Wie er so eine Zeitlang nachgedacht hatte, fiel ihm ein, auf einen Baum zu steigen, um dort zu übernachten. Er hoffte, daß er dort sicher sein werde. Gesagt, getan. Er kletterte die zunächststehende Tanne empor und immer höher und höher, bis er auf einem der höchsten Äste drobensaß wie ein Eichhörnchen. Wie er so auf dem hohen Baum droben war, konnte er den Wald nach allen Seiten hin übersehen.
Er hatte sich noch nicht lange umgeschaut, als er plötzlich ein Licht nicht gar ferne schimmern sah. Er merkte sich die Gegend genau, von der der Schein kam, stieg dann behend vom hohen Baum herunter und wanderte dem Licht zu. Mit seinem Schwert haute er sich einen Weg durch das Gestrüpp und durch die Dornen, bis er endlich müde vor einer ärmlichen Bauernhütte, in der das Licht brannte, ankam. Er klopfte an die Tür und bat um eine Nachtherberge. Kaum hatte er dies getan, öffnete sich die Tür, und ein altes Bäuerlein hieß ihn willkommen. Er wurde in die Stube geführt und dort von den Töchtern des Bauern gar freundlich aufgenommen. Eine davon ging alsogleich in die Küche, machte dort Feuer an und sott ihm einige Eier. Der Ritter erzählte, wie er sich verirrt habe und dann andere Jagdabenteuer, die er früher bestanden hatte. Als er das schmale Nachtessen zu sich genommen hatte, legte er sich, weil er so müde war, auf die Ofenbank, auf der er übernachten sollte. Er lag nicht lange, als der Schlaf sich einstellte und er gar süß zu schlummern begann.
Wie die drei Töchter des Bauern merkten, daß der schöne Ritter eingeschlafen war, fingen sie an von ihm zu reden. Da sagte unter anderem die älteste: »Wenn ich einen so schönen Mann bekommen würde, müßten meine Kinder werden wie Milch und Blut.«
Die zweite meinte, wenn sie einen so stattlichen Burschen hätte, müßten ihre Kinder lieblicher als Schnee und Wein aussehen.
Da nahm die jüngste das Wort und sprach: »Bleibt mit euren Wünschen zu Hause! Wenn ich einen so prächtigen Mann bekommen würde, müßte ich Kinder kriegen so schön wie weiße und rote Rosen, und ihre Haare müßten sein wie von purem Gold!«
Als sie dies sprach, war der Ritter gerade erwacht und hörte ihre Rede. Und weil das Mädchen so schön war, entschloß er sich, es zur Frau zu nehmen. Er hielt sich aber ruhig und still und ließ von seinem Vorhaben nichts merken. Am andern Tag, als die jüngste zuerst in die Stube gekommen war, eröffnete ihr der Ritter seinen Entschluß. Das Mädchen wußte nicht, wie ihr geschah. Es blickte bald fragend den Ritter an, bald schlug es die Augen zu Boden. Als aber der schöne Herr auf seiner Rede bestand, hatte sie eine übergroße Freude und wußte nicht, was sie vor Lust tun sollte. Der Ritter teilte sein Anliegen ihrem Vater mit, und da dieser nichts dagegen einzuwenden hatte, war die Heirat beschlossen, es mochte die beiden älteren Schwestern ärgern wie es wollte.
Der Ritter nahm noch am selben Tag von der Bauernhütte Abschied und kehrte mit seiner Braut auf sein Schloß zurück. Da ging es nun lustig und laut her, als die Hochzeit gefeiert wurde, daß der Traurigste hätte froh werden müssen. Der Ritter und seine schöne Frau lebten nun ein glückliches Leben, und sie meinte oft, es könnte im Himmel nicht feiner sein, als sie es hier auf Erden hatte.
