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Märchenbasar

Der Tontlawald

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Zu alten Zeiten stand in Allentacken1 ein schöner Hain, der Tontlawald hieß, den aber kein Mensch zu betreten wagte. Dreistere, die zufällig einmal näher gekommen waren und gespäht hatten, erzählten, sie hätten unter dichten Bäumen ein verfallenes Haus gesehen und um dasselbe herum menschenähnliche Wesen, von denen der Rasen wie von einem Ameisenhaufen wimmelte. Die Geschöpfe hätten rußig und zerlumpt ausgesehen wie die Zigeuner, und es wären namentlich viel alte Weiber und halbnackte Kinder darunter gewesen. Als einst ein Bauer, der in finsterer Nacht von einem Schmause nach Hause ging, etwas tiefer in den Tontlawald hineingerathen war, hatte er seltsame Dinge gesehen. Um ein helles Feuer war eine Unzahl Weiber und Kinder versammelt, einige saßen am Boden, die andern tanzten auf dem Plan. Ein altes Weib hatte einen breiten eisernen Schöpflöffel in der Hand, mit welchem sie von Zeit zu Zeit die glühende Asche über den Rasen hinstreute, worauf die Kinder mit Geschrei in die Luft hinauf fuhren und wie Nachteulen um den aufsteigenden Rauch flatterten, bis sie zuletzt wieder herabkamen. Dann trat aus dem Walde ein kleiner alter langbärtiger Mann, der auf dem Rücken einen Sack trug, der länger war als er selbst! Weiber und Kinder liefen dem Männlein lärmend entgegen, tanzten um ihn herum und suchten ihm den Sack vom Rücken zu reißen, aber der Alte machte sich von ihnen los. Jetzt sprang eine schwarze Katze, so groß wie ein Fohlen, die mit glühenden Augen auf der Thürschwelle gesessen, auf des Alten Sack und verschwand dann in der Hütte. Weil aber dem Zuschauer schon der Kopf brannte und es ihm vor den Augen flimmerte, so blieb auch seine Erzählung unsicher, und man konnte nicht recht dahinter kommen, was daran wahr und was falsch sei. Auffallend war es, daß von Geschlecht zu Geschlecht solche Dinge vom Tontlawalde erzählt wurden; aber Niemand wußte genauere Auskunft zu geben. Der Schwedenkönig hatte mehr als einmal befohlen, den gefürchteten Wald zu fällen, aber die Leute wagten es nicht den Befehl zu vollziehen. Einmal hieb ein dreister Mann mit einer Axt in einige Bäume, da floß sogleich Blut und man hörte Jammergeschrei wie von gequälten Menschen. Der erschreckte Holzfäller nahm zitternd und bebend die Flucht; seitdem war kein noch so strenger Befehl, kein noch so reichlicher Lohn im Stande, wieder einen Holzfäller in den Tontlawald zu locken. – Sehr wunderbar erschien es auch, daß weder ein Weg aus dem Walde heraus noch einer hinein führte; auch sah man das ganze Jahr durch keinen Rauch aufsteigen, der das Dasein menschlicher Wohnstätten verrathen hätte. Groß war der Wald nicht, und rings um ihn her war flaches Feld, so daß man freien Ausblick auf den Wald hatte. Hausten wirklich hier von Alters her lebende Wesen, so konnten sie doch nicht anders in dem Walde ein- und ausgehen als auf unterirdischen Schlupfwegen, oder sie mußten auch wie die Hexen bei nächtlicher Weile, wo Alles ringsum schlief, durch die Luft fahren. Das Letztere ist, dem Erzählten zufolge, das Wahrscheinlichere. Vielleicht erhalten wir über diese Wundervögel mehr Auskunft, wenn wir den Wagen der Erzählung etwas weiter lenken und im nächsten Dorfe ausruhen.
