

Freitag

„Es ist unglaublich, wieviel ältere Leute es gibt, die mich gar zu gern haben möchten!“ sagte der Sandmann; „es sind besonders alle, die etwas Böses verübt haben. ‚Guter, kleiner Sandmann‘, sagen sie zu mir, ‚wir können die Augen nicht schließen, und so liegen wir die ganze Nacht und sehen alle unsere bösen Taten, die wie häßliche, kleine Kobolde auf der Bettstelle sitzen; möchtest du doch kommen und sie fortjagen, damit wir einen guten Schlaf bekämen.‘ Und dann seufzten sie tief: ‚Wir möchten es gern bezahlen. Gute Nacht, Sandmann! Das Geld liegt im Fenster.‘ Aber ich tue es nicht für Geld“, sagte der Sandmann.
„Was wollen wir nun diese Nacht vornehmen?“ fragte Friedrich.
„Ja, ich weiß nicht, ob du diese Nacht wieder Lust hast, zur Hochzeit zu kommen; es ist eine andere Art, als die gestrige war. Deiner Schwester große Puppe, die wie ein Mann aussieht und Hermann genannt wird, will sich mit der Puppe Berta verheiraten; es ist obendrein der Puppe Geburtstag, und deshalb werden da sehr viele Geschenke kommen!“
„Ja, das kenne ich schon“, sagte Friedrich. „Immer wenn die Puppen neue Kleider gebrauchen, läßt meine Schwester sie ihren Geburtstag feiern oder Hochzeit halten; das ist sicher schon hundertmal geschehen!“
„Ja, aber in dieser Nacht ist es die hundertunderste Hochzeit, und wenn hundertundeins aus ist, dann ist alles vorbei! Deswegen wird auch diese so ausgezeichnet. Sieh nur einmal!“
Friedrich sah nach dem Tische. Da stand das kleine Papphaus mit Licht in den Fenstern, und draußen davor präsentierten alle Zinnsoldaten das Gewehr. Das Brautpaar saß ganz gedankenvoll, wozu es wohl Ursache hatte, auf dem Fußboden und lehnte sich gegen den Tischfuß. Aber der Sandmann, in den schwarzen Rock der Großmutter gekleidet, traute sie. Als die Trauung vorbei war, stimmten alle Möbel in der Stube folgenden Gesang an, der vom Bleistift geschrieben war; er ging nach der Melodie des Zapfenstreichs. „Das Lied ertöne wie der Wind:
Dem Brautpaar Hoch! das sich verbind’t;
Sie prangen beide steif und blind,
Da sie von Handschuhleder sind,
Hurra! Hurra, ob taub und blind,
Wir singen es in Wetter und Wind!“
Und nun bekamen sie Geschenke; aber sie hatten sich alle Eßwaren verbeten, denn sie hatten an ihrer Liebe genug.
„Wollen wir nun eine Sommerwohnung beziehen oder auf Reisen gehen?“ fragte der Bräutigam. Die Schwalbe, die viel gereist war, und die Hofhenne, die fünfmal Küchlein ausgebrütet hatte, wurden zu Rate gezogen. Und die Schwalbe erzählte von den herrlichen, warmen Ländern, wo die Weintrauben groß und schwer hängen, wo die Luft so mild ist und die Berge Farbe haben, wie man sie hier gar nicht an ihnen kennt.
„Sie haben doch nicht unsern Grünkohl!“ sagte die Henne. „Ich war einen Sommer mit allen meinen Küchlein auf dem Lande, da war eine Sandgrube, in der wir gehen und kratzen konnten, und dann hatten wir Zutritt zu einem Garten mit Grünkohl! Oh, wie war der grün! Ich kann mir nichts Schöneres denken!“
„Aber ein Kohlstrunk sieht geradeso aus wie der andere“, sagte die Schwalbe, „und dann ist hier oft schlechtes Wetter!“
„Ja, daran ist man gewöhnt!“
„Aber hier ist es kalt, es friert!“
„Das ist gut für den Kohl!“ sagte die Henne. „Übrigens können wir es auch warm haben. Hatten wir nicht vor Jahren einen Sommer, so heiß, daß man kaum atmen konnte? Dann haben wir nicht alle die giftigen Tiere, die sie dort haben, und wir sind von Räubern befreit! Der ist ein Bösewicht, der nicht findet, daß unser Land das schönste ist; er verdiente wahrlich nicht hier zu sein!“ Und dann weinte die Henne und fuhr fort: „Ich bin auch gereist! Ich bin einmal über zwölf Meilen gefahren! Es ist durchaus kein Vergnügen!“
„Ja, die Henne ist eine vernünftige Frau!“ sagte die Puppe Berta. „Ich halte nichts davon, Berge zu bereisen, denn das geht nur hinauf und dann wieder herunter! Nein, wir wollen zur Sandgrube hinausziehen und im Kohlgarten spazieren!“ Und dabei blieb es.

