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Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven

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Der Scheik von Alessandria, Ali Banu, war ein sonderbarer Mann; wenn er morgens durch die Straßen der Stadt ging, angetan mit einem Turban, aus den köstlichsten Kaschmirs gewunden, mit dem Festkleide und dem reichen Gürtel, der fünfzig Kamele wert war, wenn er einherging langsamen, gravitätischen Schrittes, seine Stirne in finstere Falten gelegt, seine Augenbrauen zusammengezogen, die Augen niedergeschlagen und alle fünf Schritte gedankenvoll seinen langen, schwarzen Bart streichend; wenn er so hinging nach der Moschee, um, wie es seine Würde forderte, den Gläubigen Vorlesungen über den Koran zu halten: da blieben die Leute auf der Straße stehen, schauten ihm nach und sprachen zueinander: „Es ist doch ein schöner, stattlicher Mann, und reich, ein reicher Herr“, setzte wohl ein anderer hinzu, „sehr reich; hat er nicht ein Schloss am Hafen von Stambul? Hat er nicht Güter und Felder und viele tausend Stück Vieh und viele Sklaven?“
„Ja“, sprach ein dritter, „und der Tatar, der letzthin von Stambul her, vom Großherrn selbst, den der Prophet segnen möge, an ihn geschickt kam, der sagte mir, dass unser Scheik sehr in Ansehen stehe beim Reis-Effendi, beim Kapidschi-Baschi, bei allen, ja beim Sultan selbst.“
„Ja“, rief ein vierter, „seine Schritte sind gesegnet; er ist ein reicher, vornehmer Herr, aber – aber, ihr wisst, was ich meine!“ „Ja, ja!“ murmelten dann die anderen dazwischen, „es ist wahr, er hat auch ein Teil zu tragen, möchten nicht mit ihm tauschen; ist ein reicher, vornehmer Herr; aber, aber!“
Ali Banu hatte ein herrliches Haus auf dem schönsten Platz von Alessandria; vor dem Hause war eine weite Terrasse, mit Marmor ummauert, beschattet von Palmbäumen; dort saß er oft abends und rauchte seine Wasserpfeife. In ehrerbietiger Entfernung harrten dann zwölf reichgekleidete Sklaven seines Winkes; der eine trug seinen Betel, der andere hielt seinen Sonnenschirm, ein dritter hatte Gefäße von gediegenem Golde, mit köstlichem Sorbet angefüllt, ein vierter trug einen Wedel von Pfauenfedern, um die Fliegen aus der Nähe des Herrn zu verscheuchen; andere waren Sänger und trugen Lauten und Blasinstrumente, um ihn zu ergötzen mit Musik, wenn er es verlangte, und der gelehrteste von allen trug mehrere Rollen, um ihm vorzulesen.
Aber sie harrten vergeblich auf seinen Wink; er verlangte nicht Musik noch Gesang, er wollte keine Sprüche oder Gedichte weiser Dichter der Vorzeit hören, er wollte keinen Sorbet zu sich nehmen, noch Betel kauen, ja, selbst der mit dem Fächer aus Pfauenfeder hatte vergebliche Arbeit; denn der Herr bemerkte es nicht, wenn ihn eine Fliege summend umschwärmte. Da blieben oft die Vorübergehenden stehen, staunten über die Pracht des Hauses, über die reichgekleideten Sklaven und über die Bequemlichkeit, womit alles versehen war; aber wenn sie dann den Scheik ansahen, wie er so ernst und düster unter den Palmen saß, seine Augen nirgends hinwandte als auf die bläulichen Wölkchen seiner Wasserpfeife, da schüttelten sie die Köpfe und sprachen: „Wahrlich, der reiche Mann ist ein armer Mann. Er, der viel hat, ist ärmer als der, der nichts hat; denn der Prophet hat ihm den Verstand nicht gegeben, es zu genießen.“
So sprachen die Leute, lachten über ihn und gingen weiter.
Eines Abends, als der Scheik wiederum vor der Türe seines Hauses saß, umgeben von allem Glanz der Erde, und traurig und einsam seine Wasserpfeife rauchte, standen nicht ferne davon einige junge Leute, betrachteten ihn und lachten.
„Wahrlich“, sprach der eine, „das ist ein törichter Mann, der Scheik Ali Banu; hätte ich seine Schätze, ich wollte sie anders anwenden. Alle Tage wollte ich leben herrlich und in Freuden; meine Freunde müssten bei mir speisen in den großen Gemächern des Hauses, und Jubel und Lachen müssten diese traurigen Hallen füllen.“
„Ja“, erwiderte ein anderer. „Das wäre nicht so übel; aber viele Freunde zehren ein Gut auf, und wäre es so groß als das des Sultans, den der Prophet segne; aber säße ich abends so unter den Palmen auf dem schönen Platze hier, da müssten mir die Sklaven dort singen und musizieren, meine Tänzer müssten kommen und tanzen und springen und allerlei wunderliche Stücke aufführen. Dazu rauchte ich recht vornehm die Wasserpfeife, ließe mir den köstlichen Sorbet reichen und ergötzte mich an all diesem wie ein König von Bagdad.“
„Der Scheik“, sprach ein dritter dieser jungen Leute, der ein Schreiber war, „der Scheik soll ein gelehrter und weiser Mann sein, und wirklich, seine Vorlesungen über den Koran zeugen von Belesenheit in allen Dichtern und Schriften der Weisheit; aber ist auch sein Leben so eingerichtet, wie es einem vernünftigen Manne geziemt? Dort steht ein Sklave mit einem ganzen Arm voll Rollen; ich gäbe mein Festkleid dafür, nur eine davon lesen zu dürfen; denn es sind gewiss seltene Sachen. Aber er? Er sitzt und raucht und lässt Bücher – Bücher sein. Wäre ich der Scheik Ali Banu, der Kerl müsste mir vorlesen, bis er keinen Atem mehr hätte oder bis die Nacht heraufkäme; und auch dann noch müsste er mir lesen, bis ich entschlummert wäre.“ „Ha! Ihr wisst mir recht, wie man sich ein köstliches Leben einrichtet“, lachte der vierte; „essen und trinken, singen und tanzen, Sprüche lesen und Gedichte hören von armseligen Dichtern! Nein, ich würde es ganz anders machen. Er hat die herrlichsten Pferde und Kamele und Geld die Menge. Da würde ich an seiner Stelle reisen, reisen bis an der Welt Ende und selbst zu den Moskowitern, selbst zu den Franken. Kein Weg wäre mir zu weit, um die Herrlichkeiten der Welt zu sehen. So würde ich tun, wäre ich jener Mann dort.“
„Die Jugend ist eine schöne Zeit und das Alter, wo man fröhlich ist“, sprach ein alter Mann von unscheinbarem Aussehen, der neben ihnen stand und ihre Reden gehört hatte, „aber erlaubet mir, dass ich es sage, die Jugend ist auch töricht und schwatzt hier und da in den Tag hinein, ohne zu wissen, was sie tut.“
„Was wollt Ihr damit sagen, Alter?“ fragten verwundert die jungen Leute. „Meinet Ihr uns damit? Was geht es Euch an, dass wir die Lebensart des Scheiks tadeln?“
„Wenn einer etwas besser weiß als der andere, so berichtige er seinen Irrtum, so will es der Prophet“, erwiderte der alte Mann, „der Scheik, es ist wahr, ist gesegnet mit Schätzen und hat alles, wonach das Herz verlangt, aber er hat Ursache, ernst und traurig zu sein. Meinet ihr, er sei immer so gewesen? Nein, ich habe ihn noch vor fünfzehn Jahren gesehen, da war er munter und rüstig wie die Gazelle und lebte fröhlich und genoss sein Leben. Damals hatte er einen Sohn, die Freude seiner Tage, schön und gebildet, und wer ihn sah und sprechen hörte, musste den Scheik beneiden um diesen Schatz, denn er war erst zehn Jahre alt, und doch war er schon so gelehrt wie ein anderer kaum im achtzehnten.“
„Und der ist ihm gestorben? Der arme Scheik!“ rief der junge Schreiber.