Einige Werst vom Tontlawalde lag ein großes Dorf. Ein verwittweter Bauer hatte unlängst wieder ein junges Weib genommen und, wie das wohl oft vorkommt, ein rechtes Schüreisen in’s Haus gebracht, so daß Verdruß und Zank kein Ende nahmen. Das von der ersten Frau nachgebliebene siebenjährige Mädchen, mit Namen Else, war ein kluges sinniges Geschöpf. Dieser Armen machte aber die böse Stiefmutter das Leben ärger als die Hölle, sie puffte und knuffte das Kind vom Morgen bis zum Abend und gab ihm schlechteres Essen als den Hunden. Da die Frau die Hosen anhatte, so konnte die Tochter sich auf ihren Vater nicht stützen: der Hansdampf mußte ja selbst nach des Weibes Pfeife tanzen. Länger als zwei Jahre hatte Else dieses schwere Leben ertragen und hatte viele Thränen vergossen. Da ging sie eines Sonntags mit andern Dorfkindern aus, um Beeren zu pflücken. Schlendernd, nach Kinderart, waren sie unvermerkt an den Rand des Tontlawaldes gekommen, wo sehr schöne Erdbeeren wuchsen, so daß der Rasen ganz roth davon war. Die Kinder aßen von den süßen Beeren und pflückten noch soviel in ihre Körbchen, als jedes konnte. Plötzlich rief ein älterer Knabe, der die gefürchtete Stelle erkannt hatte: »Fliehet, fliehet! wir sind im Tontlawalde!« Dies Wort war schlimmer als Donner und Blitz, alle Kinder nahmen Reißaus, als wären ihnen die Tontla-Unholde schon auf den Fersen. Else, welche etwas weiter gegangen war als die Andern, und unter den Bäumen sehr schöne Beeren gefunden hatte, hörte wohl das Rufen des Knaben, mochte sich aber nicht von dem Beerenfleck trennen. Sie dachte wohl: Die Tontla-Bewohner können doch nicht schlimmer sein als meine Stiefmutter daheim. Da kam ein kleiner schwarzer Hund mit einem silbernen Glöcklein um den Hals bellend auf sie zu. Auf dies Gebell eilte ein kleines Mädchen in prächtigen seidenen Kleidern herbei, verwies den Hund zur Ruhe und sagte dann zur Else: »Sehr gut, daß du nicht mit den andern Kindern davongelaufen bist. Bleibe mir zur Gesellschaft hier, dann wollen wir gar schöne Spiele spielen und alle Tage miteinander gehen Beeren zu pflücken; die Mutter wird es mir gewiß nicht abschlagen, wenn ich sie darum bitte. Komm, laß uns sogleich zu ihr gehen!« Damit faßte das prächtige fremde Kind Else bei der Hand und führte sie tiefer in den Wald hinein. Der kleine schwarze Hund bellte jetzt vor Vergnügen, sprang an Elsen herauf und leckte ihr die Hand, als wären sie alte Bekannte.
Ach du liebe Zeit, was für Wunder und Herrlichkeit tauchten jetzt vor Else’s Augen auf! Sie glaubte sich im Himmel zu befinden. Ein prächtiger Garten, mit Obstbäumen und Beerensträuchern angefüllt, stand vor ihnen; auf den Zweigen der Bäume saßen Vögel, bunter als die schönsten Schmetterlinge, manche mit Gold- und Silberfedern bedeckt. Und die Vögel waren nicht scheu, die Kinder konnten sie nach Belieben in die Hand nehmen. Mitten im Garten stand das Wohnhaus, aus Glas und Edelsteinen aufgeführt, so daß Wände und Dach glänzten wie die Sonne. Eine Frau in prächtigen Kleidern saß vor der Thür auf einer Bank und fragte die Tochter: »Was bringst du da für einen Gast?« Die Tochter antwortete: »Ich fand sie allein im Walde und nahm sie mir zur Gesellschaft mit. Erlaubst du, daß sie hier bleibt?« Die Mutter lächelte, sagte aber kein Wort, sondern musterte Else mit scharfem Blick vom Kopf bis zu den Füßen. Dann hieß sie Else näher treten, streichelte ihre Wangen und fragte freundlich, wo sie zu Hause sei, ob ihre Eltern noch lebten, und ob sie den Wunsch habe, hier zu bleiben? Else küßte der Frau die Hand, fiel vor ihr nieder, umfaßte ihre Kniee und erwiederte dann unter Thränen: »Die Mutter ruht schon lange unter dem Rasen.

