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Märchenbasar

Der Vampir

1.5
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Irgendwo in einem Zarenreich, in einem fernen Reich, lebte ein alter Mann mit seiner Frau, und sie hatten eine Tochter, die hieß Marussja. In ihrem Dorf war es Brauch, den Tag des heiligen Andreas, des Erstberufenen, zu feiern. Die Mädchen pflegten sich in einem Bauernhause zu versammeln, buken Krapfen und feierten eine ganze Woche, manchmal sogar noch länger. Und als nun dieser Tag wieder einmal herangekommen war, versammelten sich die Mädchen und buken und kochten die üblichen Gerichte. Abends kamen die Burschen mit ihren Hirtenflöten, brachten Wein mit, und dann begann der Tanz, und ein Gelage war’s, als ob der Teufel los sei! Die Mädchen konnten alle gut tanzen, aber am besten von ihnen tanzte Marussja.
Bald nach Beginn trat ein so schmucker Bursch in die Stube, daß alles staunte! Wie Milch und Blut sah er aus! Reich und sauber war er angezogen. »Guten Tag, ihr schönen Mädchen!« sagte er. »Willkommen, guter Gesell!« – »Glück auf zum Fest!«
»Wir bitten dich schön, mit uns zu feiern!« Sofort zog er einen Beutel mit Gold hervor, schickte nach Wein, ließ Nüsse holen und Pfefferkuchen, und im Nu war alles da. Er bewirtete die Mädchen und die Burschen, gab jedem sein Teil. Dann ging er zum Tanz, fein war er anzusehen! Ihm gefiel von allen am besten Marussja, darum machte er sich an sie heran. Als nachher für alle die Zeit kam heimzugehen, sagte der schmucke Bursch: »Marussja, komm und begleit mich!« Sie folgte ihm, und er sprach zu ihr: »Marussja, mein Herz! Willst du, so nehm ich dich zur Frau.« – »Magst du mich haben, würd ich mit Freuden deine Frau. Von wo bist du denn?« – »Aus dem und dem Ort bin ich und lebe bei einem Kaufmann als sein Gehilfe.« Sie nahmen Abschied voneinander, und jedes ging seiner Wege. Marussja kehrte heim, und ihre Mutter fragte sie: »Hast du dich gut unterhalten, Töchterchen?« – »Gut, Mütterchen! Aber eine frohe Botschaft muß ich dir noch sagen: da war ein fremder, braver Bursch, hübsch von Angesicht, und viel Geld hat er auch. Er versprach, mich zur Frau zu nehmen.« – »Hör, Marussja: wenn du morgen wieder zu den Mädchen gehst, nimm ein Knäuel Garn mit; und wenn du den Burschen begleitest, so knüpf ihm die Schlinge um einen Knopf und laß behutsam das Knäuel sich abrollen, dann kannst du später dem Faden nachgehn und erfahren, wo dein Liebster wohnt.«
Am nächsten Tage ging Marussja zur Spinnstube und nahm ein Knäuel Garn mit sich. Und wieder kam der schmucke Bursch und begrüßte sie: »Guten Tag, Marussja!« – »Willkommen!« erwiderte sie. Die Spiele und die Tänze begannen. Noch mehr als am vorigen Tage schmeichelte sich der fremde Geselle bei Marussja ein und wich keinen Schritt von ihr. Schon ward es Zeit, nach Hause zu gehn. »Marussja, begleit mich«, sagte der Gast.
Sie ging hinaus auf die Straße, und als sie Abschied von ihm nahm, warf sie behutsam die Schlinge um einen Knopf. Der Bursch ging seines Weges, sie aber stand da und wickelte das Knäuel ab. Sie ließ es ganz ablaufen und eilte nach, um zu erfahren, wo ihr Verlobter wohne. Zuerst ging der Faden auf dem Wege, nachher aber über Zäune und über Gräber und führte Marussja gerade auf die Kirche und das Hauptportal zu. Marussja versuchte, die Türen zu öffnen, aber sie waren verschlossen. Sie ging um die Kirche herum, fand eine Leiter, stellte sie unter ein Fenster und stieg hinauf, um zu sehen, was innen vor sich ginge. Sie klettert hinauf und schaut hinein: da steht ihr Verlobter an einem Sarge und frißt eine Leiche; man hatte in der Kirche einen Toten aufgebahrt. Marussja wollte leise von der Leiter hinunterspringen, aber in ihrem Schreck sah sie sich nicht vor und machte ein Geräusch. Sie lief nach Hause, sinnlos vor Schrecken, glaubte immer den Verfolger hinter sich; halb tot nur kam sie an! Am Morgen fragte die Mutter: »Hast du deinen Burschen gesehen, Marussja?« – »Ja, Mütterchen, ich hab ihn gesehen!« Aber was sie erblickt hatte, erzählte sie nicht.
