Es war einmal ein armer Mann, der besaß drei Töchter. Eines Nachts saßen sie bei der Arbeit: Die eine raute Wolle auf, die zweite spann, und die dritte, die Jüngste, flickte ihren alten gesteppten Kaftan. In jener Nacht beschloss Schah Abbas, sich zu verkleiden, und ging mit seinem Nasir durch die Stadt, um in Erfahrung zu bringen, was sich in seinem Reich tat. Durch einen Türspalt fiel ein schmaler Lichtstreifen. Schah Abbas schlich sich auf Zehenspitzen an die Tür, um das Gespräch in der Stube zu belauschen. In dem Augenblick fragten die beiden Schwestern die Älteste: „Was ist dein größter Wunsch auf der Welt?“ – „Ich wünschte mir, dass mich der Schah zu seiner Frau macht“, entgegnete sie. „Und ich wäre gern die Frau des Nasirs“, fügte die mittlere Tochter hinzu. „Ich wünschte mir, dass der Schah mein Sklave wäre“, meinte lächelnd die jüngste Schwester. Als Schah Abbas die Worte der Jüngsten vernahm, wurde ihm beklommen zumute. Er merkte sich das Haus und ging mit dem Nasir von dannen.
Am nächsten Morgen sandte der Schah seinen Nuker nach den drei Schwestern aus. Sie wurden sofort zu Schah Abbas geführt, der, von seinen Nasiren umgeben, aufweichen Kissen thronte. Der Schah fragte die älteste Schwester: „Welchen Wunsch hast du gestern Abend geäußert?“ – „Ich sagte, dass ich mir Schah Abbas zum Manne wünschte“, erwiderte sie. „Schön, ich werde dich heiraten.“ Dann wandte sich der Schah an die mittlere Schwester. „Was hauest du für einen Wunsch?“ – „Ich wünschte mir deinen Nasir zum Ehemann“, entgegnete sie. Der Schah wandte sich an seinen Nasir. „Heirate dieses Mädchen.“ – „Und was für einen Wunsch hattest du?“ fragte er schließlich die jüngste Schwester. Die entgegnete ohne Scheu: „Ich habe gesagt, wenn mir ein Wunsch erfüllt würde, so sei es dieser: Ich möchte, der Schah wäre mein Sklave.“ Schah Abbas befahl seinem Nasir, der jüngsten Schwester das Haupt abzuschlagen. Der Nasir führte das Mädchen aus der Stadt, um den Willen des Schahs zu erfüllen, doch er war klug und sprach zu ihr: „Du hast den Befehl des Schahs vernommen. Doch ich kann nicht so grausam sein. Verlasse dieses Reich! Bleib nicht in diesem Land! Wenn du je zurückkehren solltest, werden wir beide des Todes sein.“ Nach diesen Worten verließ der Nasir das Mädchen.
Die Jungfrau legte Männerkleidung an und begab sich auf die Wanderung. Sie zog über Berge, durch Täler, vorbei an Bächen und Flüssen und gelangte endlich an einen Berg. Ihn krönten drei Kuppen, die so schön waren, dass sie ihr wie künstlich erschienen. Sie erklomm eine der Kuppen, ließ sich dort nieder und gab sich ihren Gedanken hin: Wie soll ich nur weiterleben? Schah Abbas wird nicht ewig regieren. Wenn du mich erschaffen hast, Allah, warum soll ich dann mein Leben ausschließlich in die Hände dieses Schahs legen? Das Mädchen beschloss, den Weg fortzusetzen. Da rollten unter ihren Füßen plötzlich Silbermünzen wie kleine Steine. Aufmerksam musterte das Mädchen die drei Gebirgskuppen und dachte bei sich: Vielleicht liegt in allen dreien Geld versteckt? Sie ging zur zweiten Bergkuppe und entdeckte dort ebenfalls Münzen, nur waren sie aus purem Gold. An der dritten stieß sie auf Kupfermünzen. Das Mädchen füllte ihre Tasche mit zwei Handvoll Goldmünzen, bedeckte den Schatz mit frischer Erde und wanderte weiter.
