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Der Schäfer und die Schlange

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Es war einmal ein armer Schäferknabe in einem friedlichen, anmutig gelegenen Dörfchen; bei dem Dörfchen war ein Tal und ein gar trautes Ortlein, an welches der Schäferknabe immer seine Herde hintrieb, und es schien, als habe der Schäfer diesen stillen Ort sich zum Lieblingsplätzchen erwählt. Er aß nicht eher sein Mittagsbrot und suchte nicht eher die kühle Ruhe, bis er an das traute Plätzchen kam. Dorthin zog ihn immer eine unerklärliche Sehnsucht.
Das Plätzchen selbst war ganz einfach: ein roher Stein lag nur da, unter welchem eine Quelle murmelte, und ein wilder Birnbaum stand dabei, der den Stein überschattete mit seinen dichtbelaubten Zweigen. Doch der Knabe fühlte sich immer so froh, wenn er an diesem Stein aß, aus der Quelle trank, und wenn der Stein sein Ruhekissen war, und es war ihm dann, als höre er ein geheimnisvolles Singen und Seufzen unter dem Stein; dann lauschte er, entschlummerte dann und träumte. Immer war ihm, als umschwebe seine Seele ein geheimes, überirdisches Glück. War er fortgetrieben mit der Herde, und war er abends heimgetrieben, so bemächtigte sich seiner wieder diese unerklärliche Sehnsucht; er mochte unter der Schar der muntern Dorfburschen und Mädchen nicht lustig singend und schäkernd mit umherziehen, wenn es Feierabend war, vielmehr ging er still und allein und wurde sogar traurig. Doch brach der neue schöne Morgen wieder an und zog er mit seiner Lämmerherde wieder hinaus auf Flur und Raine, so wurde sein Sinn heiter und immer heiterer, bis er den lieben Stein, den Schatten des trauten Birnbaums erreicht hatte. Oft auch, wenn er dort rastete und auf seiner Flöte blies, begab es sich, dass eine silberweiße Schlange unter dem Stein hervorkam, die sich erst vertraulich an seine Füße schmiegte, sich dann empor wand und den Schäfer anblickte, bis zwei große Tränen aus ihren Augen quollen, und die dann leise wieder unter den Stein schlüpfte. Da wurde dem Schäfer allemal so eigentümlich, so wunderbar zumute. Sein Herz war froh und doch unaussprechlich wehmütig.
Zuletzt ging der Schäfer gar nicht mehr unter die muntere Zahl der Burschen und Mädchen, das helle lustige Getöse war ihm ganz zuwider, dagegen tat ihm die einsame Stille so wohl und wurde ihm immer lieber.
An einem schönen Frühlingssonntag, dem Sonntage Trinitatis, den die Landleute den „goldenen Sonntag“ nennen und besonders hochhalten und festlich feiern, wo unter der Dorflinde ein lustiger Tanz gehalten werden sollte, lenkte der stille Schäferknabe, von jener unaussprechlichen Sehnsucht getrieben, in der Mittagsstunde seine Schritte dem einsamen Tal zu, wo der Stein und der Birnbaum waren. Er grüßte heiter das traute Plätzchen, setzte sich stilldenkend nieder und lauschte dem Flüstern der Baumblätter und dem geheimnisvollen Geplauder unter dem Steine. Da wurde es mit einemmal so licht vor seinen Blicken, ein Bangen durchzitterte sein Herz, er blickte auf und sah eine holde Gestalt in weißem Kleide, gleich einem Engel, vor sich stehen, mit sanftem Blick und gefalteten Händen; und trunkenen Sinnes hörte der Schäfer eine süße Stimme ihm zuflüstern: „O Jüngling, sei nicht bange, O höre das Flehen eines unglücklichen Mädchens, stoße mich nicht von dir und entfliehe nicht vor meinem Jammer. Ich bin eine edle Prinzessin, bin unermesslich reich an Perlen- und Goldschätzen; aber ich schmachte schon viele Jahrhunderte verzaubert und verbannt hier unter diesem Stein und muss in einem Schlangenleib umherschleichen. So erschaute ich dich hier oft und gewann die Hoffnung, du könntest mich erlösen, du seiest noch rein im Herzen wie ein Kind. Und diese jetzige Stunde, am goldnen Sonntag um die Mittagsstunde, diese allein im ganzen Jahr ist mir vergönnt, in meiner wahren Gestalt auf der Erde zu wandeln; und fände ich da einen Jüngling reinen Herzens, so dürfe ich ihn um meine Erlösung ansprechen. Befreie mich, du Teurer, befreie mich, um alles Heiles willen flehe ich dich an.“ Da sank das Mädchen nieder vor die Füße des Schäfers, und umfasste sie fest und blickte in Tränen zu ihm empor.
Dem Jüngling aber bebte das Herz vor Entzücken, und er hub das Engelmägdlein auf und stammelte: „O sage nur, was soll ich tun, wie soll ich dich befreien, du schöne Liebe? „
Sie sprach: „Komm morgen um dieselbe Stunde wieder hierher, und wenn ich da in meinem Schlangenleib dir erscheine und dich umwinde und dich dreimal küsse, so erschrick nur nicht, O so erschrick nur nicht, sonst muss ich abermals auf Hunderte Jahre hier verzaubert schmachten.“ Sie verschwand in diesem Augenblick; und es tönte wieder ein leises Singen und Seufzen unter dem Stein hervor.
Am folgenden Tage um die Mittagsstunde harrte der Schäfer, nicht ohne Bangen, an jenem Ort, er flehte zum Himmel um Stärke und Standhaftigkeit in dem grauenvollen Augenblick des Schlangenkusses. Und schon wand sich die Schlange silberweiß unter dem Stein hervor, schlich dem Jüngling zu, ringelte sich um seinen Leib und hob das Schlangenhaupt mit den hellen Augen empor zum Kusse; aber der Jüngling blieb stark und duldete die drei Küsse. Da geschah ein mächtiger Schlag, da rollten furchtbare Donner um den ohnmächtig hingesunkenen Jüngling, und wie er wieder erwachte, lag er auf weichen, seidenen Kissen in einem wundervoll geschmückten Zimmer, und das holde Mädchen kniete vor seinem Lager und hielt seine Hand an ihr Herz. „O sei gedankt, Himmel!“ rief sie, als er die Augen aufschlug, „O habe Dank, Herzensjüngling, für meine Rettung, und nimm zum Lohn mein schönes Land und dieses schöne Schloss mit allen kostbaren Schätzen, und nimm mich als deine treue Frau an. Du sollst nun glücklich sein und sollst Freuden die Fülle haben. „
Und dieser Schäfer wurde glücklich und froh; jene Sehnsucht seines Herzens, die ihn so oft hin nach dem Stein, zur stillen Einsamkeit, getrieben – ward herrlich befriedigt. Er lebte, der Welt entrückt, im Schoße des Glücks, mit seiner schönen Gemahlin; und er sehnte sich nicht auf die Erde, nicht zu seinen Lämmern zurück. Aber in jenem Dorfe war ein großes Leid um den so plötzlich verschwundenen Schäfer, die Leute suchten ihn im Tal, bei dem Stein unterm Birnbaum, wo er zuletzt hingegangen war, doch weder der Schäfer, noch der Stein, noch die Quelle, noch der Birnbaum waren mehr zu finden, und kein Auge sah von diesen allen je das mindeste wieder.

Quelle: Ludwig Bechstein

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