„Es wäre tröstlich für ihn, zu wissen, dass er heimgegangen in die Wohnungen des Propheten, wo er besser lebte als hier in Alessandria; aber das, was er erfahren musste, ist viel schlimmer. Es war damals die Zeit, wo die Franken wie hungrige Wölfe herüberkamen in unser Land und Krieg mit uns führten. Sie hatten Alessandria überwältigt und zogen von da aus weiter und immer weiter und bekriegten die Mamelucken. Der Scheik war ein kluger Mann und wusste sich gut mit ihnen zu vertragen; aber, sei es, weil sie lüstern waren nach seinen Schätzen, sei es, weil er sich seiner gläubigen Brüder annahm, ich weiß es nicht genau; kurz, sie kamen eines Tages in sein Haus und beschuldigten ihn, die Mamelucken heimlich mit Waffen, Pferden und Lebensmitteln unterstützt zu haben. Er mochte seine Unschuld beweisen, wie er wollte, es half nichts, denn die Franken sind ein rohes, hartherziges Volk, wenn es darauf ankommt, Geld zu erpressen. Sie nahmen also seinen jungen Sohn, Kairam geheißen, als Geisel in ihr Lager. Er bot ihnen viel Geld für ihn; aber sie gaben ihn nicht los und wollten ihn zu noch höherem Gebot steigern. Da kam ihnen auf einmal von ihrem Bassa, oder was er war, der Befehl, sich einzuschiffen; niemand in Alessandria wusste ein Wort davon, und – plötzlich waren sie auf der hohen See, und den kleinen Kairam, Ali Banus Sohn, schleppten sie wohl mit sich, denn man hat nie wieder etwas von ihm gehört.“
„O der arme Mann, wie hat ihn doch Allah geschlagen!“ riefen einmütig die jungen Leute und schauten mitleidig hin nach dem Scheik, der, umgeben von Herrlichkeit, trauernd und einsam unter den Palmen saß.
„Sein Weib, das er sehr geliebt hat, starb ihm aus Kummer um ihren Sohn; er selbst aber kaufte sich ein Schiff, rüstete es aus und bewog den fränkischen Arzt, der dort unten am Brunnen wohnt, mit ihm nach Frankistan zu reisen, um den verlorenen Sohn aufzusuchen. Sie schifften sich ein und waren lange Zeit auf dem Meere und kamen endlich in das Land jener Giaurs, jener Ungläubigen, die in Alessandria gewesen waren. Aber dort soll es gerade schrecklich zugegangen sein. Sie hatten ihren Sultan umgebracht, und die Paschas und die Reichen und Armen schlugen einander die Köpfe ab, und es war keine Ordnung im Lande. Vergeblich suchten sie in jeder Stadt nach dem kleinen Kairam, niemand wollte von ihm wissen, und der fränkische Doktor riet endlich dem Scheik, sich einzuschiffen, weil sie sonst wohl selbst um ihre Köpfe kommen könnten.
So kamen sie wieder zurück, und seit seiner Ankunft hat der Scheik gelebt wie an diesem Tag, denn er trauert um seinen Sohn, und er hat recht. Muss er nicht, wenn er isst und trinkt, denken, jetzt muss vielleicht mein armer Kairam hungern und dürsten?
Und wenn er sich bekleidet mit reichen Schals und Festkleidern, wie es sein Amt und seine Würde will, muss er nicht denken, jetzt hat er wohl nichts, womit er seine Blöße deckt? Und wenn er umgeben ist von Sängern und Tänzern und Vorlesern, seinen Sklaven, denkt er da nicht, jetzt muss wohl mein armer Sohn seinem fränkischen Gebieter Sprünge vormachen und musizieren, wie er es haben will? Und was ihm den größten Kummer macht, er glaubt, der kleine Kairam werde, so weit vom Lande seiner Väter und mitten unter Ungläubigen, die seiner spotten, abtrünnig werden vom Glauben seiner Väter und er werde ihn einst nicht umarmen können in den Gärten des Paradieses!
Darum ist er auch so mild gegen seine Sklaven und gibt große Summen an die Armen; denn er denkt, Allah werde es vergelten und das Herz seiner fränkischen Herren rühren, dass sie seinen Sohn mild behandeln. Auch gibt er jedes Mal, wenn der Tag kommt, an welchem ihm sein Sohn entrissen wurde, zwölf Sklaven frei.“
„Davon habe ich auch schon gehört“, entgegnete der Schreiber, „aber man trägt sich mit wundervollen Reden; von seinem Sohne wurde dabei nichts erwähnt; wohl aber sagte man, er sei ein sonderbarer Mann und ganz besonders erpicht auf Erzählungen; da soll er jedes Jahr unter seinen Sklaven einen Wettstreit anstellen, und wer am besten erzählt, den gibt er frei.“ „Verlasset euch nicht auf das Gerede der Leute“, sagte der alte Mann, „es ist so, wie ich es sage, und ich weiß es genau; möglich ist, dass er sich an diesem schweren Tage aufheitern will und sich Geschichten erzählen lässt; doch gibt er sie frei um seines Sohnes willen. Doch, der Abend wird kühl, und ich muss weitergehen. Salem aleikum, Friede sei mit euch, ihr jungen Herren, und denket in Zukunft besser von dem guten Scheik!“
Die jungen Leute dankten dem Alten für seine Nachrichten, schauten noch einmal nach dem trauernden Vater und gingen die Straße hinab, indem sie zueinander sprachen: „Ich möchte doch nicht der Scheik Ali Banu sein.“
Nicht lange Zeit, nachdem diese jungen Leute mit dem alten Mann über den Scheik Ali Banu gesprochen hatten, traf es sich, dass sie um die Zeit des Morgengebets wieder diese Straße gingen. Da fiel ihnen der alte Mann und seine Erzählung ein, und sie beklagten zusammen den Scheik und blickten nach seinem Hause. Aber wie staunten sie, als sie dort alles aufs herrlichste ausgeschmückt fanden! Von dem Dache, wo geputzte Sklavinnen spazieren gingen, wehten Wimpeln und Fahnen, die Halle des Hauses war mit köstlichen Teppichen belegt, Seidenstoff schloss sich an diese an, der über die breiten Stufen der Treppe gelegt war, und selbst auf der Straße war noch schönes, feines Tuch ausgebreitet, wovon sich mancher wünschen mochte zu einem Festkleid oder zu einer Decke für die Füße.
„Ei, wie hat sich doch der Scheik geändert in den wenigen Tagen!“ sprach der junge Schreiber. „Will er ein Fest geben? Will er seine Sänger und Tänzer anstrengen? Seht mir diese Teppiche! Hat sie einer so schön in ganz Alessandria! Und dieses Tuch auf dem gemeinen Boden, wahrlich, es ist schade dafür!“
„Weißt du, was ich denke?“ sprach ein anderer. „Er empfängt sicherlich einen hohen Gast; denn das sind Zubereitungen, wie man sie macht, wenn ein Herrscher von großen Ländern oder ein Effendi des Großherrn ein Haus mit seinem Besuch segnet. Wer mag wohl heute hierher kommen?“
„Siehe da, geht dort unten nicht unser Alter von letzthin? Ei, der weiß ja alles und muss auch darüber Aufschluss geben können. Heda! Alter Herr! Wollet Ihr nicht ein wenig zu uns treten?“ So riefen sie; der alte Mann aber bemerkte ihre Winke und kam zu ihnen; denn er erkannte sie als die jungen Leute, mit welchen er vor einigen Tagen gesprochen. Sie machten ihn aufmerksam auf die Zurüstungen im Hause des Scheiks und fragten ihn, ob er nicht wisse, welch hoher Gast wohl erwartet werde.
„Ihr glaubt wohl“, erwiderte er, „Ali Banu feiere heute ein großes Freudenfest, oder der Besuch eines großen Mannes beehre sein Haus? Dem ist nicht also; aber heute ist der zwölfte Tag des Monats Ramadan, wie ihr wisset, und an diesem Tag wurde sein Sohn ins Lager geführt.“
„Aber beim Bart des Propheten!“ rief einer der jungen Leute. „Das sieht ja alles aus wie Hochzeit und Festlichkeiten, und doch ist es sein berühmter Trauertag, wie reimt Ihr das zusammen? Gesteht, der Scheik ist denn doch etwas zerrüttet im Verstand.“
„Urteilt Ihr noch immer so schnell, mein junger Freund?“ fragte der Alte lächelnd. „Auch diesmal war Euer Pfeil wohl spitzig und scharf, die Sehne Eures Bogens straff angezogen, und doch habt Ihr weitab vom Ziele geschossen. Wisset, dass heute der Scheik seinen Sohn erwartet.“
„So ist er gefunden?“ riefen die Jünglinge und freuten sich. „Nein, und er wird sich wohl lange nicht finden; aber wisset: Vor acht oder zehn Jahren, als der Scheik auch einmal mit Trauern und Klagen diesen Tag beging, auch Sklaven freigab und viele Arme speiste und tränkte, da traf es sich, dass er auch einem Derwisch, der müde und matt im Schatten jenes Hauses lag, Speise und Trank reichen ließ. Der Derwisch aber war ein heiliger Mann und erfahren in Prophezeiungen und im Sterndeuten. Der trat, als er gestärkt war durch die milde Hand des Scheiks, zu ihm und sprach: ‚Ich kenne die Ursache deines Kummers; ist nicht heute der zwölfte Ramadan, und hast du nicht an diesem Tage deinen Sohn verloren? Aber sei getrost, dieser Tag der Trauer wird dir zum Festtag werden, denn wisse, an diesem Tage wird einst dein Sohn zurückkehren!‘ So sprach der Derwisch. Es wäre Sünde für jeden Muselmann, an der Rede eines solchen Mannes zu zweifeln; der Gram Alis wurde zwar dadurch nicht gemildert, aber doch harrt er an diesem Tage immer auf die Rückkehr seines Sohnes und schmückt sein Haus und seine Halle und die Treppen, als könne jener zu jeder Stunde anlangen.“
„Wunderbar!“ erwiderte der Schreiber. „Aber zusehen möchte ich doch, wie alles so herrlich bereitet ist, wie er selbst in dieser Herrlichkeit trauert, und hauptsächlich möchte ich zuhören, wie er sich von seinen Sklaven erzählen lässt.“
„Nichts leichter als dies“, antwortete der Alte. „Der Aufseher der Sklaven jenes Hauses ist mein Freund seit langen Jahren und gönnt mir an diesem Tage immer ein Plätzchen in dem Saal, wo man unter der Menge der Diener und Freunde des Scheiks den einzelnen nicht bemerkt. Ich will mit ihm reden, dass er euch einlässt; ihr seid ja nur zu viert, und da kann es schon gehen; kommet um die neunte Stunde auf diesen Platz, und ich will euch Antwort geben.“
So sprach der Alte; die jungen Leute aber dankten ihm und entfernten sich, voll Begierde zu sehen, wie sich dies alles begeben würde.