Es dauerte aber nicht lange, und das Glück wurde gestört. Der Ritter mußte nämlich in den Krieg ziehen, um das Land zu verteidigen, und da hatte die Frau gar trübe, traurige Zeiten. Sie verging fast vor Sehnsucht nach ihrem lieben Gemahl und konnte vor Leid beinahe weder essen noch schlafen. Während der Ritter noch im Felde stand, erfüllte sich die Zeit der Frau, und sie gebar zwei Kinder, ein Söhnlein und ein Töchterlein. Die Kinderlein waren aber so schön wie rote und weiße Rosen, und ihre Haare waren von purem Gold. Da hatte die Frau eine unaussprechliche Freude, daß ihr Wunsch so in Erfüllung gegangen war, und wollte ihrem Herrn gleich davon Nachricht geben. Sie bat deshalb eine Schwester, die aufs Schloß gekommen war, um die Kinder zu betreuen, dem Ritter vom glücklichen Ereignis zu schreiben. Diese ließ es sich nicht zweimal sagen und schrieb einen Brief. Weil sie aber schon lange Zeit die jüngste Schwester um ihr Glück beneidet hatte, meldete sie dem Ritter im Brief, seine Gemahlin habe zwei Kinder bekommen, sie hätten aber Hundsköpfe und seien so häßlich, daß sie ihm raten müsse, diese ins Wasser werfen zu lassen. Mit diesem Brief sandte sie einen Boten an den Ritter.
Der wollte anfangs, als er das Schreiben las, seinen Augen nicht trauen. Als er aber den Brief wieder gelesen hatte und sah, daß es wirklich so heiße, war er zuerst innigst betrübt, doch bald verwandelte sich sein Schmerz in wütenden Zorn, und er gab Befehl, man sollte die Kinder in das Wasser, seine Gemahlin aber ins Gefängnis werfen.
Die grausame Anordnung des Ritters wurde vollführt. Die Rabenschwester ließ die zwei schönen Kinder in einen Mühlbach und die Frau Ritterin in den Kerker werfen. Der Schmerz über diese schnöde Behandlung und die Trennung von ihren Kindern betrübten aber die gute Frau so sehr, daß sie erkrankte und in kurzer Zeit wie tot im Kerker gefunden wurde.
Die armen Kinder wurden vom kalten Wasser weggetragen, bis sie von einem Rechen, der sich bei einer einsamen Mühle befand, aufgehalten wurden. Als der Müller, der ein seelenguter Mann war, die armen, nassen Kinderlein sah, hatte er das größte Mitleid mit ihnen, nahm sie aus dem Wasser und trug sie in die Stube. Da sah er erst recht, wie schön sie waren, und konnte sich nicht satt an ihnen schauen. Wie er merkte, daß die Kinderlein noch am Leben waren, empfand er die größte Freude, legte sie in sein Bett und gab ihnen, als sie sich erholt hatten, zu essen und zu trinken. Er entschloß sich, die Kleinen, weil sie gar so schön waren, bei sich zu behalten und großzuziehen.
So lebten nun Brüderchen und Schwesterchen in der Mühle, wuchsen und wurden von Tag zu Tag schöner und lieber. Der Müller hatte seine Freude an ihnen und liebte sie so, als ob es seine eigenen Kinder wären, und sie hielten ihn für ihren wahren Vater und taten alles, was sie ihm an den Augen ansehen konnten.
So ging es viele Jahre. Als die zwei Findlinge eines Abends wieder in der Stube bei dem Müller saßen, das Mädchen spann und der Knabe schnitzte, da eröffnete ihnen der Müller, daß er nicht ihr rechter Vater, sondern nur ihr Nährvater sei. Die Kinder machten, als sie dies hörten, große Augen und wollten den Worten ihres vermeinten Vaters nicht glauben. Wie der Müller dies sah, erzählte er ihnen haargenau, wie er sie gefunden habe und daß er trotz aller Bemühungen ihre Eltern nicht habe auffinden können.
Die guten Kinder wurden über diese Nachricht tief betrübt. So lieb der alte Müller gegen sie war und so gut es ihnen in der Mühle ergangen war, so kam ihnen nun doch alles fremd vor, und sie empfanden eine große Sehnsucht nach ihrer wahren Heimat. Sooft sie allein waren, sprachen sie darüber, wo wohl ihr Vaterhaus sein könnte, und nachts träumten sie davon. Diese Sehnsucht wurde nach und nach so stark, daß sie beschlossen, die Mühle und ihren Pflegevater zu verlassen und in die weite Welt zu wandern, um die Heimat aufzusuchen.
