Es war einmal ein Zwerg, der war kleiner als alle anderen. Seine rote Zipfelmütze fiel ihm in das Gesicht, sein weißer Bart reichte fast bis zu den Füßen und die blaue Zwergenhose musste er gleich dreimal umschlagen, dass sie nicht auf der Erde schleifte.
„Du bist zu nichts nütze!“, schimpften die größeren Zwerge. „All unsere Arbeit ist dir zu schwer, jedes Werkzeug zu groß – was sollen wir mit dir wohl anfangen?“
Pieno, so war der Name des Winzlings, wurde sehr traurig, als er diese harten Worte hörte. Er konnte ja nichts dafür, dass er nicht recht gewachsen war, wäre viel lieber ein ganz normaler Zwerg gewesen wie alle anderen.
Bedrückt beschloss er, einen langen Spaziergang zu machen, um seine Sorgen ein wenig beim Anblick der hübschen Häuser und des klaren Flüsschens zu vergessen. Dass es schon dunkelte, störte den Zwerg nicht, denn er hatte Augen, die funkelten wie Katzenaugen und sahen auch in tiefster Nacht gut. Außerdem würde der volle Mond scheinen und der Welt sein mildes Licht schenken.
Pieno beschloss, seine Angel mit auf den Spaziergang zu nehmen. Vielleicht könnte er ja wenigstens ein Fischlein fangen, um die Gemüter der Großzwerge oder seinen knurrenden Magen zu besänftigen.
Ach, wenn doch alles anders wäre! Wie gerne hätte er mit dem Oberzwerg Suuro oder als Schmied gearbeitet, wäre gar Krämer geworden – doch der Amboss der Schmiede ging ihm bis weit über den Kopf, die Ladentheke war gar noch höher. Ja, was sollte man mit einem wie ihm anfangen?
Traurig ging Pieno bis an den Fluss. Er schlurfte über die kleine Brücke, ohne auch nur einen einzigen Kiesel über das Wasser schnellen zu lassen. In Gedanken versunken, ließ er sich dann am Ufer gegenüber der Siedlung nieder und grübelte vor sich hin, was denn nun aus ihm werden sollte. Vielleicht müsste er sogar die Zwergenstadt verlassen und anderswo sein Glück suchen? Aber er hing doch so sehr an seinem kleinen Haus; vor allem sein Gärtchen war ihm so lieb, dass der Kleine sich nicht davon trennen wollte. Ach, es war hoffnungslos!
Lustlos warf Pieno seine Angel aus, und während der Schwimmer lustig auf dem Wasser tanzte, weinte der Angler dicke Tränen. Von Ferne hörte er, wie die Großzwerge fröhlich schwatzend und lachend zu ihrem allabendlichen Spaziergang aufbrachen. Da fühlte er sich noch einsamer.
Als die bunte Schar näher kam, begann sich der Mond zu zeigen und stieg langsam am Himmel empor. Energisch wischte Pieno die Tränen fort und blinzelte die letzten Restchen aus den Augen, denn er wollte nicht, dass die Großen seinen Kummer sahen.
Schon kamen sie bei ihm an und in diesem Moment erreichten die hellen Mondstrahlen das dunkle Wasser. Was war das? Was geschah da? Pieno schrie auf und zugleich hörte er entsetzte Rufe aus den Kehlen der anderen.
„Die Stadt, unsere liebe Stadt!“, japste der Oberzwerg in höchstem Schrecken. „Sie ist ins Wasser gefallen und wird ertrinken. Mit ihr versinken dann all unsere Lieben und die ganzen Schätze.“
„Hilfe!“, rief der Schmied, der vom Anblick der Siedlung im Wasser so bestürzt war, dass ihm nichts anderes mehr einfiel.
„Oh, Unglück und Not!“, jammerte der Krämer. „Wir müssen etwas tun!“
Doch keiner hatte die leiseste Idee, wie er die Stadt retten könnte. Alle standen starr wie angewurzelt am Ufersaum.
Stumm sahen die Großzwerge sich an, Not lag auf ihren bärtigen Gesichtern. Auch Pieno war völlig verstört. Sein Haus, sein Gärtchen, die er doch nie hatte verlassen wollen – alles versank. Das durfte nicht geschehen! Aber- wieso saß er dann dort herum und tat nichts dagegen? Zwar war er winzig und alle nannten ihn nutzlos, doch liebte er die Heimat genau wie alle anderen. Er musste Zwergenhausen retten!
Endlich durchfuhr den Kleinen eine Idee: Mit voller Kraft warf er seine Angel aus, dorthin, wo der Ort im Mondschein versank. Das Wasser kräuselte sich, als Pieno aus Leibeskräften zu ziehen begann.
„Ich habe sie!“, jubelte er. „Fasst mit an!“
Die Großzwerge schüttelten ungläubig die Köpfe und bewegten sich nicht vom Fleck. Die Angelrute bog sich, die Schnur war zum Zerreißen gestrafft.
„So helft doch mit!“, flehte Pieno mit Tränen in der Stimme. „Sonst versinkt unsere Stadt ganz!“
Endlich kam Bewegung in die Menge: Der Schmied stellte sich hinter den Winzling und zog an seinen Schultern. Plötzlich umfasste der Krämer den Schmied, der Oberzwerg den Krämer, bis alle Großzwerge in einer langen Reihe an Pieno hingen und mit ihm an der Angel zogen.
„Hau-ruck, hau-ruck!“, kommandierte der Oberzwerg. Dem Kleinen lief der Schweiß über das Gesicht. Auch Großzwergenschweiß floss in Strömen. Die Angel quietschte und bog sich noch weiter durch. Doch dann – plötzlich gab es ein saugendes Geräusch, eine Wolke schob sich vor den Mond und – da stand sie, die Zwergenstadt, sicher an ihrem Ufer wie schon seit tausend Jahren.
Alle fielen sich in die Arme – ja alle! Auch Pieno wurde gedrückt und geherzt.
„Der Kleinste ist der Größte!“, rief der Oberzwerg überglücklich. „Ohne dich hätten wir die Stadt nie retten können, Winzling! Lass uns heimgehen und ein wenig Zwergenwein trinken. Du, Pieno, hast den größten Schoppen verdient. Ab morgen bist du als Stadtangler angestellt und wirst unter uns immer ein gutes Auskommen haben!“
So kam es, dass bis auf den heutigen Tag ‚Winzling‘ ein Kosewort unter den Zwergen ist und das ganze Völkchen oft und gerne Fisch isst.
Quelle: Maria Sassin