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Märchenbasar

Der weiße Wolf

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Ein König ritt jagen in einem großen Walde, darinnen er sich verirrte, und er mußte manchen Tag wandern und manche Nacht, fand immer nicht den rechten Weg und mußte Hunger und Durst leiden. Endlich begegnete ihm ein kleines schwarzes Männlein, das fragte der König nach dem rechten Weg. „Ich will dich wohl führen und geleiten“, sagte das Männlein, „aber du mußt mir auch etwas dafür geben, du mußt mir das geben, was dir aus deinem Hause zuerst entgegen kommt.“

Der König war froh und sprach unterwegs: „Du bist recht brav, Männchen, wahrlich, und wenn mein bester Hund mir entgegenlief, so wollt ich dir ihn doch gern zum Lohne geben“. Das Männlein aber erwiderte: „Deinen besten Hund, den mag ich nicht, mir ist was andres lieb.“

Wie sie nun beim Schlosse ankamen, so sah des Königs jüngste Tochter durchs Fenster ihren Vater geritten kommen und sprang ihm fröhlich entgegen. Da sie ihn aber in ihre Arme schloß, sprach er: „Ei, wollt ich doch, daß lieber mein bester Hund mir entgegen gekommen wäre!“

Über diese Rede erschrak die Königstochter gar sehr und weinte und rief: „Wie das, mein Vater? Ist dir dein Hund lieber denn ich, und sollte er dich froher willkommen heißen?“

Aber der König tröstete sie und sagte: „O liebe Tochter, so war es ja nicht gemeint!“ und erzählte ihr alles.

Sie aber blieb ganz standhaft und sagte: „Es ist besser so, als daß mein lieber Vater umgekommen wäre im wilden Walde.“

Und das Männchen sagte: „Nach acht Tagen hole ich dich“. Und nach acht Tagen richtig, da kam ein weißer Wolf in das Königsschloß, und die Königstochter mußte sich auf seinen Rücken setzen, und heisa, da ging’s durch dick und dünn, bergauf und ab, und die Königstochter konnte das Reiten auf dem Wolf nicht aushalten und fragte: „Ist’s noch weit?“

„Schweig! Weit, weit ist’s noch zum gläsernen Berge – schweigst du nicht, so werf ich dich herunter!“ Nun ging es wieder so fort, bis die arme Königstochter wieder zagte und klagte und fragte, ob es noch weit sei. Und da sagte ihr der Wolf die nämlichen drohenden Worte und rannte immer fort, immer weiter, bis sie zum dritten Male die Frage wagte, da warf er sie auf der Stelle von seinem Rücken herunter und rannte davon.

Nun war die arme Prinzessin ganz allein in dem finstern Walde und ging und dachte, endlich werde ich doch einmal zu Leuten kommen. Und endlich kam sie an eine Hütte, da brannte ein Feuerchen, und da saß ein altes Waldmütterchen, das hatte ein Töpfchen am Feuer. Und da fragte die Königstochter: „Mütterchen, hast du den weißen Wolf nicht gesehen?“

„Nein, da mußt du den Wind fragen, der fragt überall herum, aber bleibe erst noch ein wenig hier und iß mit mir. Ich koche hier ein Hühnersüppchen.“ Das tat die Prinzessin, und als sie gegessen hatten, sagte die Alte: „Nimm die Hühnerknöchelchen mit dir, du wirst sie gut gebrauchen können.“ Dann zeigte ihr die Alte den Weg nach dem Winde.

Als die Königstochter bei dem Winde ankam, fand sie ihn auch am Feuer sitzen und sich eine Hühnersuppe kochen, aber auf ihre Frage nach dem weißen Wolf antwortete er ihr: „Liebes Kind, ich habe ihn nicht gesehen, ich bin heute einmal nicht gegangen und wollte mich einmal hübsch ausruhen. Frage die Sonne, die geht alle Tage auf und unter, aber erst mache es wie ich, ruhe dich aus und iß mit mir, kannst hernach auch alle die Hühnerknöchlein mit dir nehmen, wirst sie wohl gut brauchen können.“

Als dies geschehen war, ging die Kleine nach der Sonne zu, und es ging da gerade wieder wie beim Winde, die Sonne kochte sich gerade eine Hühnersuppe an sich selbst, daher es damit sehr geschwind ging, hatte auch den weißen Wolf nicht gesehen und lud die Prinzessin zum Mitessen ein. „Du mußt den Mond fragen, denn wahrscheinlich läuft der weiße Wolf nur des Nachts, und da sieht der Mond alles.“