Der Müller riet ihnen anfangs von ihrem Beginnen ab, als er aber sah, daß sie sich von ihrem Vorhaben nicht abwendig machen ließen, gab er ihnen seinen Segen, gute Lehren und ein Säcklein mit Lebensmitteln mit auf die Wanderung. Sie zogen nun aus und gingen, weil ihnen der Müller erzählt hatte, daß er sie im Mühlbach gefunden habe, bachaufwärts. So waren sie schon lange gegangen und hatten von ihrer Heimat und ihren Eltern keine Spur entdeckt. Da kamen sie eines Abends müde und matt zu einer großen, großen Stadt, und vor dieser stand ein prächtiges Schloß mit einem schönen Tor und hohen Türmen.
»Schau, es will schon Nacht werden«, sprach das Mädchen, »und ich bin so müde, daß ich fast keinen Fuß mehr aufheben kann!«
Das Bübchen antwortete: »Ich bin auch müde und dazu hungrig. Geh, schauen wir, daß wir im Schloß hier über Nacht bleiben können.«
Sie gingen nun zum Burgtor und baten dort um eine Herberge. Dem Torwart, der sonst ein mürrischer, griesgrämiger Kauz war, gefielen die bildschönen Kinder so, daß er sie einließ und ihnen freundlich Bescheid gab. Der Ritter hatte an den Kindern sein Wohlgefallen und fühlte sich, ohne zu wissen warum, zu den Kleinen hingezogen. Er sprach lange und viel mit ihnen, ließ sie gut bewirten und wünschte ihnen eine gute Nacht. Da waren Brüderchen und Schwesterchen seelenvergnügt und suchten, nachdem sie sich satt gegessen hatten, ein warmes Nestchen, worin sie gar gut schliefen und allerlei zusammenträumten. Als der Tag schon vorgeschritten war, erwachten die Zwillinge, nahmen ihr Frühstück und wollten dann weitergehen, ihre Heimat aufzusuchen. Bevor sie jedoch weiterwanderten, gingen sie zum Ritter, um ihm für die Nachtherberge zu danken. Dieser empfing sie sehr freundlich und fand die Kinder so lieb, daß er sie nicht weiterziehen ließ. »Bleibt nur noch eine Zeitlang bei mir, sprach er, und es soll euch nichts fehlen.«
Den Kindern gefiel dieser Antrag, und sie entschlossen sich bald, in dem Schloß zu bleiben. So freundlich aber der Ritter war, so ungünstig war seine Wirtschafterin. Diese hatte gegen die fremden Bälge, wie sie die zwei Kinder nannte, die größte Abneigung und wollte sie selbst durch Gewalt aus dem Weg räumen. Sie gab ihnen nur böse Worte, stieß sie hin und her, sooft der Ritter es nicht sah, und begegnete ihnen auf die liebloseste Weise. Als sie sah, daß die Kinder trotzdem im Schloß blieben und keine Miene machten sich zu entfernen, versuchte sie durch List den Knaben, der ihr am meisten zuwider war, zu verderben. Sie tat ihm nun schön, gab ihm gute Worte und schmeichelte sich bei ihm ganz und gar ein. Der gute Knabe ahnte nichts Böses, nahm alle ihre Liebkosungen für bare Münze und war ihr in allem willfährig.
Da sprach sie eines Morgens zu ihm: »Du könntest mir eine große Freude machen, wenn du mich wirklich gern hast.« Der Knabe fragte sie, was er tun sollte, und sie antwortete: »Wenn du in den Wald hinausgingest, den Vogel Phönix zu holen, wärst du der bravste Bursche auf der Welt.«
Dies sagte sie, weil sie wohl wußte, daß es dem Burschen unmöglich sein werde, und weil sie hoffte, der Knabe werde im Wald, der von wilden Tieren wimmelte, zerrissen und aufgefressen werden.
Der Knabe nahm seine Joppe und seinen Strohhut und ging guter Dinge in den finsteren Forst hinaus. Er war voll Freude und sah auf jeden Baum hinauf, in der Meinung, es könnte darauf der Phönix nisten. So war er schon eine gute Strecke gewandert, und der Wald wurde immer dichter. Uralte Bäume standen so dicht, daß ihre bemoosten Äste ineinandergriffen und undurchdringliche Gehege bildeten. Da war guter Rat teuer, und dem Knaben fiel das Herz in die Hosen. Er fing an sich zu fürchten und wußte nicht mehr wo ein und wo aus. Wie er so ratlos dastand, kam ein Fuchs dahergeschlichen, der einen ellenlangen Schweif nachzog und gar pfiffig dreinschaute. Als er ganz in die Nähe des Knaben gekommen war, fing er an zu reden und sprach: »Ich weiß wohl, du willst den Vogel Phönix. Wenn du aber mir nicht folgst, so wirst du den Wundervogel nie bekommen.«
Der Knabe konnte sich über den redenden Fuchs nicht genug wundern, und ihm kam die ganze Sache nicht geheuer vor; doch folgte er dem Fuchs, der sich oft nach ihm umsah. Als sie so eine Strecke schweigend fortgewandert waren, kamen sie zu einem ungeheuren Strom, der hoch und wild einherging.
