Suche

Märchenbasar

Der verwunschene Prinz

0
(0)
Es war einmal ein König, dem wurde kein Sohn geboren. Sein Herz war traurig, und er betete zu den Göttern, die seine Zeit beherrschten, und diese befahlen, daß ihm ein Sohn geboren werde. Er näherte sich eines Nachts seiner Frau, diese wurde schwanger, und als sie die Monate bis zu der Entbindung vollendet hatte, da wurde ein Knabe geboren. Da kamen (die Schicksal verkündenden Göttinnen) die Hathoren, um das Geschick des Kindes zu bestimmen und sprachen: »Es wird durch ein Krokodil oder durch eine Schlange oder durch einen Kund sterben.« Als dies die Leute, die bei dem Kinde waren, vernahmen, da gingen sie hin und sagten es Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteil werden möge. Da ward das Herz Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteil werden möge, sehr betrübt. Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteil werden möge, ließ dem Knaben im Gebirge ein Haus aus Steinen erbauen, das war mit Leuten und allerhand schönen Dingen aus dem Haushalte des Königs, dem Leben, Heil und Gesundheit zuteil werden möge, ausgestattet. Der Knabe aber ging nicht aus dem Hause heraus.
Als nun der Knabe groß geworden war, da stieg er auf das flache Dach des Hauses und sah einen Windhund, der hinter einem Manne herlief, der auf dem Wege einher ging. Da sagte er zu seinem Diener, der bei ihm war: »Ach! Was ist denn das, was hinter dem Manne, der auf dem Wege geht, herläuft?« Der Diener sagte ihm: »Das ist ein Windhund«. Da sagte der Knabe: »Man soll mir ein derartiges Geschöpf bringen.« Der Diener ging, um dies Seiner Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteil werden möge, zu melden. Seine Majestät, der Leben, Heil und Gesundheit zuteil werden möge, sagte: »Man bringe ihm einen kleinen, laufenden Hund, damit sich sein Herz nicht betrübe.« Da brachte man ihm einen Windhund.
Als nun die Tage dahin gingen und der Jüngling und sein ganzer Körper älter geworden waren, da schickte er zu seinem Vater und ließ ihm sagen: »Wohlan! Warum soll ich faul herum sitzen? Da mir nun einmal ein trauriges Geschick bevorsteht, so möge es mir erlaubt sein, meinen Wünschen gemäß zu handeln. Gott wird doch das tun, was ihm am Herzen liegt.« Man folgte seinem Wunsche, man gab ihm allerhand Waffen, man gab ihm seinen Windhund, der ihm folgen sollte, man ließ ihn zu Schiffe auf die östliche Seite (des Niltales) bringen und sagte ihm: »Wohlan! Gehe wie es dir beliebt!« Sein Windhund war bei ihm, und so zog er nach seinem Belieben durch das Land nach Norden hin und lebte von dem besten Wild des Landes. Dann gelangte er, da er die Absicht hatte zu fliegen, zu dem Fürsten des Landes Neharina (in Nordostsyrien).
Siehe da! Dem Fürsten von Neharina war außer einem Mädchen kein Kind geboren worden. Für dieses hatte er ein Haus bauen lassen, dessen siebzig Fenster siebzig Ellen von dem Erdboden entfernt waren. Dann hatte er alle Kinder aller Fürsten des Landes Syrien herbei kommen lassen und hatte ihnen gesagt: »Derjenige, der das Fenster meiner Tochter erreicht, dem soll sie als Frau angehören.«
Als nun viele Tage verstrichen waren und diese Prinzen sich in üblicher Weise beschäftigten, da kam der Jüngling an der Stelle vorbei, an der sie sich befanden. Sie führten den Jüngling zu ihrem Hause, sie wuschen ihn, sie gaben seinen Pferden Futter, sie taten alles mögliche für den Jüngling, sie reinigten ihn, sie salbten ihm die Füße, sie gaben seinen Dienern Nahrung. Im Gespräche sagten sie zu ihm: »Woher kommst du, du schöner junger Mann?« Da sagte er zu ihnen: »Ich bin der Sohn eines Offiziers der Wagenkämpfer im Lande Aegypten. Meine Mutter starb, und da nahm mein Vater ein anderes Weib. Als nun Kinder kamen, da fing sie an mich zu hassen, da ging ich fort und floh vor ihr.« Da umarmten ihn die Prinzen und bedeckten alle seine Glieder mit Küssen.