Sie kamen zur bestimmten Stunde auf den Platz vor dem Hause des Scheik und trafen da den Alten, der ihnen sagte, dass der Aufseher der Sklaven erlaubt habe, sie einzuführen. Er ging voran, doch nicht durch die reichgeschmückten Treppen und Tore, sondern durch ein Seitenpförtchen, das er sorgfältig wieder verschloss. Dann führte er sie durch mehrere Gänge, bis sie in den großen Saal kamen. Hier war ein großes Gedränge von allen Seiten; da waren reichgekleidete Männer, angesehene Herren der Stadt und Freunde des Scheik, die gekommen waren, ihn in seinem Schmerz zu trösten. Da waren Sklaven aller Art und aller Nationen. Aber alle sahen kummervoll aus; denn sie liebten ihren Herrn und trauerten mit ihm. Am Ende des Saales, auf einem reichen Diwan, saßen die vornehmsten Freunde Alis und wurden von den Sklaven bedient. Neben ihnen auf dem Boden saß der Scheik; denn die Trauer um seinen Sohn erlaubte ihm nicht, auf dem Teppich der Freude zu sitzen. Er hatte sein Haupt in die Hand gestützt und schien wenig auf die Tröstungen zu hören, die ihm seine Freunde zuflüsterten. Ihm gegenüber saßen einige alte und junge Männer in Sklaventracht. Der Alte belehrte seine jungen Freunde, dass dies die Sklaven seien, die Ali Banu an diesem Tage freigebe. Es waren unter ihnen auch einige Franken, und der Alte machte besonders auf einen von ihnen aufmerksam, der von ausgezeichneter Schönheit und noch sehr jung war. Der Scheik hatte ihn erst einige Tage zuvor einem Sklavenhändler von Tunis um eine große Summe abgekauft und gab ihn dennoch jetzt schon frei, weil er glaubte, je mehr Franken er in ihr Vaterland zurückschicke, desto früher werde der Prophet seinen Sohn erlösen.
Nachdem man überall Erfrischungen umhergereicht hatte, gab der Scheik dem Aufseher der Sklaven ein Zeichen. Dieser stand auf, und es ward tiefe Stille im Saal. Er trat vor die Sklaven, welche freigelassen werden sollten, und sprach mit vernehmlicher Stimme: „Ihr Männer, die ihr heute frei sein werdet durch die Gnade meines Herrn Ali Banu, des Scheik von Alessandria, tuet nur, wie es Sitte ist an diesem Tage in seinem Hause, und hebet an zu erzählen!“
Sie flüsterten untereinander. Dann aber nahm ein alter Sklave das Wort und fing an zu erzählen: „Der Zwerg Nase „.
So erzählte der Sklave aus Frankistan; nachdem er geendet hatte, ließ der Scheik Ali Banu ihm und den anderen Sklaven Früchte reichen, sich zu erfrischen, und unterhielt sich, während sie aßen, mit seinen Freunden. Die jungen Männer aber, die der Alte eingeführt hatte, waren voll Lobes über den Scheik, sein Haus und alle seine Einrichtungen. „Wahrlich“, sprach der junge Schreiber, „es gibt keinen angenehmeren Zeitvertreib als Geschichten anzuhören. Ich könnte tagelang so hinsetzen, die Beine untergeschlagen, einen Arm aufs Kissen gestützt, die Stirne in die Hand gelegt, und, wenn es ginge, des Scheiks große Wasserpfeife in der Hand, und Geschichten anhören – so ungefähr stelle ich mir das Leben vor in den Gärten Mohameds.“
„So lange Ihr jung seid und arbeiten könnt“, sprach der Alte, „kann ein solcher träger Wunsch nicht Euer Ernst sein. Aber das gebe ich Euch zu, dass ein eigener Reiz darin liegt, etwas erzählen zu hören. So alt ich bin, und ich gehe nun ins siebenundsiebzigste Jahr, so viel ich in meinem Leben schon gehört habe, so verschmähe ich es doch nicht, wenn an der Ecke ein Geschichtenerzähler sitzt und um ihn in großem Kreis die Zuhörer, mich ebenfalls hinzusetzen und zuzuhören. Man träumt sich ja in die Begebenheiten hinein, die erzählt werden, man lebt mit diesen Menschen, mit diesen wundervollen Geistern, mit Feen und dergleichen Leuten, die uns nicht alle Tage begegnen, und hat nachher, wenn man einsam ist, Stoff, sich alles zu wiederholen, wie der Wanderer, der sich gut versehen hat, wenn er durch die Wüste reist.“
„Ich habe nie so darüber nachgedacht“, erwiderte ein anderer der jungen Leute, „worin der Reiz solcher Geschichten eigentlich liegt. Aber mir geht es wie euch. Schon als Kind konnte man mich, wenn ich ungeduldig war, durch eine Geschichte zum Schweigen bringen. Es war mir anfangs gleichgültig, von was es handelte, wenn es nur erzählt war, wenn nur etwas geschah; wie oft habe ich, ohne zu ermüden, jene Fabeln angehört, die weise Männer erfunden und in welche sie einen Kern ihrer Weisheit gelegt haben, vom Fuchs und vom törichten Raben, vom Fuchs und vom Wolf, viele Dutzend Geschichten vom Löwen und den übrigen Tieren. Als ich älter wurde und mehr unter die Menschen kam, genügten mir jene kurzen Geschichten nicht mehr; sie mussten schon länger sein, mussten von Menschen und ihren wunderbaren Schicksalen handeln.“ „Ja, ich entsinne mich noch wohl dieser Zeit“, unterbrach ihn einer seiner Freunde. „Du warst es, der uns diesen Drang nach Erzählungen beibrachte. Einer Eurer Sklaven wusste so viel zu erzählen, als ein Kameltreiber von Mekka nach Medina spricht; wenn er fertig war mit seiner Arbeit, musste er sich zu uns setzen, und da baten wir so lange, bis er zu erzählen anfing, und das ging fort und fort, bis die Nacht heraufkam.“
„Und erschloss sich uns“, entgegnete der Schreiber, „erschloss sich uns da nicht ein neues, nie gekanntes Reich, das Land der Genien und Feen, bebaut mit allen Wundern der Pflanzenwelt, mit reichen Palästen von Smaragden und Rubinen, mit riesenhaften Sklaven bevölkert, die erschienen, wenn man einen Ring hin und wider dreht oder die Wunderlampe reibt oder das Wort Salomos ausspricht, und in goldenen Schalen herrliche Speisen bringen. Wir fühlten uns unwillkürlich in jenes Land versetzt, wir machten mit Sindbad seine wunderbaren Fahrten, wir gingen mit Harun Al-Raschid, dem weisen Beherrscher der Gläubigen, abends spazieren, wir kannten Giaffar, seinen Wesir, so gut als uns selbst, kurz, wir lebten in jenen Geschichten, wie man nachts in Träumen lebt, und es gab keine schönere Tageszeit für uns als den Abend, wo der alte Sklave uns erzählte. Aber sage uns, Alter, worin liegt es denn eigentlich, dass wir damals so gerne erzählen hörten, dass es noch jetzt für uns keine angenehmere Unterhaltung gibt?“
Die Bewegung, die im Zimmer entstand, und die Aufforderung zur Aufmerksamkeit, die der Sklavenaufseher gab, verhinderte den Alten zu antworten. Die jungen Leute wussten nicht, ob sie sich freuen sollten, dass sie eine neue Geschichte anhören durften, oder ungehalten sein darüber, dass ihr anziehendes Gespräch mit dem Alten unterbrochen worden war; aber ein zweiter Sklave erhob sich bereits und begann: „Abner, der Jude, der nichts gesehen hat „.