»Da drüben hat der Phönix sein Nest«, sprach der Fuchs, als sie am Ufer standen. »Da hinüber mußt du, obwohl keine Brücke ist. Doch das macht nichts, wenn du nur Mut hast. Hänge du dich nur an meinen Schweif und halte dich an ihm fest, dann sollst du glücklich hinüberkommen. Läßt du aber den Schweif los, wirst du unrettbar verloren sein.«
Der Knabe hängte sich nun an den Schweif des Fuchses, und dieser sprang in den Fluß hinein und schwamm lustig durch das Wasser. Ehe man’s erwartet hätte, standen beide, freilich durchnäßt wie eine getaufte Maus, am jenseitigen Ufer. Da ragte ein steiler Felsen empor und daran hing, wie hinaufgeklebt, das Nest, aus dem drei junge Phönixe herausguckten. »Siehst du«, sprach der Fuchs, »das Nest dort oben? Da mußt du nun hinauf und von den drei Jungen dasjenige holen, das in der Mitte ist. Würdest du aber ein anderes erwischen, müßtest du sterben.«
Der Knabe kletterte nun hinauf wie eine Spinne, packte den bezeichneten Phönix und brachte ihn glücklich herunter. Nun ging es an die Rückfahrt. Der Knabe hängte sich wieder an den Schweif des Fuchses, und dieser schwamm wieder durch das wilde Gewässer ans Ufer. Dann geleitete er den Knaben durch den wilden Wald bis zum Feld, und erst hier verließ er ihn. Dem Burschen war jetzt katzenwohl, weil er das Schloß wiedersah, und er eilte mit der größten Freude darauf zu. Dort angekommen, lief er jubelnd zur Frau und gab ihr den Phönix. Diese nahm den Vogel an, lächelte und lobte den Burschen, obwohl ihr Herz vor Gift und Galle schwoll.
Nachdem ihr der erste Versuch, den Knaben zu verderben, mißlungen war, sann sie einen neuen Plan aus, ihn loszuwerden. Dazu bot sich bald eine Gelegenheit. Der Graf wurde krank, so schwer, daß der herbeigerufene Doktor die Sache sehr bedenklich fand. Er zuckte die Achseln, räusperte sich und sprach sich endlich dahin aus, dem Kranken könne nur durch das Wasser des Lebens geholfen werden. Die böse Wirtschafterin ging nun zum Knaben und trug ihm auf, das Wasser des Lebens zu holen. Sie wußte wohl, mit wie vielen Gefahren und Beschwerden dies verbunden sei, und hoffte deshalb, daß der Knabe darob zugrunde gehen werde. Der Knabe war guter Dinge und machte sich gleich auf die Füße, um in der Ferne das Wasser des Lebens aufzusuchen. Er ging wieder in den Wald und dort immer weiter gegen Sonnenaufgang. Als er schon eine gute Strecke gegangen war, begegnete ihm wieder der Fuchs und fragte ihn: »Wohin gehst du?«
»Ich muß das Wasser des Lebens holen«, erwiderte der Knabe, »denn der Graf ist sterbenskrank.«
»Da hast du eine halsbrecherische Arbeit«, versetzte der Fuchs. »Doch sei getrost; wenn du mir folgst, soll es gut enden.«
Der Fuchs ging nun voraus, und der Knabe folgte. Drei lange Tage wanderten sie ohne ein Wörtchen zu reden durch den stockfinsteren Wald. Da begann sich endlich das Dickicht zu lichten, und sie sahen vor sich einen Teich. Da sprach der Fuchs: »Dies ist der Teich des Lebenswassers, daraus mußt du schöpfen. Ein Drache bewacht aber das Wasser, und diesen müssen wir täuschen. Ich werde ihn necken, bis er mich verfolgen wird, und dann mußt du, sobald er mir nacheilt, zur Stelle sein, das Wasser schöpfen und flüchten; denn würde er dich erreichen, so wärst du ein Kind des Todes.«
Der Fuchs ging nun wie verabredet voraus und näherte sich dem Drachen, der sich am Gestade sonnte. Sobald die wilde Bestie den Fuchs sah, fuhr sie auf ihn los und verfolgte ihn voll Zorn. Der Knabe schlich sich indessen zum Teich, füllte sich den Krug schnell mit Wasser und eilte über Stock und Stein auf der andern Seite davon. Er war noch nicht lange gelaufen, da kam ihm der Fuchs nach und führte ihn aus dem finsteren Wald. Wie sie am Ende des Forstes waren, nahm der Fuchs Abschied, sagte jedoch, daß sie sich bald wiedersehen würden. Der Knabe eilte nun auf das Schloß, wo der todkranke Graf schon in den letzten Zügen lag. Er röchelte schon, und seine Augen waren fast gebrochen. Man gab ihm nun vom Lebenswasser ein – und siehe! Kaum hatte er einen Tropfen davon auf die Zunge gebracht, so sprang er gesund aus dem Bett und fühlte sich stärker und besser als jemals zuvor.