Als nun viele Tage verstrichen waren, da sagte er zu den Prinzen: »Was macht ihr denn hier?« Sie sagten ihm: »Wir verbringen hier unsere Zeit mit Fliegen, und derjenige, der das Fenster der Tochter des Fürsten von Neharina erreichen wird, dem wird sie als Frau gegeben werden.« Da sagte er zu ihnen: »Wenn es euch recht ist, so werde ich die Götter für mich beschwören und mit euch fliegen gehen.« Dann gingen sie, wie sie das täglich zu tun pflegten, hin, um zu fliegen; der Jüngling aber stand, um zuzusehen, in der Ferne. Da wandte sich ihm das Gesicht der Tochter des Fürsten von Neharina zu. Als nun einige Tage verstrichen waren, da kam der Jüngling mit den Kindern der Fürsten herbei, um zu fliegen. Er flog, er erreichte das Fenster der Tochter des Fürsten von Neharina, sie küßte ihn, sie umarmte alle seine Glieder.
Da ging man hin, um das Herz ihres Vaters zu erfreuen und sagte ihm: »Einer der Leute hat das Fenster deiner Tochter erreicht.« Der Fürst erkundigte sich und frug: »Der Sohn welches Fürsten?« Man sagte ihm: »Der Sohn eines Offiziers der Wagenkämpfer, der auf der Flucht vor seiner Mutter aus Aegypten hierher kam, er kam wegen deren Kindern.« Da wurde der Fürst von Neharina sehr zornig und sagte: »Soll ich etwa meine Tochter einem Flüchtling aus Aegypten geben? Der mag nach Hause zurückkehren!« Man ging, um dem Jünglinge zu sagen: »Gehe gefälligst wieder dahin, woher du gekommen bist.« Aber das Mädchen umarmte den Jüngling, sie schwor bei Gott und sagte: »Beim Leben des Gottes Râ-Harmachis! Wenn man ihn mir fortnimmt, dann werde ich nicht mehr essen, dann werde ich nicht mehr trinken, dann werde ich noch in derselben Stunde sterben.«
Der Bote ging fort, um alles, was sie gesagt hatte, ihrem Vater mitzuteilen. Da schickte der Fürst Leute aus, um den Jüngling zu töten, während er in seinem Hause war. Aber das Mädchen sagte zu ihnen: »Beim Leben des Gottes Râ! Wenn man ihn tötet, so werde auch ich beim Sonnenuntergänge tot sein, ich werde keine Stunde ohne ihn leben!« Man ging hin und meldete das ihrem Vater. Der Fürst ließ den Jüngling und das Mädchen zu sich bringen. Als der Jüngling vor dem Fürsten stand, da zitterte er vor Furcht, aber der Fürst umarmte ihn, küßte alle seine Glieder und sagte: »Sage mir, wer du bist, denn siehe, für mich bist du mein Sohn geworden!« Der Jüngling sagte ihm: »Ich bin der Sohn eines Offiziers der Wagenkämpfer im Lande Aegypten. Meine Mutter starb, und da nahm sich mein Vater ein anderes Weib. Dieses begann mich zu hassen, und da ging ich fort und floh vor ihr.« Da gab ihm der Fürst seine Tochter zur Frau, er gab ihm ein Haus, Arbeiter, Felder und auch Vieh und allerhand schöne Dinge.