Am Abend saß Marussja in Gedanken da: soll sie in die Spinnstube gehn oder nicht? »Geh nur hin«, sagte die Mutter, »vergnüge dich, solange du jung bist!« Sie kam in die Spinnstube, der Teufel aber war schon dort. Wieder begannen die Spiele, das Gelächter und die Tänze; die Mädchen ahnten nichts! Als man nach Hause aufbrach, sagte der Teufel: »Marussja, komm, begleit mich!« Sie wollte aber nicht und hatte Angst. Da machten sich alle Mädchen über sie her und riefen: »Was ist mit dir? bist du schämig geworden? Geh und begleit den guten Gesellen!« Es war nichts zu machen, sie ging mit, ergeben in ihr Schicksal. Kaum waren sie auf der Straße, als der Bursch sie fragte: »Bist du gestern bis zur Kirche gegangen?« – »Nein!« – »Aber hast du gesehen, was ich dort tat?« – »Nein!« – »Gut, dann wird morgen dein Vater sterben!« So sprach er und verschwand.
Marussja kehrte heim, von Gram und Kummer erfüllt; am Morgen wachte sie auf, der Vater lag tot da. Sie beweinten ihn und legten ihn in den Sarg; abends fuhr die Mutter zum Popen, Marussja aber blieb zu Hause. Furchtbar war’s ihr, allein zu bleiben. »Du gehst lieber zu den Freundinnen«, dachte sie. Sie kam hin, der Teufel aber war schon dort. »Willkommen, Marussja! Bist du betrübt?« fragten die Mädchen. »Wie sollt ich mich freuen? Der Vater ist gestorben.« – »Ach, du Arme!« Alle beklagten sie, und auch er, der Verfluchte, beklagte ihr Leid, als ob es nicht sein Werk gewesen sei. Man nahm Abschied und ging nach Hause. »Marussja«, sagte der Teufel, »begleit mich.« Sie wollte nicht. »Bist du denn zu jung? Was fürchtest du? Begleit ihn nur!« redeten ihr die Mädchen zu. Sie ging mit und trat auf die Straße hinaus. Er fragte: »Sag mir, Marussja, warst du an der Kirche?« – »Nein!« – »Aber hast du gesehen, was ich dort tat?« – »Nein!« – »Gut, dann wird morgen deine Mutter sterben!« So sprach er und verschwand.
Marussja kehrte noch betrübter heim; sie schlief die Nacht über, wachte am Morgen auf, die Mutter lag tot da. Den ganzen Tag weinte sie, und als die Sonne sank und es dunkel wurde ringsum, fürchtete sich Marussja, allein zu bleiben; sie ging zu den Freundinnen. »Willkommen! Was ist mit dir? Du bist bleich wie ein Tuch!« riefen die Mädchen. »Wie sollt ich auch fröhlich sein! Gestern ist der Vater gestorben und heute die Mutter.« – »Du Arme, Unglückliche!« klagten alle. Und als die Zeit kam, Abschied zu nehmen, sagte der Teufel: »Marussja, begleit mich!« Sie ging mit ihm hinaus. »Warst du an der Kirche?« – »Nein!« – »Aber hast du gesehen, was ich dort tat?« – »Nein!« – »Gut, so wirst du selber morgen gegen Abend sterben.«
Marussja schlief die Nacht bei ihren Freundinnen, stand am Morgen auf und dachte nach, was sie wohl tun solle. Sie entsann sich, daß sie eine ur-uralte Ahne hatte, die war schon blind geworden von all den vielen Jahren. »Ich will zu ihr gehn, mich mit ihr beraten.« Sie ging zur Ahne. »Guten Tag, Großmütterchen!« – »Willkommen, Kindchen, wie geht’s dir, was machen Vater und Mutter?« – »Sie sind gestorben, Großmütterchen!« Und sie erzählte alles, was ihr widerfahren war. Die Alte hörte sie an und sagte: »Ach, du mein Unglückswürmchen! Geh schnell zum Popen und bitt ihn: wenn du stirbst, solle man unter der Schwelle eine Grube graben und dich aus der Stube nicht zur Tür hinaustragen, sondern durch diese Öffnung hindurchziehen: und ferner bitt ihn, daß man dich an einem Kreuzweg begraben solle, dort, wo zwei Wege sich schneiden.« Marussja kam zum Popen, weinte bitterlich und bat ihn, alles so auszurichten, wie die Großmutter es sie gelehrt hatte; dann kehrte sie heim, kaufte einen Sarg, legte sich hinein und war sogleich tot. Man gab es dem Geistlichen zu wissen, und er beerdigte zuerst den Vater und die Mutter der Marussja und dann sie selbst. Sie wurde unter der Schwelle hindurchgetragen und auf einem Kreuzwege begraben.