Der Graf hatte seitdem den Knaben noch lieber und hütete ihn wie seinen Augapfel. Das ärgerte die Schwester der verstorbenen Gräfin noch mehr, und sie beschloß aufs neue, den Knaben zu verderben. Sie schmeichelte ihm mehr als je, liebkoste ihn und gewann ihn ganz für sich. Da sprach sie eines Tages zu ihm: »Wenn du mir die schönste Blume der Welt holtest, würdest du mir die größte Freude machen, und ich würde dich noch lieber haben als jetzt.«
Sie dachte sich aber, wenn ich ihn um die schönste Blume der Welt schicke, dann weiß Gott, wie weit er gehen wird, und sicherlich wird er nicht mehr zurückkehren. Der Knabe nahm die Rede der Frau für bare Münze, griff zu seinem Stock und machte sich auf, die schönste Blume der Welt zu suchen. Er ging wieder in den dunklen Wald hinaus, wo der Fuchs schon auf ihn wartete.
»Wohin geht heute dein Weg?« fragte er den Knaben.
Dieser antwortete: »Ich soll die schönste Blume auf der Welt holen und weiß nicht, wo sie zu finden ist.«
»Da hast du keine leichte Aufgabe«, versetzte der Fuchs, »denn sie ist weit weg von hier. Wenn du sie erreichen willst, so mußt du dich auf mich setzen, denn sonst würdest du vor Mattigkeit erliegen, ehe du zur Blume kommst.«
Der Knabe ließ sich den Rat nicht zweimal geben, schwang sich auf den Fuchs und ritt so schnell dahin wie auf dem besten Reitpferd. In Eile ging es über Stock und Stein, Distel und Dorn, und alle Bäume schienen rückwärts zu laufen.
Nachdem er lange, lange Zeit im Saus fortgeritten war, kamen sie zu einem großmächtigen Fluß. Da stieg der Knabe ab, hängte sich wieder dem Fuchs an den Schwanz und schwamm so an das jenseitige Ufer wie früher. Dann ging es wieder querfeldein, bis man zu einem zweiten Fluß kam. Da stieg der Knabe wieder ab, hängte sich dem Fuchs an den Schwanz und schwamm an das jenseitige Ufer. Als sie dort angekommen waren, ging es wieder querfeldein, bis sie zu einem dritten Fluß kamen, der viel breiter und tiefer als die zwei früheren war. Er stieg wieder ab und übersetzte das Wasser wie früher. Als sie wieder das jenseitige Ufer erreicht hatten, kamen sie zu einem Baum, der gar hoch und schön war. An ihm hingen drei Blumen, die in schönster Blüte standen und so schön waren, daß man sich nichts Schöneres denken kann.