Als der Sklave geendet hatte und es wieder stille im Saale geworden war, erinnerte der junge Schreiber den Alten, dass sie den Faden ihrer Unterhaltung abgebrochen hatten, und bat, ihnen zu erklären, worin denn eigentlich der mächtige Reiz des Märchens liege.
„Das will ich Euch jetzt sagen“, erwiderte der Alte. „Der menschliche Geist ist noch leichter und beweglicher als das Wasser, das doch in alle Formen sich schmiegt und nach und nach auch die dichtesten Gegenstände durchdringt. Er ist leicht und frei wie die Luft und wird wie diese, je höher er sich von der Erde hebt, desto leichter und reiner. Daher ist ein Drang in jedem Menschen, sich hinauf über das Gewöhnliche zu erheben und sich in höheren Räumen leichter und freier zu bewegen, sei es auch nur in Träumen. Ihr selbst, mein junger Freund, sagtet: ‚Wir lebten in jenen Geschichten, wir dachten und fühlten mit jenen Menschen‘, und daher kommt der Reiz, den sie für Euch hatten. Indem Ihr den Erzählungen des Sklaven zuhöret, die nur Dichtungen waren, die einst ein anderer erfand, habt Ihr selbst auch mitgedichtet. Ihr bliebet nicht stehen bei den Gegenständen um Euch her, bei Euren gewöhnlichen Gedanken, nein, Ihr erlebtet alles mit, Ihr wart es selbst, dem dies und jenes Wunderbare begegnete, so sehr nahmt Ihr teil an dem Manne, von dem man Euch erzählte. So erhob sich Euer Geist am Faden einer solchen Geschichte über die Gegenwart, die Euch nicht so schön, nicht so anziehend dünkte; so bewegte sich dieser Geist in fremden, höheren Räumen freier und ungebundener, das Märchen wurde Euch zur Wirklichkeit, oder, wenn Ihr lieber wollet, die Wirklichkeit wurde zum Märchen, weil Euer Dichten und Sein im Märchen lebte.“
„Ganz verstehe ich Euch nicht“, erwiderte der junge Kaufmann, „aber Ihr habt recht mit dem, was Ihr sagtet, wir lebten im Märchen oder das Märchen in uns. Sie ist mir noch wohl erinnerlich, jene schöne Zeit; wenn wir Muße dazu hatten, träumten wir wachend; wir stellten uns vor, an wüste, unwirtbare Inseln verschlagen zu sein, wir berieten uns, was wir beginnen sollten, um unser Leben zu fristen, und oft haben wir im dichten Weidengebüsch uns Hütten gebaut, haben von elenden Früchten ein kärgliches Mahl gehalten, obgleich wir hundert Schritte weit zu Haus das Beste hätten haben können, ja, es gab Zeiten, wo wir auf die Erscheinung einer gütigen Fee oder eines wunderbaren Zwerges warteten, die zu uns treten und sagen würden: ‚Die Erde wird sich alsbald auftun, wollet dann nur gefälligst herabsteigen in meinen Palast von Bergkristall und euch belieben lassen, was meine Diener, die Meerkatzen, euch auftischen.'“
Die jungen Leute lachten, gaben aber ihrem Freunde zu, dass er wahr gesprochen habe. „Noch jetzt“, fuhr ein anderer fort, „noch jetzt beschleicht mich hier und da dieser Zauber; ich würde mich zum Beispiel nicht wenig ärgern über die dumme Fabel, wenn mein Bruder zur Türe hereingestürzt käme und sagte: ‚Weißt du schon das Unglück von unserem Nachbarn, dem dicken Bäcker? Er hat Händel gehabt mit einem Zauberer, und dieser hat ihn aus Rache in einen Bären verwandelt, und jetzt liegt er in seiner Kammer und heult entsetzlich‘; ich würde mich ärgern und ihn einen Lügner schelten. Aber wie anders, wenn mir erzählt würde, der dicke Nachbar hab‘ eine weite Reise in ein fernes, unbekanntes Land unternommen, sei dort einem Zauberer in die Hände gefallen, der ihn in einen Bären verwandelte. Ich würde mich nach und nach in die Geschichte versetzt fühlen, würde mit dem dicken Nachbar reisen, Wunderbares erleben, und es würde mich nicht sehr überraschen, wenn er in ein Fell gesteckt würde und auf allen vieren gehen müsste.“
So sprachen die jungen Leute; da gab der Scheik wiederum das Zeichen, und alle setzten sich nieder. Der Aufseher der Sklaven aber trat zu den Freigelassenen und forderte sie auf, weiter fortzufahren. Einer unter ihnen zeigte sich bereit, stand auf und hub an, folgendermaßen zu erzählen:“Der arme Stephan „.
Der Sklave hatte geendet, und seine Erzählung erhielt den Beifall des Scheik und seiner Freunde. Aber auch durch diese Erzählung wollte sich die Stirne des Scheik nicht entwölken lassen, er war und blieb ernst und tiefsinnig wie zuvor, und die jungen Leute bemitleideten ihn.
„Und doch“, sprach der junge Kaufmann, „und doch kann ich nicht begreifen, wie der Scheik sich an einem solchen Tage Märchen erzählen lassen mag, und zwar von seinen Sklaven. Ich für meinen Teil, hätte ich einen solchen Kummer, so würde ich lieber hinausreiten in den Wald und mich setzen, wo es recht dunkel und einsam ist, aber auf keinen Fall dieses Geräusch von Bekannten und Unbekannten um mich versammeln.“
„Der Weise“, antwortete der alte Mann, „der Weise lässt sich von seinem Kummer nie so überwältigen, dass er ihm völlig unterliegt. Er wird ernst, er wird tiefsinnig sein, er wird aber nicht laut klagen oder verzweifeln. Warum also, wenn es in deinem Innern dunkel und traurig aussieht, warum noch überdies die Schatten dunkler Zedern suchen? Ihr Schatten fällt durch das Auge in dein Herz und macht es noch dunkler. An die Sonne musst du gehen, in den warmen, lichten Tag, für was du trauerst, und mit der Klarheit des Tages, mit der Wärme des Lichtes wird dir die Gewissheit aufgehen, dass Allahs Liebe über dir ist, erwärmend und ewig wie seine Sonne.“
„Ihr habt wahr gesprochen“, setzte der Schreiber hinzu, „und geziemt es nicht einem weisen Mann, dem seine Umgebungen zu Gebot stehen, dass er an einem solchen Tage die Schatten des Grams so weit als möglich entferne? Soll er zum Getränke seine Zuflucht nehmen oder Opium speisen, um den Schmerz zu vergessen? Ich bleibe dabei, es ist die anständigste Unterhaltung in Leid und Freude, sich erzählen zu lassen, und der Scheik hat ganz recht.“
„Gut“, erwiderte der junge Kaufmann, „aber hat er nicht Vorleser, nicht Freunde genug; warum müssen es gerade Sklaven sein, die erzählen?“
„Diese Sklaven, lieber Herr“, sagte der Alte, „sind vermutlich durch allerlei Unglück in Sklaverei geraten und sind nicht gerade so ungebildete Leute, wie Ihr wohl gesehen habt, von welchen man sich nicht könnte erzählen lassen. Überdies stammen sie von allerlei Ländern und Völkern, und es ist zu erwarten, dass sie bei sich zu Hause irgend etwas Merkwürdiges gehört oder gesehen, das sie nun zu erzählen wissen. Einen noch schöneren Grund, den mir einst ein Freund des Scheik sagte, will ich Euch wiedergeben: Diese Leute waren bis jetzt in seinem Hause als Sklaven, hatten sie auch keine schwere Arbeit zu verrichten, so war es doch immer Arbeit, zu der sie gezwungen waren, und mächtig der Unterschied zwischen ihnen und freien Leuten. Sie durften sich, wie es Sitte ist, dem Scheik nicht anders als mit den Zeichen der Unterwürfigkeit nähern. Sie durften nicht zu ihm reden, außer er fragte sie, und ihre Rede musste kurz sein. Heute sind sie frei; und ihr erstes Geschäft als freie Leute ist, in großer Gesellschaft und vor ihrem bisherigen Herrn lange und offen sprechen zu dürfen. Sie fühlen sich nicht wenig geehrt dadurch, und ihre unverhoffte Freilassung wird ihnen dadurch nur um so werter.“
„Siehe“, unterbrach ihn der Schreiber, „dort steht der vierte Sklave auf; der Aufseher hat ihm wohl schon das Zeichen gegeben, lasset uns niedersetzen und hören!“
 
Der gebackene Kopf
 
Der Scheik äußerte seinen Beifall über diese Erzählung. Er hatte, was in Jahren nicht geschehen war, einige Mal gelächelt, und seine Freunde nahmen dies als eine gute Vorbedeutung. Dieser Eindruck war den jungen Männern und dem Alten nicht entgangen. Auch sie freuten sich darüber, dass der Scheik, auf eine halbe Stunde wenigstens, zerstreut wurde; denn sie ehrten seinen Kummer und die Trauer um sein Unglück, sie fühlten ihre Brust beengt, wenn sie ihn so ernst und stille seinem Grame nachhängen sahen, und gehobener, freudiger waren sie, als die Wolke seiner Stirne auf Augenblicke vorüberzog.