Als nun die Königstochter mit der Sonne gegessen und die Knöchlein aufgesammelt hatte, ging sie weiter und fragte den Mond. Auch er kochte Hühnersuppe und sagte: „Es ist fatal, ich habe letzte Nacht nicht geschienen oder bin zu spät aufgegangen, ich weiß gar nichts von dem weißen Wolf.“

Da weinte das Mädchen und rief;: „O Himmel wen soll ich nun fragen?“

„Nun, nur Geduld, mein Kind“, sagte der Mond. „Vor Essen wird kein Tanz, setze dich und iß erst die Hühnersuppe mit mir und nimm auch die Knöchelchen mit, du wirst sie wohl brauchen. Etwas Neues weiß ich doch; im gläsernen Berge das schwarze Männchen – das hält heute Hochzeit, der Mann im Mond ist auch dazu eingeladen.“

„Ach, der gläserne Berg, der gläserne Berg! Dahin wollte ich ja eben, dahin hat mich ja der weiße Wolf tragen sollen!“ rief die Königstochter.

„Nun, bis dorhin kann ich dir schon leuchten und den Weg zeigen“, sagte der Mond, „sonst könntest du dich leichtlich irren, denn ich zum Beispiel bestehe ganz und gar aus lauter gläsernen Bergen. Nimm immer deine Knöchlein hübsch alle mit.“ Das tat die Prinzessin, aber in der Eile vergaß sie doch ein Knöchlein.

Bald stand sie an dem gläsernen Berge, aber er war ganz glatt und glitschig, da war nicht hinauf zu kommen, aber da nahm die Königstochter alle Hühnerknöchlein von der alten Waldmutter, von den Wind, von der Sonne und von dem Monde und machte sich daraus eine Leiter, die wurde sehr lang, aber o weh, zuletzt fehlte noch eine einzige Sprosse, noch ein Glied. Da schnitt sich die Prinzessin das oberste Gelenk von ihrem kleinen Finger ab, und so tat es gut, und sie konnte nun rasch zum Gipfel des gläsernen Berges klimmen. Oben war eine große Öffnung, da führte eine schöne Treppe hinunter, und es war alles voll Glanz und Pracht, und da waren ein Saal voll Hochzeitsgästen und viele Musikanten und reichbesetzte Tafeln.

Und da saß das schwarze Männlein, und an seiner Seite saß eine Dame, die war seine Braut, das schwarze Männlein aber schien traurig. Und der Königstochter tat es auch so weh, so weh, daß sie nun zu spät kam und daß das schwarze Männlein so traurig war, und sie dachte bei sich, ich will ein Lied vom weißen Wolf singen, vielleicht kennt er mich dann – denn er hatte sie noch gar nicht angesehen, folglich auch nicht wiedererkannt. Und da stand eine Harfe an der Wand, welche die Prinzessin gut spielte, die nahm sie nun und sang:

„Deinen besten Hund, den mag ich nicht,

Mir ist was andres lieb!

Die jüngste Königstochter.

Der weiße Wolf, der lief davon,

Sie weiß nicht, wo er blieb;

Die jüngste Königstochter.“

Da horchte das schwarze Männlein hoch auf, aber die Prinzessin fuhr fort zu spielen und zu singen.

„Sie ist dem Wolfe nachgereist,

schnitt ab ihr Fingerglied,

Die jüngste Königstochter.

Nun ist sie da – du kennst sie nicht,

Traurig singt dir dies Lied

Die jüngste Königstochter.“

Da sprang das schwarze Männlein von seinem Sitze auf und war plötzlich ein ganz schöner junger Prinz und eilte auf sie zu und schloß sie in seine Arme.

Alles war Zauber gewesen. Der Prinz war in das alte Männlein und in den weißen Wolf und in den gläsernen Berg hinein verzaubert so lange, bis eine Prinzessin, um zu ihm zu gelangen, sich’s ein Glied von ihrem kleinen Finger kosten lassen würde, wenn das aber bis zu einer gewissen Zeit nicht geschähe, so müsse er eine andre freien und ein schwarzes Männlein bleiben all sein Leben lang. Nun war der Zauber gelöst, die andre Braut verschwand, der entzauberte Prinz heiratete die Königstochter, reiste darauf mit ihr zu ihrem Vater, der sich herzlich freute, sie wiederzusehen, und lebten alle glücklich miteinander bis an ihr Ende. Sollte dieses aber nicht erfolgt sein, so ist es einigermaßen wahrscheinlich, daß sie noch heute leben.

Ludwig Bechstein

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