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Der Schneider und der Schatz

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Ein Schneider, der gern in Samt und Seide prangte, den Jungfrauen schön tat und am liebsten war, wo es recht toll und lustig herging, war einmal zu einem Taufschmaus über Feld gegangen. Als er nun um Mitternacht sich auf den Heimweg machte, da merkte er, daß er diesmal zu tief ins Glas geguckt hatte, und geriet alsbald weit von der Straße ab.
Nicht lange, so sah er rechts und links nur Baum an Baum, hinter sich nichts als Dornen und Moorland, und vor sich eine senkrechte Felswand mit einer Spalte, gerade weit genug, um einen Menschen durchzulassen. »Halt!« dachte der Schneider, »hier kommst du ohne ein Abenteuer nicht weg. Also frisch drauf los!« Und weil ihm der Taufwein einen überschüssigen Mut gegeben hatte, so trat er beherzt in die Höhle, tappte darin herum und suchte eine Stelle, wo er sein Haupt hinlegen und die Nacht verbringen konnte. Aber kaum war er ordentlich drinnen, so huschte ein Hund unter seinen Füßen auf, und der Schneider fiel, so lang er war, gegen eine eiserne Türe, die plötzlich aufsprang. Hui, war das aber eine Pracht! Was der Schneider jetzt vor sich sah, hatte ihn auf einmal nüchtern gemacht; er stand und guckte mit offenem Maul in ein hellerleuchtetes Gemach; keine Kerze, keine Lampe, nein, das lautere Gold und Silber der Wände und unzählige eingelegte Edelsteine wandelten die Finsternis in sonnenhellen Tag um. An den Wänden standen kostbare Schreine mit Prunkgeschirr und mitten im Saal stand eine offene Kiste voll funkelnder Goldmünzen. »Warum nicht gar?« sagte der Schneider anfangs, als er den Kram erblickte; aber es ging nicht lange, so trat aus einer Seitentüre eine wunderliebliche Jungfrau in den Saal; die hieß ihn mit freundlicher Stimme willkommen. Da gewann der Schneider erst alle seine Besinnung wieder und ging ohne Umstände auf die Jungfrau zu, um ihren Gruß mit einem Kuß zu erwidern.
Aber die Jungfrau blickte ihn so streng an, daß er wie angenagelt stehen blieb, und sagte: »Ich habe dich freilich schon lange erwartet; denn für dich hab‘ ich alle Schätze, die du hier siehst, aufgespeichert. Aber du bekommst sie nur unter der Bedingung, daß du mich dreimal küssest ohne zu wanken.«
»Ei wer wollte das nicht!« rief der Schneider und spitzte den Mund; im gleichen Augenblick war aber die Jungfrau in ein abscheuliches Krokodil umgewandelt, und wäre der Schneider nicht schon im Anlauf gewesen, so hätt‘ er den Kuß wohl bleiben lassen. So aber verrichtete er denselben fast wider Willen und schüttelte sich hernach am ganzen Leib. Im Nu stand wieder die Jungfrau da und sah ihn mit so freundlichen Blicken an, daß er zum zweiten Mal zum Küssen ausholte.
Da verwandelte sich die Jungfrau vor seinen Lippen in eine garstige dicke Kröte; es schüttelte den Schneider wieder, aber er drückte gleichwohl beherzt den Kuß auf das Krötenmaul. Und jetzt stand wieder die Jungfrau da und lächelte ihm noch viel lieblicher zu als das erste Mal, so daß er noch mutiger zum dritten Kuß sich anschickte.
Aber o weh! Diesmal zitterte und bebte der Schneider bis ins Mark hinein, denn vor ihm stand langbehaart und meckernd ein kohlschwarzer Ziegenbock und glotzte ihm entgegen; Angst und Graus kam über ihn und er entfloh mit großen Sprüngen aus dem Saal und aus der Höhle; eine Windsbraut fuhr hinter ihm drein und es toste und krachte dabei, daß ihm Hören und Sehen verging und er todmüde vor dem Felsen niederfiel. Als er sich wieder aufraffte, konnte er die Öffnung in der Felswand nirgends mehr finden; er schlich also traurig davon und konnte hernach sein Lebtag nimmer von Ziegenböcken reden hören, ohne in Zorn zu geraten.

[Schweiz: Otto Sutermeister: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz]

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