Als nun manche Tage verstrichen waren, da sagte der Jüngling zu seiner Frau: »Drei Schicksale sind über mich verhängt worden: Das Krokodil, die Schlange, der Hund.« Da sagte sie zu ihm: »Man soll den Windhund töten, der hinter dir herläuft.« Er aber sagte zu ihr: »O nein! Ich werde meinen Hund nicht töten, den ich aufgezogen habe, als er noch klein war.« Die Frau bewachte nunmehr eifrigst ihren Gatten und ließ ihn nicht allein aus dem Hause gehen. Der Jüngling aber wünschte eine Reise zu unternehmen, um das Land Aegypten zu besuchen und es zu durchstreifen. Da kam (als er in Aegypten angelangt war) das Krokodil des Niles aus dem Nile heraus und gelangte bis in die Mitte der Ortschaft, in der sich der Jüngling befand. [Man fing es, und sperrte es in ein Haus ein], in dem sich ein Riese befand, und der Riese ließ das Krokodil nicht herausgehen. Wenn aber das Krokodil [schlief], dann verließ der Riese das Haus und ging spazieren. Wenn aber die Sonne aufging, dann kam der Riese zurück, und das tat er während zwei Monaten an jedem Tag.
Als nun manche Tage vergangen waren, da blieb der Jüngling zu Hause, um sich einen vergnügten Tag zu machen. Als die Nacht herankam, da legte sich der Jüngling, um zu schlafen, auf sein Ruhebette, der Schlaf überkam seine Glieder. Da füllte die Frau eine Schale mit [Milch, in die sie eine berauschende Flüssigkeit gegossen hatte]. Da kam eine Schlange aus ihrem Loche heraus, um den Jüngling zu beißen. Aber seine Frau saß neben ihm und schlief nicht. Da kamen die Dienerinnen herbei (die sie um Hilfe rief, als sie die Schlange erblickte), und gaben der Schlange die Milch, die Schlange trank und ward berauscht und blieb auf dem Rücken liegen. Die Frau schlug sie mit ihrer Axt in Stücke. Dann weckte sie ihren Gatten [und er wunderte] sich. Sie aber sagte ihm: »Siehe! Dein Gott hat dir eines der dir verhängten Geschicke in deine Hand gegeben, er wird dir auch die andern geben.« Da opferte er dem Gotte und pries ihn und erkannte jeden Tag die Macht des Gottes hoch an.
Als nun viele Tage nach diesen Ereignissen verstrichen waren, da verließ der Jüngling seine Wohnung, um in der Nähe seiner Behausung spazieren zu gehen, er ging nicht allein heraus, denn sein Hund lief hinter ihm her. Da lief sein Hund fort um zu jagen, und der Jüngling lief hinter dem Hunde her. Als er an den Nil kam, stieg er hinter seinem Hunde her das Ufer zum Nile herab. Da kam das Krokodil heraus und schleppte ihn an den Ort, an dem der Riese war. [Da eilte der Riese heraus und rettete den Jüngling], aber das Krokodil sagte zu dem Jüngling: »Ich bin dein Schicksal, das dir nachfolgt. Du wirst mir schon noch einmal in den Weg kommen, du und der Riese. Denn siehe! Ich lasse dich jetzt entrinnen [aber gerettet bist du darum noch nicht, erinnere dich dessen wohl, ich werde wiederkommen, Entsetzen verbreiten] und den Riesen töten. Und wenn du den Riesen tot siehst, dann wirst auch du deinen Tod sehen.«
Als nun die Erde wieder hell wurde und der nächste Tag anbrach, da kam …

* * *

Mit diesen Worten bricht der erhaltene Teil des Textes ab. Zwei der ihn bedrohenden Schicksale hatten den Jüngling verschont, die Schlange hatte ihn nicht getötet, das Krokodil, das ihn schon ergriffen hatte, hatte ihn wieder freilassen müssen. Aber das, was die Götter verhängt haben, das muß nach ägyptischer und allgemein orientalischer Anschauung geschehen, der Jüngling wird dem dritten Geschick, also dem Hunde, zum Opfer gefallen sein. Vermutlich verlief die Sache in der Weise, daß das Krokodil, wie es voraus gesagt hatte, wieder kam, den Riesen angriff und tötete. Der Prinz und sein Hund versuchten, dem Riesen Hilfe zu bringen, es gelang ihnen das Krokodil zu erlegen, aber in der Hitze des Gefechtes verwundete der Hund seinen Herrn, dieser erlag der Wunde und starb durch das Geschöpf, das ihn während seines Lebens treu begleitet hatte, und dem er am wenigsten mißtrauen konnte.

[Alfred Wiedemann – Altägyptische Sagen und Märchen]

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content