Kurze Zeit darauf geschah es, daß ein Bojarensohn an Marussjas Grab vorbeifuhr. Er schaute hin und sah: auf dem Grabe wuchs eine wunderbare Blume, wie er sie noch nie erblickt hatte. Der junge Herr sagte zu seinem Diener: »Geh hin und grab mir diese Blume samt der Wurzel aus; wir wollen sie heimbringen und in einen Topf pflanzen, mag sie bei uns blühen!«
Sie gruben die Blume aus, brachten sie heim, setzten sie in einen glasierten Topf und stellten ihn vor ein Fenster. Die Blume fing an zu wachsen, und ihre Pracht wurde immer größer. Einmal wollte den Diener nächtlicherweile kein Schlaf ankommen; da schaute er zum Fenster hin und sah ein Wunder geschehen: die Blüte schwankte, fiel vom Zweig auf die Erde und verwandelte sich in eine wunderschöne Jungfrau; die Blume war schön gewesen, das Mädchen aber war es noch viel mehr! Sie ging in den Zimmern umher, brachte allerlei Getränke und Speisen herbei, trank und aß sich satt, warf sich zu Boden und ward wie früher zur Blüte; sie erhob sich zum Fenster und setzte sich auf das Zweiglein.
Am nächsten Tage erzählte der Diener seinem Herrn, welches Wunder ihm in der Nacht erschienen war. »Ach, Lieber, warum hast du mich nicht geweckt? In dieser Nacht wollen wir beide wachen.« Die Nacht kam heran; sie schliefen nicht, sondern warteten. Genau um zwölf Uhr fing die Blume an sich zu regen, schwebte hinab und fiel auf die Erde, da erschien die wunderschöne Jungfrau. Sie brachte Getränke und Speisen herbei und setzte sich zur Abendmahlzeit nieder. Der junge Herr aber lief hinzu, ergriff sie bei den weißen Händen und führte sie in sein Gemach; er konnte sich an ihr nicht satt sehen, ihre Schönheit nicht genug bewundern.
Am Morgen sprach er zu Vater und Mutter: »Erlaubt mir zu heiraten, ich hab die Braut schon gefunden.« Die Eltern erlaubten es. Marussja aber sprach: »Ich will nur unter der Bedingung deine Frau werden, daß ich vier Jahre lang nicht in die Kirche gehe.« – »Gut!« sagte der Bräutigam. Sie wurden getraut, lebten ein Jahr oder zwei miteinander und hatten einen Sohn. Da kamen einstmals Gäste zu ihnen; sie vergnügten sich und zechten und rühmten sich ihrer Frauen: der eine hatte ein schönes Weib, der andere ein noch viel schöneres. »Ihr mögt sagen, was ihr wollt«, sprach der Hausherr, »aber eine schönere als meine Frau gibt es auf der ganzen Welt nicht!« – »Schön ist sie, aber ungetauft!« antworteten die Gäste. »Wieso denn das?« – »Ja, sie geht doch nicht in die Kirche.«
Diese Reden schienen dem Gatten eine Schmach. Er wartete bis zum Sonntag und befahl seiner Frau, sich zum Hochamt festlich anzukleiden: »Ich will von nichts wissen! Mach dich sofort bereit!« Sie machten sich fertig und fuhren zur Kirche; der Gatte ging hinein und erblickte nichts, sie aber schaute sich um und sah im Fenster den Teufel sitzen. »Ach, also so eine bist du! Entsinn dich des Vergangenen: warst du nachts bei der Kirche?« – »Nein!« – »Hast du aber gesehen, was ich dort tat?« – »Nein!« – »Gut, so werden dir morgen Mann und Sohn sterben!«
Marussja eilte gleich von der Kirche zu ihrer alten Großmutter. Die gab ihr in einem Gläschen Weihwasser, im andern Lebenswasser und sagte ihr, wie und was sie tun solle. Am nächsten Tage starben der Marussja Mann und Sohn; der Teufel aber kam zu ihr geflogen und fragte: »Gesteh, warst du bei der Kirche?« – »Ja, ich war dort.« – »Hast du auch gesehen, was ich dort tat?« – »Einen Leichnam hast du gefressen!« antwortete sie, und sowie sie Weihwasser auf ihn spritzte, zerfiel er in Staub. Danach besprengte sie Mann und Sohn mit Lebenswasser, und sie wurden sofort lebendig. Und von der Zeit ab kannten sie weder Kummer noch Trennung und lebten lange und glücklich beisammen.

[Rußland: August von Löwis of Menar: Russische Volksmärchen]

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