Wie der Knabe ganz geblendet von der Pracht der Blumen dastand und sie in einem fort angaffte, sprach der Fuchs: »Siehst du, wir sind nun an der Stelle. An diesem Baum sind die schönsten Blumen der Welt. Steig nun hinauf und hol dir eine herunter. Nimm aber nicht die größte und schönste, denn ihre Blätter würden bald abfallen; nimm auch nicht die kleinste, denn diese würde bald verwelken.«
Der Knabe kletterte nun rasch den Baum empor und pflückte die Blume, die ihm bezeichnet war. Froh stieg er dann vom Baum und trat den Rückweg an. Das war ein saures Stück Arbeit. Es mußten wieder die drei großen, breiten Flüsse durchschwommen und der lange beschwerliche Ritt über Stock und Stein gemacht werden. Der Knabe war aber desungeachtet guter Laune, denn er brauchte nur die prächtigste Blume anzublicken, und es lachte ihm das Herz im Leibe. Nachdem er sieben Tage geschwommen und geritten war, kamen sie endlich an das Ende des Waldes zurück. Da stieg der Knabe ab, dankte dem guten Tier und nahm von ihm Abschied. Der Fuchs sprach auch ein Lebewohl, sagte, daß sie sich in kurzer Zeit wiedersehen würden, und verschwand im Wald.
Der Knabe machte nun hurtige Füße und eilte auf das Schloß, daß ihm der Schweiß über die Wangen rann. Jubelnd sprang er zur Frau und brachte ihr die schönste Blume der Welt. Diese hatte aber keinen kleinen Schrecken, als der Bub heil und gesund zurückkam. Eine desto größere Freude hatte aber der Graf, als er den so herzlich geliebten, guten Knaben, den er schon verloren glaubte, wiedersah. Er herzte und küßte ihn und ließ ihm zu essen und zu trinken bringen, was der Tisch nur zu tragen vermochte. Als der Knabe sich gestärkt und ausgeruht hatte, da führte ihn der Graf mit sich auf sein Zimmer, nahm ihn dann bei der Hand und sprach zu ihm: »Du bist mein größter Wohltäter, denn du hast mir das Leben gerettet. Ich will nicht undankbar sein und dir deine Tat gräflich belohnen. Wenn du mir noch ein Rätsel, das ich dir geben werde, lösen kannst, so werde ich dich zu meinem Erben einsetzen und deine Schwester zu meiner Frau machen.«
Wie der Phönix, der sich in einem prächtigen Vogelhaus im Zimmer befand, dies hörte, fing er zu singen an:
»Gib nur dem Sohn das Gut,
Doch heirat nicht dein eignes Blut!«
Der Gesang des Phönix wurde aber nicht beachtet, und der Knabe verlangte die Aufgabe zu hören. Als der Junge auf seinem Begehren bestand, sprach der Graf: »Binnen drei Tagen sollst du mir sagen, warum ich so traurig bin.«
Die Frage kam zu unerwartet, und der Knabe wußte sich keinen Rat. Zwei Tage lang sann er umsonst auf die Lösung dieser Frage und konnte keine Antwort finden. Als er keinen Rat wußte, erinnerte er sich an den Fuchs und lief alsbald in den Wald hinaus. Er war noch nicht weit gegangen, als ihm der Fuchs begegnete. Er grüßte ihn und legte ihm das Rätsel, das ihm der Graf aufgegeben hatte, vor.
Darauf antwortete der Fuchs: »Sag dem Grafen, ihn mache die Sorge, daß er seine Frau zu voreilig verurteilt habe, so schwermütig.« Dann nahm er von dem Knaben Abschied, legte die Vorderfüße auf dessen Schultern, leckte ihm den Mund und bat ihn, recht bald wiederzukommen. Der Knabe versprach ihm dies hoch und teuer, und dann trabte das Tier in den Wald zurück.
Der Knabe eilte auch auf das Schloß zurück und lief stracks zum Grafen. »Kannst du nun dein Rätsel lösen?« forschte der Graf.
»Ja«, antwortete der Knabe. »Die Sorge, daß Ihr die Frau zu voreilig verurteilt habt, macht Euch so trüb und schwermütig.«
Als der Graf dies gehört hatte, fühlte er tief, daß der Knabe die reinste Wahrheit sagte, und sprach zu ihm: »Du hast recht und bist ein so kluges Kind, daß man niemand deinesgleichen finden kann. Du sollst deshalb mein Erbe sein, und deine Schwester will ich als meine Braut zum Altar führen.«
Der Phönix war wieder im Zimmer und hörte diese Worte. Da begann er wieder zu singen:
»Gib nur dem Sohn das Gut,
Doch heirat nicht dein eignes Blut!«
Wie der Graf dies hörte, war er nicht wenig überrascht, denn es schien ihm gar absonderlich, daß ein Vogel sprechen könnte. Er staunte noch lange und fragte endlich den Knaben, wie er zu diesem Wundervogel gekommen war. Dieser erzählte ihm, wie er auf Befehl der Schloßfrau den Vogel holen mußte und welche Abenteuer er auf dieser Fahrt bestanden habe. Da kam dem Grafen dies alles und die Rede des Vogels so wunderlich vor, daß er auf der Stelle seine Schwägerin zu sich kommen ließ und ihr den Vorgang mit dem Vogel erzählte. Als sie die Reime, die der Phönix gesungen hatte, hörte, war sie sehr betroffen und wurde bald rot wie Glut, bald bleich wie Wachs. Sie glaubte, ihre Frevel seien verraten, fiel vor dem Grafen auf die Knie und bekannte ihm alles, was sie verschuldet hatte.