Mutter ward hinweg getragen
Liebe zog mit ihr von dannen!

Der Vater lebt wohl noch, aber was hilft mir das, die Stiefmutter haßt mich und schlägt mich unbarmherzig alle Tage. Nichts kann ich ihr recht machen. Bitte, Goldfrauchen, laßt mich hier bleiben! Laßt mich die Herde hüten, oder gebt mir andere Arbeit, ich will Alles thun und euch gehorchen, aber schickt mich nur nicht zur Stiefmutter zurück! Sie schlüge mich halb todt, weil ich nicht mit den anderen Dorfkindern gekommen bin.« Die Frau lächelte und sagte: »Wir wollen sehen, was mit dir zu machen ist.« Dann erhob sie sich von der Bank und trat in’s Haus. Die Tochter aber sagte zur Else: »Sei getrost, meine Mutter ist freundlich! Ich sah an ihrem Blicke, daß sie unsere Bitte gewähren wird, wenn sie die Sache näher überlegt hat.« Sie ging dann ihrer Mutter nach und hieß Else warten. Diese bebte zwischen Furcht und Hoffnung, und ungeduldig harrte sie des Bescheides, den die Tochter bringen würde.
Nach einer Weile kam die Tochter mit einem Schächtelchen in der Hand zurück und sagte: »Die Mutter will, daß wir heute mit einander spielen, derweil sie deinetwegen Weiteres beschließen wird. Ich hoffe, du bleibst uns, ich möchte dich nicht mehr von mir lassen. Bist du schon zur See gefahren?« Else machte große Augen und fragte dann: »Zur See? was ist das? davon habe ich noch nie etwas gehört.« »Du sollst es sogleich sehen,« erwiederte das Fräulein und nahm den Deckel vom Schächtelchen. Da lagen ein Blatt von Frauenmantel, eine Muschelschale und zwei Fischgräten; auf dem Blatte schimmerten ein Paar Tropfen, diese schüttete das Kind auf den Rasen. Augenblicklich waren Garten, Rasen und was sonst noch da gestanden hatte, verschwunden, als hätte die Erde es verschlungen: und soweit das Auge reichte, war nur Wasser sichtbar, das in der Ferne mit dem Himmel zusammenzustoßen schien. Nur unter ihren Füßen war ein kleiner Fleck trocken geblieben. Jetzt setzte das Fräulein die Muschelschale auf’s Wasser und nahm die Fischgräten zur Hand. Die Muschelschale schwoll an, und dehnte sich zu einem hübschen Nachen aus, worin ein Dutzend Kinder und wohl noch mehr Platz gehabt hätten. Die Kinder setzten sich nun selbander in den Nachen, Else mit Zagen, das Fräulein aber lachte; die Gräten, welche sie hielt, wurden zu Rudern. Von den Wellen wurden die Mädchen fortgeschaukelt, wie in einer Wiege; nach und nach kamen andere Kähne in ihre Nähe, in jedem saßen Menschen, welche sangen und fröhlich waren. »Wir müssen ihren Gesang beantworten,« sagte das Fräulein, aber Else verstand nicht zu singen. Um so schöner sang das Fräulein. Von dem, was die andern sangen, konnte Else nicht viel verstehen, nur ein Wort kehrte immer wieder, nämlich »Kiisike!« Else fragte, was es bedeute, und das Fräulein antwortete: »Das ist mein Name.« Ich weiß nicht, wie lange sie so spatzieren gefahren waren, da hörten sie rufen: »Kinder, kommt nach Hause, es wird Abend.« Kiisike nahm ihr Körbchen aus der Tasche, in welchem das Blatt lag, und tauchte es in’s Wasser, so daß einige Tropfen daran hängen blieben, – augenblicklich waren sie in der Nähe des prächtigen Hauses, mitten im Garten; Alles ringsum erschien trocken und fest wie zuvor, Wasser war nirgends. Die Muschelschale und die Fischgräten wurden sammt dem Blatte in’s Körbchen gelegt, und die Kinder gingen in’s Haus.