Morgens gelangte sie zu einer Stadt. Vor dem Stadttor begegnete sie einer alten Frau und sprach sie an: „Sag, wo finde ich in eurer Stadt eine Herberge?“ Die Alte, die das Mädchen in ihrer Männerkleidung für einen Jüngling hielt, erwiderte: „Mein lieber Sohn, bei uns ist es Brauch, dass ein Fremdling bei dem Menschen nächtigt, dem er als erstem begegnet, wenn er die Stadt betritt.“ Also folgte das Mädchen der alten Frau. Die Greisin lebte in bitterster Armut. Alles, was sie besaß, war ihr Sohn und ein Esel. Sie ernährten sich davon, dass sie auf dem Esel in den Wald ritt, Reisig sammelte, es auf den Basar schaffte und dort verkaufte. Von dem Erlös bestritten die beiden ihr kärgliches Dasein.
Nach drei Tagen sprach das Mädchen zu der alten Frau: „Mutter, schick deinen Sohn heute nicht in den Wald!“ Entgegnete die Greisin: „Wie kann ich deinen Wunsch erfüllen, lieber Junge! Wenn ich ihn nicht in den Wald schicke, müssen wir Hunger leiden.“ – „Ich will uns Geld für Brot besorgen.“ Sie ging mit der Greisin und ihrem Sohn auf den Basar. Dort kaufte sie ihm ein neues Gewand und der alten Frau ein Kleid, dazu einen Korb voll Essen. Fortan vergaß die Frau sogar, ihre Nachbarinnen zu grüßen, und ihr Sohn versorgte nicht einmal mehr den Esel.
Eines Tages fragte das Mädchen die alte Frau: „Welchem Schah gehört eigentlich der Berg dort im Süden?“ Die Greisin antwortete: „Dort verläuft die Grenze zwischen unserem Reich und dem von Schah Abbas.“ – „Wie wunderschön sind diese drei Bergkuppen! Geh zum Gericht und versuche, sie zu erwerben. Um das nötige Geld sei unbesorgt!“ Die Alte erwiderte: „Mein Sohn, woher soll ich soviel Geld nehmen? Und was fange ich mit den kahlen Bergkuppen an, wenn ich nicht einmal weiß, wie ich mich selbst durchbringen soll?“ – „Zerbrich dir darüber nicht den Kopf! Geh nur zum Gericht und sage, dass du alt bist, für deinen Sohn eine Hütte bauen und ihn mit einem armen Mädchen verheiraten willst. Sag weiter, dass du die Hütte dort zwischen den Kuppen noch zu deinen Lebzeiten sehen möchtest. Aber achte darauf, dass sie dir eine Urkunde mit Stempel und Unterschrift geben!“ Die Alte ging zum Gericht und bat: „Naib, möge Allah dir ein langes Leben bescheiden. Du bist mächtig und kannst mich töten oder mir Milde erweisen. Ich möchte gern jenen Berg dort im Süden kaufen.“ Als sie das gesagt hatte, lachten alle und fragten: „Was willst du denn mit dem Berg dort?“ – „Allah schenke euch Gesundheit. Ich habe einen Sohn und möchte ihm, solange ich noch lebe, eine kleine Hütte bauen und ihn mit einem armen Mädchen verheiraten, damit er glücklich wird.“ – „Schön. Mag der Berg dir gehören. Geh und baue ihm dort ein Häuschen!“ antworteten sie ihr. Die alte Frau sagte: „Ich möchte ihn gern gegen ein gewisses Entgelt kaufen. Alles auf der Welt ist schließlich veränderlich, und der morgige Tag kann anders sein als der heutige.“ Da lachten sie wieder über die Greisin. „Dann zahle uns dreihundert Kurusch.“
Die Alte war einverstanden, ging nach Hause und erzählte alles dem verkleideten Mädchen. „Mein Sohn, sie verlangen dreihundert Kurusch. Was machen wir nur?“ Das Mädchen zahlte der alten Frau dreißig Münzen aus und sagte: „Bring ihnen das Geld und lass dir eine Urkunde ausstellen.“ Die Greisin ging, zahlte das Geld, nahm die Kaufurkunde und kehrte heim.
Am nächsten Tag traf das Mädchen alle Vereinbarungen über den Bau eines Schlosses. Drei Monate später stand es, aus Marmor errichtet, mit Gold verziert, inmitten eines herrlichen Gartens. Das Mädchen warb ein Heer aus fünfhundert Reitern an und kaufte für sie fünfhundert Streitrosse sowie hervorragende Waffen. Noch immer merkten die Greisin und ihr Sohn nicht, dass das Mädchen kein Jüngling, sondern eine schöne Jungfrau war.