Sonnabend

„Bekomme ich nun Geschichten zu hören?“ fragte der kleine Friedrich, sobald der Sandmann ihn in den Schlaf gebracht hatte.
„Diesen Abend haben wir keine Zeit dazu“, sagte der Sandmann und spannte seinen schönsten Regenschirm über ihn auf. „Betrachte nur die Chinesen!“ Der ganze Regenschirm sah aus wie eine große chinesische Schale mit blauen Bäumen und spitzen Brücken und mit kleinen Chinesen darauf, die dastanden und mit dem Kopfe nickten. „Wir müssen die ganze Welt zu morgen schön ausgeputzt haben“, sagte der Sandmann; „es ist ja morgen Sonntag. Ich will die Kirchtürme besuchen, um zu sehen, ob die kleinen Kirchkobolde die Glocken putzen, damit sie hübsch klingen; ich will hinaus auf das Feld gehen und sehen, ob die Winde den Staub von Gras und Blättern blasen, und, was die größte Arbeit ist, ich will alle Sterne herunterholen, um sie zu polieren. Ich nehme sie in meine Schürze; aber erst muß ein jeder numeriert werden, und die Löcher, worin sie da oben sitzen, müssen auch numeriert werden, damit sie wieder auf den rechten Fleck kommen, sonst würden sie nicht festsitzen und wir würden zu viele Sternschnuppen bekommen, weil der eine nach dem andern herunterpurzeln würde!“
„Hören Sie, wissen Sie was, Herr Sandmann?“ sagte ein altes Bild, das an der Wand hing, wo Friedrich schlief. „Ich bin Friedrichs Urgroßvater; ich danke Ihnen, daß Sie dem Knaben solche Geschichten erzählen, aber Sie müssen seine Begriffe nicht verdrehen. Die Sterne können nicht heruntergenommen und poliert werden! Die Sterne sind Kugeln, ebenso wie unsere Erde, und das ist gerade das Gute an ihnen.“
„Ich danke dir, du alter Urgroßvater“, sagte der Sandmann, „ich danke dir! Du bist ja das Haupt der Familie, du bist das Urhaupt, aber ich bin doch älter als du! Ich bin ein alter Heide; Römer und Griechen nannten mich den Traumgott! Ich bin in die vornehmsten Häuser gekommen und komme noch dahin; ich weiß sowohl mit Geringen wie mit Großen umzugehen! Nun kannst du erzählen!“ Und da ging der Sandmann und nahm seinen Regenschirm mit.
„Nun darf man wohl seine Meinung gar nicht mehr sagen!“ brummte das Bild. Da erwachte Friedrich.

Sonntag

„Guten Abend!“ sagte der Sandmann, Friedrich nickte und wandte das Bild des Urgroßvaters gegen die Wand, damit es nicht, wie gestern, mitspreche.
„Nun mußt du mir Geschichten erzählen: von den fünf grünen Erbsen, die in einer Schote wohnten, und von dem Hahnenfuß, der dem Hühnerfuße den Hof machte, und von der Stopfnadel, die so vornehm tat, daß sie sich einbildete, eine Nähnadel zu sein!“
„Man kann auch des Guten zuviel bekommen!“ sagte der Sandmann. „Du weißt wohl, daß ich dir am liebsten etwas zeige! Ich will dir meinen Bruder zeigen. Er heißt auch Sandmann, aber er kommt zu niemand öfter als einmal, und zu wem er kommt, den nimmt er mit auf sein Pferd und erzählt ihm Geschichten. Er kennt nur zwei; die eine ist so außerordentlich schön, daß niemand in der Welt sie sich denken kann, und die andere ist so häßlich und greulich – es ist gar nicht zu beschreiben!“ Und dann hob der Sandmann den kleinen Friedrich zum Fenster hinauf und sagte: „Da wirst du meinen Bruder sehen, sie nennen ihn auch den Tod! Siehst du, er sieht gar nicht so schlimm aus wie in den Bilderbüchern, wo er nur ein Knochengerippe ist! Nein, das ist Silberstickerei, die er auf dem Kleide hat, die schönste Husarenuniform, ein Mantel von schwarzem Samt fliegt hinten über das Pferd. Sieh, wie er im Galopp reitet!“
Friedrich sah, wie der andere Sandmann davonritt und junge wie alte Leute auf sein Pferd nahm. Einige setzte er vorn, andere hinten auf, aber immer fragte er erst: „Wie steht es mit dem Zeugnisbuch?“ – „Gut!“ sagten sie allesamt. „Ja, laßt mich selbst sehen!“ sagte er; und sie mußten ihm das Buch zeigen; alle die, welche ,Sehr gut‘ und ,Ausgezeichnet‘ hatten, kamen vorn auf das Pferd und bekamen die herrliche Geschichte zu hören; die nur ,Ziemlich gut‘ und ,Mittelmäßig‘ hatten, mußten hinten auf und bekamen die greuliche Geschichte. Sie zitterten und weinten, sie wollten vom Pferde springen und konnten es doch nicht, denn sie waren sogleich daran festgewachsen.
„Aber der Tod ist ja der prächtigste Sandmann!“ sagte Friedrich. „Vor ihm ist mir nicht bange!“ „Das soll auch nicht sein!“ sagte der Sandmann. „Sieh nur zu, daß du ein gutes Zeugnis hast!“ „Ja, das ist lehrreich!“ murmelte des Urgroßvaters Bild. „Es hilft doch, wenn man seine Meinung sagt!“ Und nun war es zufrieden.
Sieh, das ist die Geschichte vom Sandmann! Nun mag er dir selbst diesen Abend mehr erzählen!

Quelle: Hans Christian Andersen

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