In einem großen Gemache saßen um einen Eßtisch vier und zwanzig Frauen, alle in prächtigen Kleidern, als wären sie auf einer Hochzeit. Oben am Tische saß die Herrin auf einem goldenen Stuhle.
Else wußte nicht, woher die Augen nehmen, um all die Herrlichkeit zu betrachten, die ihr hier entgegenschimmerte. Auf dem Tische standen dreizehn Gerichte, alle in goldenen und silbernen Schüsseln; ein Gericht aber blieb unberührt und wurde abgetragen, wie es aufgetragen war, ohne daß man den Deckel gelüftet hätte. Else aß von den köstlichen Speisen, die noch besser schmeckten als Kuchen, und es kam ihr wieder vor, als müßte sie im Himmel sein; auf Erden konnte sie sich dergleichen nicht denken. Bei Tische wurde leise gesprochen, aber in einer fremden Sprache, von der Else kein Wort verstand. Die Frau sagte jetzt einige Worte zu einer Magd, die hinter ihrem Stuhle stand; die Magd eilte hinaus und kam bald mit einem kleinen alten Manne wieder, dessen Bart länger war als er selber. Der Alte machte einen Bückling und blieb am Thürpfosten stehen. Die Frau deutete mit dem Finger auf Else und sagte: »Betrachte dir dieses Bauermädchen, ich will es als Pflegekind annehmen. Forme mir ein Abbild von ihr, welches wir morgen statt ihrer in’s Dorf schicken können.« Der Alte sah Else scharf an, als wolle er das Maaß nehmen, verbeugte sich dann wieder vor der Frau und verließ das Gemach. Nach Tische sagte die Frau freundlich zu Else: »Kiisike hat mich gebeten, ich möchte dich ihr zur Gesellschaft hier behalten und du selbst sagtest, du hättest Lust hier zu bleiben. Ist dem nun wirklich so?« Else fiel auf die Kniee, und küßte der Frau Hände und Füße zum Dank für die barmherzige Rettung aus den Klauen der bösen Stiefmutter. Die Frau aber hob sie vom Boden auf, streichelte ihr den Kopf und die thränenfeuchten Wangen und sagte: »Wenn du immer ein folgsames gutes Kind bleibst, so wird es dir gut gehen, ich will für dich sorgen und dir allen nöthigen Unterricht geben lassen, bis du erwachsen bist und dich selbst fortbringen kannst. Meine Fräulein, welche Kiisike unterrichten, werden auch dir behülflich sein, alle feinen Handarbeiten zu erlernen und dir andere Kenntnisse zu erwerben.«
Nach einem Weilchen kam der Alte zurück mit einer langen mit Lehm gefüllten Mulde auf der Schulter, und einem kleinen Deckelkörbchen in der linken Hand. Er setzte Mulde und Körbchen an die Erde, nahm ein Stück Lehm und machte daraus eine Puppe, welche Menschengestalt hatte. In den Leib, der hohl geblieben war, legte der Alte drei gesalzene Strömlinge und ein Stückchen Brot. Dann machte er in der Brust der Puppe ein Loch, nahm aus dem Korbe einen ellenlangen schwarzen Wurm und ließ ihn durch das Loch hineinkriechen. Die Schlange zischte und wand sich mit dem Schwanze, als sträubte sie sich, aber sie mußte doch hinein. Nachdem die Frau die Puppe von allen Seiten betrachtet hatte, sagte der Alte: »Jetzt brauchen wir nichts weiter als ein Tröpflein von dem Blute des Bauermädchens.« Else wurde blaß vor Schrecken, als sie das hörte; sie meinte ihre Seele damit dem Bösen zu verkaufen. Aber die Frau tröstete sie: »Fürchte nichts! Wir wollen dein Blut nicht zu etwas Bösem sondern lediglich zu etwas Gutem und zu deinem künftigen Glücke.« Dann nahm sie eine kleine goldene Nadel, stach damit der Else in den Arm und gab die Nadel dem Alten, der sie in das Herz der Puppe bohrte. Darauf legte er diese in den Korb, damit sie darin wachse und versprach, am nächsten Morgen der Frau zu zeigen, was für ein Werk aus seinen Händen hervorgegangen sei. Man ging hernach zur Ruhe, und auch Else wurde von einer Stubenmagd in ihre Schlafkammer gebracht, wo ihr ein weiches Bett bereitet wurde.