Die Kunde von dem herrlichen Schloss kam auch Schah Abbas zu Ohren. Er vermochte seine Neugier kaum zu bezähmen. Gar zu gern wollte er das Wunder mit eigenen Augen schauen. Er befahl, die Pferde anzuschirren, und begab sich mit seinem Gefolge auf die Reise. Gegen Morgen hatten sie das Schloss fast erreicht. Wie im Märchen lag das Bauwerk vor ihnen. Doch als die Morgenröte den Palast überflutete, glaubten sie, eine Feuersbrunst wüte in seinen Mauern. Verstört schickte der Schah seinen Leibwächter aus, um in Erfahrung zu bringen, was dort auf der Bergkuppe vor sich ging. Als sich der Nuker dem Schloss näherte, glaubte er zu erblinden, so grell waren die Sonnenstrahlen, die sich im Marmor spiegelten. Er nahm seinen schwarzen Gürtel ab, verband sich damit die Augen und näherte sich dem Schloss. Als er zurückkehrte, berichtete er seinem Herrn: „Bei Allah, mein Schah, es ist das Schloss, von dem wir vernommen haben, aber es brennt nicht. Die Sonne spiegelt sich in seinem Mauerwerk.“ Der Schah befahl: „Geh hin und melde, dass Schah Abbas eingetroffen ist und mit seinem Nuker das herrliche Schloss besichtigen will.“ Der Nuker ging geradewegs zum Palast, verbeugte sich tief vor der Torwache und sagte: „Ich bin der Leibwächter von Schah Abbas. Er hat mich ausgesandt, um zu erfahren, ob er mit seinem Nasir euern Palast besichtigen darf.“ – „Wir werden unseren Gebieter um Erlaubnis fragen.“ Der Nuker trat vor das verkleidete Mädchen und meldete: „Schah Abbas ist mit seinem Nasir gekommen. Er möchte, wenn du es gestattest, den Palast besichtigen.“
Das Mädchen erfreute diese Nachricht, und es dachte bei sich: Natürlich, es soll mir recht sein. Laut aber ordnete sie an: „Mag er näher treten! Doch sag ihm, dass es bei uns Sitte ist, keinen vorzulassen, ohne ihn zuvor nicht ins Bad geladen zu haben. Bis das Bad bereit ist, halte sie am Tor auf.“ Als Schah Abbas mit seinem Gefolge angeritten kam, war das Bad schon gerichtet. Das Mädchen trat in Männerkleidung den Gästen zur Begrüßung entgegen und trug einen Korb mit frischer Wäsche in der Hand. „Folgt mir, verehrte Gäste“, sagte sie freundlich. Sie führte sie zum Bad und ging sich ebenfalls waschen. Dann legte sie frische Kleidung an und erwartete die Gäste vor dem Bad. Den Wäschekorb hatte sie auf einen Tisch gestellt. Endlich traten die Gäste heraus. „Nun folgt mir bitte“, lud das Mädchen sie ein. Mechanisch griff Schah Abbas nach dem Korb und folgte ihr mit seinem Nasir wie ein Sklave. Als sie die Räume des verkleideten Mädchens betraten, ließ sie Tee und einen Imbiss für die Gäste auftragen. Schah Abbas dachte bei sich: Was habe ich für ein ärmliches Reich. Ich besitze weder so ein schönes Schloss noch habe ich einen so angenehmen Gesprächspartner, wie es dieser junge Hausherr ist.