„Ich kann mir wohl denken“, sagte der Schreiber, „dass diese Erzählung günstigen Eindruck auf ihn machen musste; es liegt so viel Sonderbares, Komisches darin, dass selbst der heilige Derwisch auf dem Berge Libanon, der in seinem Leben noch nie gelacht hat, laut auflachen müsste.“
„Und doch“, sprach der Alte lächelnd, „und doch ist weder Fee noch Zauberer darin erschienen; kein Schloss von Kristall, keine Genien, die wunderbare Speisen bringen, kein Vogel Rock, noch ein Zauberpferd -„
„Ihr beschämt uns“, rief der junge Kaufmann, „weil wir mit so vielem Eifer von jenen Märchen unserer Kindheit sprachen, die uns noch jetzt so wunderbar anziehen, weil wir jene Momente aufzählten, wo uns das Märchen so mit sich hinwegriss, dass wir darin zu leben wähnten, weil wir dies so hoch anschlugen, wollet Ihr uns beschämen und auf feine Art zurechtweisen; nicht so?“
„Mitnichten! Es sei ferne von mir, eure Liebe zum Märchen zu tadeln; es zeugt von einem unverdorbenen Gemüt, dass ihr euch noch so recht gemütlich in den Gang des Märchens versetzen konntet, dass ihr nicht wie andere vornehm darauf, als auf ein Kinderspiel, herabsehet, dass ihr euch nicht langweilt und lieber ein Ross zureiten oder auf dem Sofa behaglich einschlummern oder halb träumend die Wasserpfeife rauchen wolltet, statt dergleichen euer Ohr zu schenken. Es sei ferne von mir, euch darum zu tadeln; aber das freut mich, dass auch eine andere Art von Erzählung euch fesselt und ergötzt, eine andere Art als die, welche man gewöhnlich Märchen nennt.“
„Wie versteht Ihr dies? Erklärt uns deutlicher, was Ihr meinet. Eine andere Art als das Märchen?“ sprachen die Jünglinge unter sich.
„Ich denke, man muss einen gewissen Unterschied machen zwischen Märchen und Erzählungen, die man im gemeinen Leben Geschichten nennt. Wenn ich euch sage, ich will euch ein Märchen erzählen, so werdet ihr zum voraus darauf rechnen, dass es eine Begebenheit ist, die von dem gewöhnlichen Gang des Lebens abschweift und sich in einem Gebiet bewegt, das nicht mehr durchaus irdischer Natur ist. Oder, um deutlicher zu sein, ihr werdet bei dem Märchen auf die Erscheinung anderer Wesen als allein sterblicher Menschen rechnen können; es greifen in das Schicksal der Person, von welcher das Märchen handelt, fremde Mächte, wie Feen und Zauberer, Genien und Geisterfürsten, ein; die ganze Erzählung nimmt eine außergewöhnliche, wunderbare Gestalt an und ist ungefähr anzuschauen wie die Gewebe unserer Teppiche oder viele Gemälde unserer besten Meister, welche die Franken Arabesken nennen. Es ist dem echten Muselmann verboten, den Menschen, das Geschöpf Allahs, sündigerweise wiederzuschöpfen in Farben und Gemälden, daher sieht man auf jenen Geweben wunderbar verschlungene Bäume und Zweige mit Menschenköpfen, Menschen, die in einen Fisch oder Strauch ausgehen, kurz, Figuren, die an das gewöhnliche Leben erinnern und dennoch ungewöhnlich sind; ihr versteht mich doch?“ „Ich glaube, Eure Meinung zu erraten“, sagte der Schreiber, „doch fahret weiter fort!“
„Von dieser Art ist nun das Märchen; fabelhaft, ungewöhnlich, überraschend; weil es dem gewöhnlichen Leben fremd ist, wird es oft in fremde Länder oder in ferne, längst vergangene Zeiten verschoben. Jedes Land, jedes Volk hat solche Märchen, die Türken so gut als die Perser, die Chinesen wie die Mongolen; selbst in Frankenland soll es viele geben, wenigstens erzählte mir einst ein gelehrter Giaur davon; doch sind sie nicht so schön als die unsrigen; denn statt schöner Feen, die in prachtvollen Palästen wohnen, haben sie zauberhafte Weiber, die sie Hexen nennen, heimtückisches, hässliches Volk, das in elenden Hütten wohnt, und statt in einem Muschelwagen, von Greisen gezogen, durch die blauen Lüfte zu fahren, reiten sie auf einem Besen durch den Nebel. Sie haben auch Gnomen und Erdgeister, das sind kleine verwachsene Kerlchen, die allerlei Spuk machen. Das sind nun die Märchen; ganz anders ist es aber mit den Erzählungen, die man gemeinhin Geschichten nennt. Diese bleiben ganz ordentlich auf der Erde, tragen sich im gewöhnlichen Leben zu, und wunderbar ist an ihnen meistens nur die Verkettung der Schicksale eines Menschen, der nicht durch Zauber, Verwünschung oder Feenspuk, wie im Märchen, sondern durch sie selbst oder die sonderbare Fügung der Umstände reich oder arm, glücklich oder unglücklich wird.“
„Richtig!“ erwiderte einer der jungen Leute. „Solche reinen Geschichten finden sich auch in den herrlichen Erzählungen der Scheherazade, die man ‚Tausendundeine Nacht‘ nennt. Die meisten Begebenheiten des Königs Harun Al-Raschid und seines Wesirs sind dieser Art. Sie gehen verkleidet aus und sehen diesen oder jenen höchst sonderbaren Vorfall, der sich nachher ganz natürlich auflöst.“
„Und dennoch werdet ihr gestehen müssen“, fuhr der Alte fort, „dass jene Geschichten nicht der schlechteste Teil der ‚Tausendundeine Nacht‘ sind. Und doch, wie verschieden sind sie in ihren Ursachen, in ihrem Gang, in ihrem ganzen Wesen von den Märchen eines Prinzen Biribinker oder der drei Derwische mit einem Auge oder des Fischers, der den Kasten, verschlossen mit dem Siegel Salomos, aus dem Meere zieht! Aber am Ende ist es dennoch eine Grundursache, die beiden ihren eigentümlichen Reiz gibt, nämlich das, dass wir etwas Auffallendes, Außergewöhnliches miterleben. Bei dem Märchen liegt dieses Außergewöhnliche in jener Einmischung eines fabelhaften Zaubers in das gewöhnliche Menschenleben, bei den Geschichten geschieht etwas zwar nach natürlichen Gesetzen, aber auf überraschende, ungewöhnliche Weise.“
„Sonderbar!“ rief der Schreiber, „sonderbar, dass uns dann dieser natürliche Gang der Dinge ebenso anzieht wie der übernatürliche im Märchen; worin mag dies doch liegen?“
„Das liegt in der Schilderung des einzelnen Menschen“, antwortete der Alte; „im Märchen häuft sich das Wunderbare so sehr, der Mensch handelt so wenig mehr aus eigenem Trieb, dass die einzelnen Figuren und ihr Charakter nur flüchtig gezeichnet werden können. Anders bei der gewöhnlichen Erzählung, wo die Art, wie jeder seinem Charakter gemäß spricht und handelt, die Hauptsache und das Anziehende ist. So die Geschichte von dem gebackenen Kopf, die wir soeben gehört haben. Der Gang der Erzählung wäre im ganzen nicht auffallend, nicht überraschend, wäre er nicht verwickelt durch den Charakter der Handelnden. Wie köstlich zum Beispiel ist die Figur des Schneiders. Man glaubt den alten, gekrümmten Mantelflicker vor sich zu sehen. Er soll zum erstenmal in seinem Leben einen tüchtigen Schnitt machen, ihm und seinem Weibe lacht schon zum voraus das Herz, und sie traktieren sich mit recht schwarzem Kaffee. Welches Gegenstück zu dieser behaglichen Ruhe ist dann jene Szene, wo sie den Pack begierig öffnen und den gräulichen Kopf erblicken. Und nachher glaubt man ihn nicht zu sehen und zu hören, wie er auf dem Minarett umherschleicht, die Gläubigen mit meckernder Stimme zum Gebet ruft und bei Erblickung des Sklaven plötzlich, wie vom Donner gerührt, verstummt? Dann der Barbier! Sehet ihr ihn nicht vor euch, den alten Sünder, der, während er die Seife anrührt, viel schwatzt und gerne verbotenen Wein trinkt? Sehet ihr ihn nicht, wie er dem sonderbaren Kunden das Barbierschüsselchen unterhält und – den kalten Schädel berührt? Nicht minder gut, wenn auch nur angedeutet, ist der Sohn des Bäckers, der verschmitzte Junge, und der Bratenmacher Yanakil. Ist nicht das Ganze eine ununterbrochene Reihe komischer Szenen, scheint nicht der Gang der Geschichte, so ungewöhnlich er ist, sich ganz natürlich zu fügen? Und warum? Weil die einzelnen Figuren richtig gezeichnet sind und aus ihrem ganzen Wesen alles so kommen muss, wie es wirklich geschieht.“
„Wahrlich, Ihr habt recht!“ erwiderte der junge Kaufmann, „ich habe mir nie Zeit genommen, so recht darüber nachzudenken, habe alles nur so gesehen und an mir vorübergehen lassen, habe mich an dem einen ergötzt, das andere langweilig gefunden, ohne gerade zu wissen, warum. Aber Ihr gebt uns da einen Schlüssel, der uns das Geheimnis öffnet, einen Probierstein, worauf wir die Probe machen und richtig urteilen können.“
„Tuet das immer“, antwortete der Alte, „und euer Genuss wird sich vergrößern, wenn ihr nachdenken lernet über das, was ihr gehört. Doch siehe, dort erhebt sich wieder ein neuer, um zu erzählen.“
So war es, und der fünfte Sklave begann: „Der Affe als Mensch „.