Als sie am andern Morgen in dem seidenen Bette auf weichem Pfühl erwachte und ihre Augen weit auf machte, fand sie sich mit einem feinen Hemde bekleidet und sah reiche Gewänder auf einem Stuhle vor dem Bette liegen. Dann trat ein Mädchen in’s Zimmer und hieß Else sich waschen und kämmen, worauf es sie vom Kopf bis zum Fuß mit den schönen Kleidern schmückte, als wäre sie das stolzeste deutsche Kind. Nichts machte Elsen so viel Freude als die Schuhe! Sie war ja bis jetzt fast immer barfuß gegangen. Nach Else’s Meinung konnten auch des Königs Töchter keine schöneren Schuhe haben! In ihrer Freude über die Schuhe hatte sie nicht Zeit die übrigen Stücke des Anzugs zu beachten, obschon Alles prachtvoll war. Die Bauernkleider, welche sie mitgebracht hatte, waren in der Nacht fortgenommen worden, weshalb? das sollte sie später erfahren. Ihre Kleider waren nämlich der Lehmpuppe angelegt worden, welche an ihrer Statt in’s Dorf gehen sollte. Die Puppe war in der Nacht in ihrem Behälter angeschwollen und am Morgen ein vollständiges Ebenbild der Else geworden, und ging einher wie ein von Gott geschaffenes Wesen. Else erschrack, als sie die Puppe erblickte, die ganz so aussah, wie sie selbst gestern ausgesehen hatte. Als die Frau Else’s Erschrecken bemerkte, sagte sie: »Fürchte dich nicht, Kind! Das Lehmbild kann dir keinen Schaden zufügen, wir jagen es zu deiner Stiefmutter, damit es ihr als Prügelklotz diene! Mag sie es schlagen, so viel sie will, das steinharte Lehmbild fühlt keinen Schmerz. Aber wenn das böse Weib nicht andern Sinnes wird, so kann dein Ebenbild einmal die verdiente Strafe an ihr vollziehen.«
Von diesem Tage an lebte Else so glücklich wie ein verwöhntes deutsches Kind, das in goldener Wiege geschaukelt worden; sie hatte weder Sorge noch Mühe; das Lernen wurde ihr von Tag zu Tage leichter und das vorige harte Leben im Dorfe erschien ihr nur noch wie ein böser Traum. Aber je tiefer sie das Glück dieses Lebens empfand, desto wunderbarer erschien ihr auch Alles. Auf natürliche Weise konnte es nicht zugehen – es mußte eine unbekannte unerklärliche Macht hier walten. Auf dem Hofe stand ein Granitblock etwa zwanzig Schritt vom Hause. Wenn die Essenszeit heranrückte, ging der Alte mit dem langen Barte an den Block, zog ein silbernes Stäbchen aus dem Busen und klopfte damit dreimal an, so daß es hell wiederklang. Dann sprang ein großer goldener Hahn heraus und setzte sich auf den Block. So oft er in dieser Stellung mit den Flügeln schlug und krähte, kam aus dem Block etwas hervor, zuerst ein langer gedeckter Tisch, auf dem so viel Teller standen als essende Personen waren; der Tisch ging von selbst in’s Haus, als trügen ihn des Windes Flügel. Wenn der Hahn zum zweiten Male krähte, kamen Stühle dem Tische nachgegangen; darauf eine Schüssel mit Speise nach der andern – Alles sprang aus dem Block heraus und flog wie der Wind zum Eßtisch. Desgleichen Methflaschen, Aepfel und Beeren; Alles schien beseelt, so daß Niemand zu heben noch zu tragen brauchte. Wenn Alle sich satt gegessen hatten, klopfte der Alte zum zweiten Male mit dem Silberstäbchen an den Block, und dann krähte der goldene Hahn Flaschen, Schüsseln, Teller, Stühle und Tisch wieder in den Block hinein. Wenn aber die dreizehnte Schüssel kam, aus welcher niemals gegessen wurde, so lief eine große schwarze Katze der Schüssel nach, und beide blieben auf dem Block neben dem Hahn, bis der Alte sie forttrug. Er nahm die Schüssel in die Hand, die Katze in den Arm