Als es Abend wurde, ließ das Mädchen den Gästen wiederum schmackhafte Speisen reichen und allen ein Ruhelager bereiten, um sich dann zurückzuziehen. Nachdem sie Frauengewänder angelegt hatte, kehrte sie zu Schah Abbas zurück und setzte sich ihm gegenüber. Da verschlug es ihm die Sprache. „Was schweigst du, Schah Abbas?“ fragte das Mädchen. „Ich bedaure, dass sich der Hausherr zurückgezogen hat und ich vor der Nacht wohl nicht mehr Gelegenheit haben werde, mit ihm sprechen zu können.“ – „Den Hausherrn wirst du überhaupt nicht mehr zu sehen bekommen, Schah Abbas. Jener Hausherr, der euch empfangen hat, das war ich. Ich habe mit euch im Bad das Gespräch geführt und euch dann hierher begleitet. Und du hast mir meinen Korb getragen. Ich bin die Schwester von der, die du zur Frau nahmst, und jener, die dein Nasir freite. Erinnerst du dich, du befahlst, mich zu enthaupten. Wie kränkend das für dich auch sein mag, eure Nasire sind häufig klüger als ihr. Ich will es dir beweisen, Schah Abbas. Vor langer Zeit saßen wir drei Schwestern abends bei der Arbeit, und jede von uns äußerte ihren geheimsten Wunsch. Meine älteste Schwester wünschte sich, deine Frau zu werden. Die mittlere sagte, dass sie deinen Nasir heiraten möchte, und ich wünschte mir, dass ihre Männer mir als Sklaven dienen. Ich konnte mich nicht abfinden, dass nur die Gebieter als Menschen gelten, alle anderen aber keinen roten Heller wert sind. Deshalb äußerte ich diesen Wunsch. Du aber befahlst deinem Nasir kurzerhand, mich zu ermorden. Doch kein Mensch darf sterben, bevor ihm nicht seine Stunde geschlagen hat! Die Wünsche meiner Schwestern hast du erfüllt, und sie sind zufrieden. Auch ich bin zufrieden, wenn mir ein Gebieter wie du meinen Korb trägt, als sei er mein Sklave.“
Der verblüffte Schah Abbas schlug sich an die Stirn. „Möge Allah dir deine Sünden vergeben, meine Tochter! Vergib auch du mir meine Dummheit!“ Das Mädchen erwiderte: „Da du dein unedles Verhalten zugibst, will ich dir verzeihen.“ Und sie zog sich in ihre Gemächer zurück. In dieser Nacht fand Schah Abbas keinen Schlaf. Schließlich rief er den Nasir zu sich und erzählte ihm alles, was er von dem Mädchen erfahren hatte. Freude überkam den Nasir, aber er fürchtete, sich zu verraten. Erstaunt fragte er: „Wie ist ein solches Wunder möglich?“ – „Du hast doch gesagt, du habest das Mädchen getötet“, bedrängte ihn der Schah. „Wie konnte sie am Leben bleiben?“ – „Vielleicht ist es eine andere?“ Der Schah schüttelte das Haupt: „Nein, sie ist’s. Sie hat alles erzählt, wie es gewesen ist. Bei Allah, von ihr ist alles zu erwarten. Wollen wir lieber fort von hier, bevor es zu spät ist.“ Morgens meldete die Palastwache dem Mädchen, dass die Gäste versucht hätten, aus dem Schloss zu fliehen. „Gut, dass du sie aufgehalten hast“, lobte ihn das Mädchen. „Führe sie mir in Fesseln vor!“ Als die Gefangenen vor das Mädchen traten, sprach sie: „Schah Abbas, du hast das Alter eines Ochsen, aber das Herz eines Spatzen. Ich bin nicht so undankbar wie du und gestatte dir, auf dem Weg, den du gekommen bist, heimzukehren.“
Als sie die Gäste entlassen hatte, zog sie sich ein Kleid an und rief die alte Frau zu sich. Die Greisin war erfreut, endlich eine junge Frau in diesem Schloss zu erblicken. Insgeheim überlegte sie nur: Wie mag sie hierher gekommen sein? Sprach das Mädchen zu der Greisin: „Komm, Mutter, wir wollen uns setzen. Du hast mich sicher nicht erkannt.“ – „In der Tat! Hast du dich so verkleidet, mein Sohn? Woher hast du dieses Kleid?“ Das Mädchen entgegnete: „Wenn ich nicht als Mann verkleidet gewesen wäre, hätte ich dann dieses Schloss erbauen und meinen Wunsch verwirklichen können? Verzeih mir, ich bin kein Mann, sondern ein verkleidetes Mädchen. Gestern hat sich mein Wunsch erfüllt. Nun kann ich deinen Sohn heiraten.“ Die alte Frau war außer sich vor Freude. Sie schickte sofort in die Stadt nach dem Mullah und dem Kadi, um die jungen Leute vermählen zu lassen. Auf der Hochzeit ging es laut und lustig zu: Sieben Tage und sieben Nächte blies man die Surna und schlug die Trommel. Das Paar lebte glücklich und in Freuden, und stets hatte es satt zu essen und zu trinken.
Eines Tages, als die beiden in trauter Unterhaltung beisammen saßen, erzählte die junge Frau: „Unser Vater hat uns drei Schwestern die Bedingung gestellt, nur Männer zu heiraten, die ein Handwerk beherrschen. Ich habe weder dich noch deine Mutter je gefragt, welches Handwerk du gelernt hast. Wie ich annehme, beherrschst du gar keines.“ – „Du sagst es“, gab ihr Mann zu. „Ich beherrsche kein Handwerk.“ Da schlug seine junge Frau vor: „Ich kann dir beibringen, Teppiche zu knüpfen. Wer weiß, was uns widerfahren mag. Schließlich ist nichts auf dieser Welt von Ewigkeit. Deshalb rate ich dir zu dieser Arbeit.“ Ihr Mann war einverstanden. Er erlernte das Teppichknüpferhandwerk in zwei Monaten. Schließlich beherrschte er es so gut, dass er siebenmal schönere Teppiche knüpfte als seine Frau, und weit und breit rühmte man ihn als besten Teppichknüpfer im Land.