Es entstand ein Gelächter im Saal, als der Sklave geendet hatte, und auch die jungen Männer lachten mit. „Es muss doch sonderbare Leute geben unter diesen Franken, und wahrhaftig, da bin ich lieber beim Scheik und Mufti in Alessandria als in Gesellschaft des Oberpfarrers, des Bürgermeisters und ihrer törichten Frauen in Grünwiesel!“
„Da hast du gewiss recht gesprochen“, erwiderte der junge Kaufmann. „In Frankistan möchte ich nicht tot sein. Die Franken sind ein rohes, wildes, barbarisches Volk, und für einen gebildeten Türken oder Perser müsste es schrecklich sein, dort zu leben.“
„Das werdet ihr bald hören“, versprach der Alte, „so viel mir der Sklavenaufseher sagte, wird der schöne junge Mann dort vieles von Frankistan erzählen; denn er war lange dort und ist doch seiner Geburt nach ein Muselmann.“
„Wie, jener, der zuletzt sitzt in der Reihe? Wahrlich, es ist eine Sünde, dass der Herr Scheik diesen losgibt! Es ist der schönste Sklave im ganzen Land; schaut nur dieses mutige Gesicht, dieses kühne Auge, diese schöne Gestalt! Er kann ihm ja leichte Geschäfte geben; er kann ihn zum Fliegenwedeler machen oder zum Pfeifenträger; es ist ein Spaß, ein solches Amt zu versehen, und wahrlich, ein solcher Sklave ist die Zierde von einem ganzen Haus. Und erst drei Tage hat er ihn und gibt ihn weg? Es ist Torheit, es ist Sünde!“
„Tadelt ihn doch nicht, ihn, der weiser ist als ganz Ägypten!“ sprach der Alte mit Nachdruck. „Sagte ich euch nicht schon, dass er ihn loslässt, weil er glaubt, den Segen Allahs dadurch zu verdienen? Ihr sagt, er ist schön und wohlgebildet, und ihr sprecht die Wahrheit. Aber der Sohn des Scheik, den der Prophet in sein Vaterhaus zurückbringen möge, der Sohn des Scheik war ein schöner Knabe und muss jetzt auch groß sein und wohlgebildet. Soll er also das Gold sparen und einen wohlfeilen, verwachsenen Sklaven hingeben in der Hoffnung, seinen Sohn dafür zu bekommen? Wer etwas tun will in der Welt, der tut es lieber gar nicht oder – recht!“
„Und sehet, des Scheik Augen sind immer auf diesen Sklaven geheftet; ich bemerkte es schon den ganzen Abend. Während der Erzählungen streifte oft sein Blick dorthin und verweilte auf den edlen Zügen des Freigelassenen. Es muss ihn doch ein wenig schmerzen, ihn freizugeben.“
„Denke nicht also von dem Mann! Meinst du, tausend Tomans schmerzen ihn, der jeden Tag das Dreifache einnimmt?“ sagte der alte Mann. „Aber wenn sein Blick mit Kummer auf dem Jüngling weilt, so denkt er wohl an seinen Sohn, der in der Fremde schmachtet; er denkt wohl, ob dort vielleicht ein barmherziger Mann wohne, der ihn loskaufe und zurückschicke zum Vater. „
„Ihr mögt recht haben“, erwiderte der junge Kaufmann, „und ich schäme mich, dass ich von den Leuten nur immer das Gemeinere und Unedle denke, während Ihr lieber eine schöne Gesinnung unterlegt. Und doch sind die Menschen in der Regel schlecht, habt Ihr dies nicht auch gefunden, Alter?“
„Gerade, weil ich dies nicht gefunden habe, denke ich gerne gut von den Menschen“, antwortete dieser, „es ging mir gerade wie euch; ich lebte so in den Tag hinein, hörte viel Schlimmes von den Menschen, musste selbst an mir viel Schlechtes erfahren und fing an, die Menschen alle für schlechte Geschöpfe zu halten. Doch da fiel mir bei, dass Allah, der so gerecht ist als weise, nicht dulden könnte, dass ein so verworfenes Geschlecht auf dieser schönen Erde hause. Ich dachte nach über das, was ich gesehen, was ich erlebt hatte, und siehe – ich hatte nur das Böse gezählt und das Gute vergessen. Ich hatte nicht achtgegeben, wenn einer eine Handlung der Barmherzigkeit übte, ich hatte es natürlich gefunden, wenn ganze Familien tugendhaft lebten und gerecht waren; so oft ich aber Böses, Schlechtes hörte, hatte ich es wohl angemerkt in meinem Gedächtnis. Da fing ich an, mit ganz anderen Augen um mich zu schauen; es freute mich, wenn ich das Gute nicht so sparsam keimen sah, wie ich anfangs dachte; ich bemerkte das Böse weniger, oder es fiel mir nicht so sehr auf, und so lernte ich die Menschen lieben, lernte Gutes von ihnen denken und habe mich in langen Jahren seltener geirrt, wenn ich von einem Gutes sprach, als wenn ich ihn für geizig oder gemein oder gottlos hielt.“
Der Alte wurde bei diesen Worten von dem Aufseher der Sklaven unterbrochen, der zu ihm trat und sprach: „Mein Herr, der Scheik von Alessandria, Ali Banu, hat Euch mit Wohlgefallen in seinem Saale bemerkt und ladet Euch ein, zu ihm zu treten und Euch neben ihn zu setzen.“
Die jungen Leute waren nicht wenig erstaunt über die Ehre, die dem Alten widerfahren sollte, den sie für einen Bettler gehalten, und als dieser hingegangen war, sich zu dem Scheik zu setzen, hielten sie den Sklavenaufseher zurück, und der Schreiber fragte ihn: „Beim Bart des Propheten beschwöre ich dich, sage uns, wer ist dieser alte Mann, mit dem wir sprachen und den der Scheik also ehrt?“
„Wie!“ rief der Aufseher der Sklaven und schlug vor Verwunderung die Hände zusammen. „Diesen Mann kennet ihr nicht?“
„Nein, wir wissen nicht, wer er ist.“
„Aber ich sah euch doch schon einige Mal mit ihm auf der Straße sprechen, und mein Herr, der Scheik, hat dies auch bemerkt und erst letzthin gesagt: ‚Das müssen wackere junge Leute sein, die dieser Mann eines Gespräches würdigt.'“
„Aber, so sage doch, wer er ist!“ rief der junge Kaufmann in höchster Ungeduld.
„Gehet, Ihr wollet mich nur zum Narren haben“, antwortete der Sklavenaufseher. „In diesen Saal kommt sonst niemand, wer nicht ausdrücklich eingeladen ist, und heute ließ der Alte dem Scheik sagen, er werde einige junge Männer in seinen Saal mitbringen, wenn es ihm nicht ungelegen sei, und Ali Banu ließ ihm sagen, er habe über sein Haus zu gebieten.“
„Lasse uns nicht länger in Ungewissheit; so wahr ich lebe, ich weiß nicht, wer dieser Mann ist. Wir lernten ihn zufällig kennen und sprachen mit ihm.“
„Nun, dann dürfet ihr euch glücklich preisen; denn ihr habt mit einem gelehrten, berühmten Mann gesprochen, und alle Anwesenden ehren und bewundern euch deshalb; es ist niemand anders als Mustapha, der gelehrte Derwisch.“
„Mustapha, der weise Mustapha, der den Sohn des Scheik erzogen hat? Der viele gelehrte Bücher schrieb, der große Reisen machte in alle Weltteile! Mit Mustapha haben wir gesprochen? Und gesprochen, als wäre er unsereiner, so ganz ohne alle Ehrerbietung?“ So sprachen die jungen Männer untereinander und waren sehr beschämt; denn der Derwisch Mustapha galt damals für den weisesten und gelehrtesten Mann im ganzen Morgenland.