und den goldenen Hahn auf die Schulter, und verschwand mit ihnen unter dem Block. Nicht nur Speisen und Getränke, sondern auch alle übrigen Bedürfnisse des Haushalts, selbst Kleider kamen auf das Krähen des Hahns aus dem Block hervor. – Obwohl bei Tische wenig und immer in einer fremden Sprache gesprochen wurde, welche Else nicht verstand, so wurde dafür desto mehr geredet und gesungen, wenn die Frau mit ihren Fräulein in Zimmer und Garten weilte. Allmählich lernte Else auch die Sprache ihrer Gefährtinnen auffassen; sie verstand fast Alles, was gesagt wurde, aber Jahre verstrichen, ehe ihre eigne Zunge sich den fremden Lauten gewöhnte. Einst hatte Else die Kiisike gefragt, warum die dreizehnte Schüssel täglich auf den Tisch komme, da doch Niemand daraus esse, aber Kiisike konnte es ihr nicht erklären. Sie mußte es aber ihrer Mutter gesagt haben, denn nach einigen Tagen ließ diese Elsen zu sich rufen und sprach zu ihr mit ernstem Ausdruck: »Beschwere dein Herz nicht mit unnützen Grübeleien. Du möchtest wissen, warum wir niemals aus der dreizehnten Schüssel essen! Sieh, liebes Kind, das ist die Schüssel verborgenen Segens; wir dürfen sie nicht anrühren, sonst würde es mit unserem glücklichen Leben zu Ende sein. Auch mit den Menschen würde es auf dieser Welt viel besser stehn, wenn sie nicht in ihrer Habsucht alle Gaben an sich rissen, ohne dem himmlischen Segenspender irgend etwas zum Danke zu lassen.5 Habsucht ist der Menschen größter Fehler!«
Die Jahre verstrichen Elsen in ihrem Glücke pfeilgeschwind, sie war zur blühenden Jungfrau herangewachsen und hatte Vieles gelernt, womit sie in ihrem Dorfe ihr Leben lang nicht bekannt geworden wäre. Kiisike aber war immer noch dasselbe kleine Kind wie an dem Tage, wo sie das erste Mal mit Elsen im Walde zusammen getroffen war. Die Fräulein, welche bei der Frau vom Hause lebten, mußten Kiisike und Else täglich einige Stunden im Lesen und Schreiben und in allerlei feinen Handarbeiten unterweisen. Else begriff Alles gut, aber Kiisike hatte mehr Sinn für kindliche Spiele als für nützliche Beschäftigung. Wenn ihr die Laune kam, so warf sie die Arbeit weg, nahm ihr Schächtelchen und lief in’s Freie, um See zu spielen, was ihr Niemand übel nahm. Manchmal sagte sie zu Elsen: »Schade, daß du so groß geworden bist, du kannst nun nicht mehr mit mir spielen.«
Als jetzt neun Jahre in dieser Weise verflossen waren, ließ die Frau eines Abends Else in ihr Schlafzimmer rufen. Else wunderte sich darüber, denn um diese Zeit hatte die Frau sie noch niemals zu sich kommen lassen. Das Herz schlug ihr so heftig, daß es zu springen drohte. Als sie über die Schwelle trat, sah sie, daß die Wangen der Frau geröthet waren, ihre Augen voll Thränen standen, welche sie rasch trocknete, als wollte sie dieselben vor Elsen verbergen. »Liebes Pflegkind,« begann die Frau, »die Zeit ist gekommen, wo wir scheiden müssen.« »Scheiden?« rief Else und warf sich schluchzend der Frau zu Füßen. »Nein, theure Frau, das kann nimmermehr geschehen, bis uns einst der Tod trennt. Ihr habt mich einmal huldreich aufgenommen, darum verstoßt mich nicht wieder!« Die Frau sagte beschwichtigend: »Kind, sei ruhig! Du weißt ja noch gar nicht, was ich für dein Glück thun will. Du bist herangewachsen und ich darf dich hier nicht länger in Haft halten. Du mußt wieder unter Menschen gehen, wo Glückspfade deiner warten.