Es schien nun sonnenklar, daß der Knabe und das Mädchen die Kinder des Grafen waren. Er umarmte seine wiedergefundenen Lieben, drückte sie an die Brust, küßte und liebkoste sie. Dabei weinte er so vor Freude, daß eine Träne der anderen folgte.
Nachdem die erste Freude des Wiedersehens vorüber war, ging der Graf ernst und feierlich auf seine Schwägerin zu und sprach das Todesurteil über sie aus, das auch alsbald vollstreckt wurde.
Der Graf und seine Kinder lebten nun glücklich beisammen. Da dachte eines Tages der junge Graf wieder an den Fuchs, dem er all sein Glück zu verdanken hatte. Er nahm nun Hut und Waffen und ging in den Wald, um dort seinen Wohltäter aufzusuchen. Er war noch nicht lange gegangen, als ihm der Fuchs schon entgegenkam, ihm die Hände leckte und recht freundlich tat. Der Fuchs ging wieder als Wegweiser voraus, und der junge Graf folgte ihm. Es ging weit, weit in den Wald hinein, bis sie zu einer schönen Wiese kamen. Da machte der Fuchs plötzlich halt und sprach mit bittender Stimme: »Ich habe dir schon viel Gutes erwiesen, nun tue auch mir etwas zum Dank.«
Wie der junge Graf dies hörte, war er gleich bereit, alles, sei es auch noch so schwer, für seinen Wohltäter zu tun, und fragte ihn, was er wolle.
Da antwortete der Fuchs: »Ich bitte dich bei allem, was dir heilig ist, schlage mich tot!«
Der Graf war über diese unerwartete Rede betroffen und sprach: »Wie sollte ich das tun und dich, dem ich alles verdanke, töten können?«
Der Fuchs ließ aber von seinem Begehren nicht ab und bat inständig, er möchte ihn doch erschlagen. Da konnte der Grafensohn nicht länger den Bitten widerstehen, nahm sich ein Herz, ergriff in Gottes Namen einen Prügel und versetzte mit abgewandtem Gesicht dem Tier einen Schlag auf den Kopf.
Kaum hatte er dies getan, so hörte er einen Freudenschrei, und als er umsah, erblickte er eine bildschöne Frau vor sich. Sie eilte mit offenen Armen auf ihn zu, umarmte, küßte und herzte ihn. Wie er dastand und nicht wußte, wie ihm geschah und er große Augen darob machte, öffnete sie den Mund und sprach: »Lieber Sohn, wie sollte ich dir genug meinen Dank und meine Freude ausdrücken können! Du bist es ja, der mich von der Verwünschung meiner bösen Schwester befreit hat.«
Dem Grafen war nun alles klar, und als er seine erlöste Mutter vor sich sah, kannte er kein Maß des Glückes mehr, er weinte vor Freude, und in seinem Herzen schlug und pochte es wie in einer Schmiede. Nachdem die erste Freude vorüber war, dachten sie erst an die Ihrigen. Froh eilten sie dann dem Schloß zu, wo sie den Grafen und die Grafentochter im Garten fanden. Da hättest du die Freude sehen sollen, als der edle Herr seine totgeglaubte schöne Frau wiedersah und in seine Arme schloß!
Da gab es nun ein Fest, wie seit Menschengedenken keines gefeiert worden ist.
Seitdem lebte die Grafenfamilie glücklich beisammen, teilte Freude und Wohl, bis sie der Tod nach langer, langer Zeit schied.
(mündlich aus Obermiemingen)
[Österreich: Ignaz und Joseph Zingerle: Kinder und Hausmärchen aus Süddeutschland]