„Tröst‘ euch darüber“, antwortete der Sklavenaufseher, „seid froh, dass ihr ihn nicht kanntet; er kann es nicht leiden, wenn man ihn lobt, und hättet ihr ihn ein einziges Mal die Sonne der Gelehrsamkeit oder das Gestirn der Weisheit genannt, wie es gebräuchlich ist bei Männern dieser Art, er hätte euch von Stund‘ an verlassen. Doch ich muss jetzt zurück zu den Leuten, die heute erzählen. Der, der jetzt kommt, ist tief hinten in Frankistan gebürtig, wollen sehen, was er weiß.“
So sprach der Sklavenaufseher; der aber, an welchen jetzt die Reihe zu erzählen kam, stand auf und sprach: „Herr! ich bin aus einem Lande, das weit gegen Mitternacht liegt, Norwegen genannt, wo die Sonne nicht, wie in deinem gesegneten Vaterlande, Feigen und Zitronen kocht, wo sie nur wenige Monde über die grüne Erde scheint und ihr im Flug sparsame Blüten und Früchte entlockt. Du sollst, wenn es dir angenehm ist, ein paar Märchen hören, wie man sie bei uns in den warmen Stuben erzählt, wenn das Nordlicht über die Schneefelder flimmert.“
„Das Fest der Unterirdischen “ und „Schneeweißchen und Rosenrot „.
Noch waren die jungen Männer im Gespräch über diese Märchen und über den Alten, den Derwisch Mustapha; sie fühlten sich nicht wenig geehrt, dass ein so alter und berühmter Mann sie seiner Aufmerksamkeit gewürdigt und sogar öfters mit ihnen gesprochen und gestritten hatte. Da kam plötzlich der Aufseher der Sklaven zu ihnen und lud sie ein, ihm zum Scheik zu folgen, der sie sprechen wolle.
Den Jünglingen pochte das Herz. Noch nie hatten sie mit einem so vornehmen Mann gesprochen, nicht einmal allein, viel weniger in so großer Gesellschaft. Doch sie fassten sich, um nicht als Toren zu erscheinen, und folgten dem Aufseher der Sklaven zum Scheik. Ali Banu saß auf einem reichen Polster und nahm Sorbet zu sich. Zu seiner Rechten saß der Alte, sein dürftiges Kleid ruhte auf herrlichen Polstern, seine ärmlichen Sandalen hatte er auf einen reichen Teppich von persischer Arbeit gestellt; aber sein schöner Kopf, sein Auge voll Würde und Weisheit zeigten an, dass er würdig sei, neben einem Mann wie dem Scheik zu sitzen.
Der Scheik war sehr ernst, und der Alte schien ihm Trost und Mut zuzusprechen. Die Jünglinge glaubten auch in ihrem Ruf vor das Angesicht des Scheik eine List des Alten zu entdecken, der wahrscheinlich den trauernden Vater durch ein Gespräch mit ihnen zerstreuen wollte.
„Willkommen, ihr jungen Männer“ , sprach der Scheik, „willkommen in dem Hause Ali Banus! Mein alter Freund hier hat sich meinen Dank verdient, dass er euch hier einführte; doch zürnte ich ihm ein wenig, dass er mich nicht früher mit euch bekannt machte. Wer von euch ist denn der junge Schreiber?“
„Ich, o Herr und zu Euren Diensten!“ sprach der junge Schreiber, indem er die Arme über der Brust kreuzte und sich tief verbeugte.
„Ihr hört also gerne Geschichten und leset gerne Bücher mit schönen Versen und Denksprüchen?“
Der junge Mensch erschrak und errötete; denn ihm fiel bei, wie er damals den Scheik bei dem Alten getadelt und gesagt hatte, an seine Stelle würde er sich erzählen oder aus Büchern vorlesen lassen. Er war dem schwatzhaften Alten, der dem Scheik gewiss alles verraten hatte, in diesem Augenblicke recht gram, warf ihm einen bösen Blick zu und sprach dann: „O Herr! Allerdings kenne ich für meinen Teil keine angenehmere Beschäftigung, als mit dergleichen den Tag zuzubringen. Es bildet den Geist und vertreibt die Zeit. Aber jeder nach seiner Weise! Ich tadle darum gewiss keinen, der nicht -„
„Schon gut, schon gut“, unterbrach ihn der Scheik lachend und winkte den zweiten herbei.
„Wer bist denn du?“ fragte er ihn.
„Herr, ich bin meines Amtes der Gehilfe eines Arztes und habe selbst schon einige Kranke geheilt.“
„Richtig“, erwiderte der Scheik, „und Ihr seid es auch, der das Wohlleben liebet; Ihr möchtet gerne mit guten Freunden hier und da tafeln und guter Dinge sein? Nicht wahr, ich habe es erraten?“
Der junge Mann war beschämt; er fühlte, dass er verraten war und dass der Alte auch von ihm gebeichtet haben musste. Er fasste sich aber ein Herz und antwortete: „O ja, Herr, ich rechne es unter des Lebens Glückseligkeiten, hier und da mit guten Freunden fröhlich sein zu können. Mein Beutel reicht nun zwar nicht weiter hin, als meine Freunde mit Wassermelonen oder dergleichen wohlfeilen Sachen zu bewirten; doch sind wir auch dabei fröhlich, und es lässt sich denken, dass wir es noch um ein gutes Teil mehr wären, wenn ich mehr Geld hätte.“
Dem Scheik gefiel diese beherzte Antwort, und er konnte sich nicht enthalten, darüber zu lachen. „Welcher ist denn der junge Kaufmann?“ fragte er weiter.
Der junge Kaufmann verbeugte sich mit freiem Anstand vor dem Scheik; denn er war ein Mensch von guter Erziehung; der Scheik aber sprach: „Und Ihr? Ihr habt Freude an Musik und Tanz? Ihr höret es gerne, wenn gute Künstler etwas spielen und singen und sehet gerne Tänzer künstliche Tänze ausführen?“ Der junge Kaufmann antwortete: „Ich sehe wohl, o Herr, dass jener alte Mann, um Euch zu belustigen, unsere Torheiten insgesamt verraten hat. Wenn es ihm gelang, Euch dadurch aufzuheitern, so habe ich gerne zu Eurem Scherz gedient. Was aber Musik und Tanz betrifft, so gestehe ich, es gibt nicht leicht etwas, was mein Herz also vergnügt. Doch glaubet nicht, dass ich deswegen Euch tadle, o Herr, wenn Ihr nicht ebenfalls -„
„Genug, nicht weiter!“ rief der Scheik, lächelnd mit der Hand abwehrend. „Jeder nach seiner Weise, wollet Ihr sagen; aber dort steht ja noch einer; das ist wohl der, welcher so gerne reisen möchte? Wer seid denn Ihr, junger Herr?“
„Ich bin ein Maler, o Herr“, antwortete der junge Mann, „ich male Landschaften teils an die Wände der Säle, teils auf Leinwand. Fremde Länder zu sehen, ist allerdings mein Wunsch; denn man sieht dort allerlei schöne Gegenden, die man wieder anbringen kann; und was man sieht und abzeichnet, ist doch in der Regel immer schöner, als was man nur so selbst erfindet.“
Der Scheik betrachtete jetzt die schönen jungen Leute, und sein Blick wurde ernst und düster. „Ich hatte einst auch einen lieben Sohn“, sagte er, „und er müsste nun auch so herangewachsen sein wie ihr. Da solltet ihr seine Genossen und Begleiter sein, und jeder eurer Wünsche würde von selbst befriedigt werden. Mit jenem würde er lesen, mit diesem Musik hören, mit dem anderen würde er gute Freunde einladen und fröhlich und guter Dinge sein, und mit dem Maler ließe ich ihn ausziehen in schöne Gegenden und wäre dann gewiss, dass er immer wieder zu mir zurückkehrte. So hat es aber Allah nicht gewollt, und ich füge mich in seinen Willen ohne Murren. Doch es steht in meiner Macht, eure Wünsche dennoch zu erfüllen, und ihr sollt freudigen Herzens von Ali Banu gehen. Ihr, mein gelehrter Freund“, fuhr er fort, indem er sich zu dem Schreiber wandte, „wohnt von jetzt an in meinem Hause und seid über meine Bücher gesetzt. Ihr könnet noch dazu anschaffen, was Ihr wollet und für gut haltet, und Euer einziges Geschäft sei, mir, wenn Ihr etwas recht Schönes gelesen habt, zu erzählen. Ihr, der Ihr eine gute Tafel unter Freunden liebet, Ihr sollet der Aufseher über meine Vergnügungen sein. Ich selbst zwar lebe einsam und ohne Freude, aber es ist meine Pflicht, und mein Amt bringt es mit sich, hier und da viele Gäste einzuladen. Dort sollet Ihr an meiner Stelle alles besorgen und könnet von Euren Freunden dazu einladen, wen Ihr nur wollet; versteht sich, auf etwas Besseres als Wassermelonen. Den jungen Kaufmann da darf ich freilich seinem Geschäft nicht entziehen, das ihm Geld und Ehre bringt; aber alle Abende stehen Euch, mein junger Freund, Tänzer, Sänger und Musikanten zu Dienste, so viel Ihr wollet. Lasset Euch aufspielen und tanzen nach Herzenslust. Und Ihr“, sprach er zu dem Maler, „Ihr sollet fremde Länder sehen und das Auge durch Erfahrung schärfen. Mein Schatzmeister wird Euch zu der ersten Reise, die Ihr morgen antreten könnet, tausend Goldstücke reichen nebst zwei Pferden und einem Sklaven. Reiset, wohin Euch das Herz treibt, und wenn Ihr etwas Schönes sehet, so malet es für mich!“
Die jungen Leute waren außer sich vor Erstaunen, sprachlos vor Freude und Dank. Sie wollten den Boden vor den Füßen des gültigen Mannes küssen; aber er ließ es nicht zu. „Wenn ihr einem zu danken habt“, sprach er, „so ist es diesem weisen Mann hier, der mir von euch erzählte. Auch mir hat er dadurch Vergnügen gemacht, vier so muntere junge Leute eurer Art kennen zu lernen.“
Der Derwisch Mustapha aber wehrte den Dank der Jünglinge ab. „Sehet“, sprach er, „wie man nie voreilig urteilen muss; habe ich euch zuviel von diesem edlen Manne gesagt?“
„Lasset uns nun noch den letzten meiner Sklaven, die heute frei sind, erzählen hören“, unterbrach ihn Ali Banu.