« Else aber bat flehentlich: »Theure Frau, verstoßet mich nicht. Ich sehne mich nach keinem anderen Glücke, als bei euch zu leben und zu sterben. Macht mich zur Stubenmagd oder gebt mir andere Arbeit, nach eurem Belieben, aber schickt mich nicht fort in die weite Welt. Da wäre es besser gewesen, ihr hättet mich bei der Stiefmutter im Dorfe gelassen, als daß ihr mich auf so viele Jahre in den Himmel brachtet, um mich jetzt wieder in die Hölle zu stoßen.« »Still, liebes Kind!« sagte die Frau – »du begreifst nicht, was ich zu deinem Glücke zu thun verpflichtet bin, wie sehr es mich auch schmerzt. Aber Alles muß so sein, wie ich es mache. Du bist ein sterbliches Menschenkind, deine Jahre nehmen zu ihrer Zeit ein Ende und deßhalb darfst du nicht länger hier bleiben. Ich und die mich umgeben haben wohl Menschengestalt, aber wir sind nicht Menschen, wie ihr, sondern Geschöpfe höherer Art und euch unbegreiflich. Du wirst in der Ferne einen lieben Gemahl finden, der für dich geschaffen ist, und wirst glücklich mit ihm sein, bis eure Tage sich zu Ende neigen. Die Trennung von dir wird mir nicht leicht, aber es muß sein, und deßhalb mußt du dich ruhig darein fügen.« Dann strich sie mit ihrem goldenen Kamme durch Elsens Haar und hieß sie zu Bette gehen; aber wo sollte die arme Else in dieser Nacht den Schlaf hernehmen? Das Leben kam ihr vor wie ein dunkler sternenloser Nachthimmel.
Während wir Else ihrem Kummer überlassen, wollen wir uns ins Dorf begeben, um zu sehen, wie die Sachen auf dem väterlichen Hofe gehen, wo das Lehmbild an ihrer Statt der Prügelklotz ihrer Stiefmutter war. Daß ein böses Weib im Alter nicht besser wird, ist eine bekannte Sache; man erfährt wohl, daß aus einem hitzigen Jünglinge im Alter ein frommes Lamm wird, aber kommt ein Mädchen, das kein gutes Herz hat, unter die Haube, so wird sie auf die alten Tage wie ein reißender Wolf. Wie ein Höllenbrand quälte die Stiefmutter das Lehmbild Tag und Nacht, aber dem starren Geschöpfe, dessen Körper keinen Schmerz empfand, schadete es nicht. Wollte der Mann einmal dem Kinde zu Hülfe kommen, so setzte es für ihn gleichfalls Prügel, zum Lohn für seinen Versuch Frieden zu stiften. Eines Tages hatte die Stiefmutter ihre Lehmtochter wieder fürchterlich geschlagen und drohte ihr dann, sie umzubringen. Wüthend packte sie das Lehmbild mit beiden Händen an der Gurgel, um es zu erwürgen, siehe, da fuhr eine schwarze Schlange zischend aus des Kindes Munde, und stach der Stiefmutter in die Zunge, so daß sie todt niederfiel, ohne einen Laut von sich zu geben. Als der Mann Abends nach Hause kam, fand er die todte Frau dick aufgeschwollen am Boden liegen; die Tochter war nirgends zu finden. Auf sein Geschrei kamen die Dorfbewohner herbei. Die Nachbarn hatten wohl um Mittag einen großen Lärm im Hause gehört, aber da so etwas fast täglich dort vorfiel, war Niemand hingegangen. Nachmittags war Alles still geblieben, aber Niemand hatte die Tochter erblickt. Der Körper der todten Frau wurde nun gewaschen und gekleidet, und es wurden für die Todtenwächter zur Nacht Erbsen in Salz gekocht. Der müde Mann ging in seine Kammer, um zu ruhen, und dankte sicherlich seinem Glücke, daß er diesen Höllenbrand los war. Auf dem Tische fand er drei gesalzene Strömlinge und einen Bissen Brot, verzehrte Beides und legte sich zu Bette. Am andern Morgen wurde er todt auf dem Platze gefunden, und zwar ebenso aufgeschwollen wie die Frau. Nach einigen Tagen wurden beide in ein Grab gelegt, wo sie einander kein Leid mehr anthun konnten. Von der verschwundenen Tochter erfuhren die Bauern seitdem nichts weiter.
Else hatte die ganze Nacht kein Auge zugethan, sie weinte und beklagte die harte Nothwendigkeit, so schnell und unerwartet von ihrem Glücke scheiden zu müssen. Am Morgen steckte ihr die Frau einen goldenen Siegelring an den Finger und hing ihr eine kleine goldene Schachtel an einem seidenen Bande um den Hals, rief dann den Alten, zeigte mit der Hand auf Else, und nahm darauf mit betrübter Miene von ihr Abschied. Eben wollte Else danken, als der Alte dreimal mit seinem Silberstäbchen sanft ihren Kopf berührte. Else fühlte alsbald, daß sie zum Vogel geworden war; aus den Armen wurden Flügel und aus den Beinen Adlerfüße mit langen Klauen, aus der Nase ein krummer Schnabel, Federn bedeckten den ganzen Leib. Dann hob sie sich plötzlich in die Luft und schwebte ganz wie ein aus dem Ei gebrüteter Adler unter den Wolken dahin. So war sie schon mehrere Tage gen Süden geflogen und hatte wohl zuweilen gerastet, wenn die Flügel ermatteten, aber Hunger hatte sie nicht gefühlt. Da geschah es, daß sie eines Tages über einem niedrigen Walde schwebte, wo Jagdhunde sie anbellten, die freilich dem Vogel nichts anhaben konnten, weil ihnen Flügel fehlten. Mit einem Male fühlte sie ihr Gefieder von einem scharfen Pfeile durchbohrt und fiel zu Boden. Vor Schrecken war sie ohnmächtig geworden.
Als Else aus ihrer Ohnmacht erwachte und die Augen weit öffnete, fand sie sich in menschlicher Gestalt unter einem Gebüsche. Wie sie dahin gekommen und was ihr sonst Seltsames begegnet war, lag wie ein Traum hinter ihr. Da kam ein stolzer junger Königssohn daher geritten, sprang vom Pferde und bot Elsen freundlich die Hand, indem er sagte: »Zur glücklichen Stunde bin ich heute Morgen ausgeritten! Von euch, theures Fräulein, träumte mir ein halbes Jahr lang jede Nacht, daß ich euch hier im Walde finden würde. Obschon ich den Weg wohl hundert Mal umsonst gemacht hatte, ließ doch meine Sehnsucht und meine Hoffnung nicht nach. Heute schoß ich einen großen Adler, der hierher gefallen sein mußte; ich ging der erlegten Beute nach und fand statt des Adlers – euch.« Dann half er Elsen auf’s Pferd und ritt mit ihr zur Stadt, wo der alte König sie freudig empfing. Einige Tage später ward eine prachtvolle Hochzeit gefeiert; am Morgen des Hochzeitstages waren funfzig Fuder mit Kostbarkeiten angekommen, welche die liebe Pflegemutter Elsen geschickt hatte. Nach des alten Königs Tode wurde Else Königin und hat dann im Alter die Ereignisse ihrer Jugend selbst erzählt. Aber vom Tontlawald hat man seitdem Nichts mehr gesehen noch gehört.

[Estland: Friedrich Reinhold Kreutzwald: Ehstnische Märchen]

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