Jener junge Sklave, der die Aufmerksamkeit aller durch seinen Wuchs, durch seine Schönheit und seinen mutigen Blick auf sich gezogen hatte, stand jetzt auf, verbeugte sich vor dem Scheik und fing wohltönend also zu sprechen an: „Die Geschichte Almansors „.
Der Scheik Ali Banu war in tiefes Nachdenken versunken über diese Erzählung; sie hatte ihn unwillkürlich mit sich fortgerissen, seine Brust hob sich, sein Auge glühte, und er war oft nahe daran, seinen jungen Sklaven zu unterbrechen; aber das Ende der Erzählung schien ihn nicht zu befriedigen.
„Er könnte jetzt einundzwanzig Jahre haben, sagst du?“ so fing er an zu fragen.
„Herr, er ist in meinem Alter, ein- bis zweiundzwanzig Jahre.“
„Und welche Stadt nannte er seine Geburtsstadt? Das hast du uns noch nicht gesagt.“
„Wenn ich nicht irre“, antwortete jener, „so war es Alessandria!“
„Alessandria!“ rief der Scheik. „Es ist mein Sohn; wo ist er geblieben? Sagtest du nicht, dass er Kairam hieß? Hat er dunkle Augen und braunes Haar?“
„Er hat es, und in traulichen Stunden nannte er sich Kairam und nicht Almansor.“
„Aber, Allah! Allah! Sage mir doch, sein Vater hätte ihn vor deinen Augen gekauft, sagst du? Sagte er, es sei sein Vater? Also ist er doch nicht mein Sohn!“
Der Sklave antwortete: „Er sprach zu mir: „Allah sei gepriesen nach so langem Unglück: Das ist der Marktplatz meiner Vaterstadt.“ Nach einer Weile aber kam ein vornehmer Mann um die Ecke; da rief er: „Oh, was für ein teures Geschenk des Himmels sind die Augen! Ich sehe noch einmal meinen ehrwürdigen Vater!“ Der Mann aber trat zu uns, betrachtet diesen und jenen und kauft endlich den, dem dies alles begegnet ist. Da rief er Allah an, sprach ein heißes Dankgebet und flüsterte mir zu: „Jetzt gehe ich wieder ein in die Hallen meines Glückes, es ist mein eigener Vater, der mich gekauft hat.““
„Es ist also doch nicht mein Sohn, mein Kairam!“ sagte der Scheik, von Schmerz bewegt.
Da konnte sich der Jüngling nicht mehr zurückhalten; Tränen der Freude entstürzten seinen Augen, er warf sich nieder vor dem Scheik und rief: „Und dennoch ist es Euer Sohn, Kairam: Almansor; denn Ihr seid es, der ihn gekauft hat.“ „Allah, Allah! Ein Wunder, ein großes Wunder!“ riefen die Anwesenden und drängten sich herbei; der Scheik aber stand sprachlos und staunte den Jüngling an, der sein schönes Antlitz zu ihm aufhob. „Mein Freund Mustapha!“ sprach er zu dem alten Derwisch, „vor meinen Augen hängt ein Schleier von Tränen, dass ich nicht sehen kann, ob die Züge seiner Mutter, die mein Kairam trug, auf seinem Gesicht eingegraben sind. Trete du her und schaue ihn an!“
Der Alte trat herzu, sah ihn lange an, legte seine Hand auf die Stirne des jungen Mannes und sprach: „Kairam! Wie hieß der Spruch, den ich dir am Tage des Unglücks mitgab ins Lager der Franken?“
„Mein teurer Lehrer!“ antwortete der Jüngling, indem er die Hand des Alten an seine Lippen zog, „er hieß: So einer Allah liebt und ein gutes Gewissen hat, ist er auch in der Wüste des Elends nicht allein; denn er hat zwei Gefährten, die ihm tröstend zur Seite gehen.“
Da hob der Alte seine Augen dankend auf zum Himmel, zog den Jüngling herauf an seine Brust und gab ihn dem Scheik und sprach: „Nimm ihn hin! So gewiss du zehn Jahre um ihn trauertest, so gewiss ist es dein Sohn Kairam.“
Der Scheik war außer sich vor Freude und Entzücken; er betrachtete immer von neuem wieder die Züge des Wiedergefundenen, und unleugbar fand er das Bild seines Sohnes wieder, wie er ihn verloren hatte. Und alle Anwesenden teilten seine Freude; denn sie liebten den Scheik, und jedem unter ihnen war es, als wäre ihm heute ein Sohn geschenkt worden.
Jetzt füllte wieder Gesang und Jubel diese Halle wie in den Tagen des Glückes und der Freude. Noch einmal musste der Jüngling, und noch ausführlicher, seine Geschichte erzählen, und alle priesen den arabischen Professor und den Kaiser und jeden, der sich Kairams angenommen hatte. Man war beisammen bis in die Nacht, und als man aufbrach, beschenkte der Scheik jeden seiner Freunde reichlich, auf dass er immer dieses Freudentages gedenke.
Die vier jungen Männer aber stellte er seinem Sohne vor und lud sie ein, ihn immer zu besuchen, und es war ausgemachte Sache, dass er mit dem Schreiber lesen, mit dem Maler kleine Reisen machen sollte, dass der Kaufmann Gesang und Tanz mit ihm teile und der andere alle Vergnügungen für sie bereiten solle. Auch sie wurden reich beschenkt und traten freudig aus dem Hause des Scheik.
„Wem haben wir dies alles zu verdanken“, sprachen sie untereinander, „wem anders als dem Alten? Wer hätte dies damals gedacht, als wir vor diesem Hause standen und über den Scheik loszogen?“
„Und wie leicht hätte es uns einfallen können, die Lehren des alten Mannes zu überhören“, sagte ein anderer, „oder ihn gar zu verspotten? Denn er sah doch recht zerrissen und ärmlich aus, und wer könne denken, dass dies der weise Mustapha sei?“ „Und wunderbar! War es nicht hier, wo wir unsere Wünsche laut werden ließen?“ sprach der Schreiber. „Da wollte der eine reisen, der andere singen und tanzen, der dritte gute Gesellschaft haben und ich – Geschichten lesen und hören, und sind nicht alle unsere Wünsche in Erfüllung gegangen? Darf ich nicht alle Bücher des Scheik lesen und kaufen, was ich will?“ „Und darf ich nicht seine Tafel zurichten und seine schönsten Vergnügen anordnen und selbst dabei sein?“ sagte der andere.
„Und ich, so oft mich mein Herz gelüstet, Gesang und Saitenspiel zu hören oder einen Tanz zu sehen, darf ich nicht hingehen und mir seine Sklaven ausbitten?“
„Und ich“, rief der Maler, „vor diesem Tage war ich arm und konnte keinen Fuß aus dieser Stadt setzen, und jetzt kann ich reisen, wohin ich will.“
„Ja“, sprachen sie alle, „es war doch gut, dass wir dem Alten folgten, wer weiß, was aus uns geworden wäre!“
So sprachen sie und gingen freudig und glücklich nach Hause.

Quelle: Wilhelm Hauff

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