So lebten sie zwei Jahre.
Eines Tages schwang sich der junge Ehemann auf sein Ross und ritt in den Wald auf Jagd. Eine schwarze Antilope kam ihm vors Gewehr. Als der junge Mann sah, wie schön das Tier war, beschloss er, es nicht zu erlegen, sondern lebendig zu fangen, und galoppierte hinter der Antilope her. Doch er verlor das Tier aus den Augen und verirrte sich im Wald. Endlich erblickte er ein Licht und ritt darauf zu. „He, Bruder! Tritt heraus!“ rief er aus vollem Halse. Auf seinen Ruf erschienen zwei Männer. Der eine packte sein Pferd beim Zaum, der andere wies ihm den Weg. Doch kaum hatte der Jüngling die Stube betreten, stürzte er in eine tiefe Grube. „Ich sterbe!“ schrie er. „Schrei nicht! Es kommt dir sowieso niemand zu Hilfe“, ließ sich eine Stimme in der Grube vernehmen. „Wer seid ihr?“ fragte der Jüngling. Mehrere Stimmen erwiderten: „Wir sind wie du hierher geraten. Die Leute, die uns herein warfen, sind mit allen vierzig Sünden beladen. Ihr Handwerk ist es, Menschen in diese Grube zu werfen, sie auszurauben und umzubringen.“ Auch des Jünglings letztes Stündlein schien eines Tages geschlagen zu haben. Als ihn die Wegelagerer aus der Grube zogen, um ihn zu töten, fragte er: „Brüder, weshalb ermordet ihr mich? Braucht ihr Geld?“ – „Ja“, erwiderten sie. „So sollt ihr wissen, dass ich schöne Teppiche knüpfen kann. Jeder meiner Teppiche ist fünfhundert bis sechshundert Kurusch wert. Ich kann euch jeden Tag einen Teppich knüpfen, und jeden Tag werden fünfhundert Kurusch in eurer Tasche klimpern. Wenn ihr mich hingegen tötet, um mir die Kleider abzunehmen, bringt euch das nicht einmal ein warmes Mittagsmahl ein.“
Die Räuber merkten, dass der junge Mann Recht hatte, und schenkten ihm das Leben. Dann gaben sie ihm Wollfäden, und er knüpfte einen Teppich. Den gab er den Wegelagerern. Der Ausgesandte verkaufte den Teppich in der Stadt und kehrte mit fünfhundert Kurusch heim. Da knüpfte der junge Meister einen zweiten Teppich, der in der Mitte seinen Namenszug trug. In den verschlungenen Ornamenten aber beschrieb er, was ihm widerfahren war. Als er den Teppich fertig hatte, sagte er: „Geht in die und die Gegend, und ihr werdet ein herrliches Schloss erblicken. Dort zahlt man für meine Teppiche sechshundert Kurusch.“ Die Räuber brachten den Teppich zum Schloss. Am Tor sagten sie zur Palastwache: „Wir wollen einen Teppich verkaufen.“ – „Gut“, sagte die Wache, „wir zeigen ihn unserer Herrin.“ Als die junge Frau den Teppich sah, erkannte sie sofort den Namenszug ihres Mannes und las seine Leidensgeschichte. Sie brach in Tränen aus, warf sich der Greisin an die Brust und sagte: „Wir haben ihn mit Fackeln auf dem Feld gesucht, er aber sitzt in einer dunklen Grube.“ Umgehend befahl sie der Schlosswache: „Geht und fragt, wer diesen Teppich geknüpft hat und wo er zu finden ist.“ Doch die Wegelagerer wollten ihr Geheimnis nicht preisgeben. Da rief die junge Frau: „Entweder ihr sprecht, oder ich lasse euch den Kopf abschlagen!“ Die Räuber erschraken und verrieten ihr Geheimnis: „Dort und dort steht ein Haus, in dem ist ein Fremdling versteckt. Er hat diesen Teppich geknüpft.“
Da wurden die Sturmglocken geläutet, und es versammelte sich das Heer. Die Fremdlinge, die den Teppich gebracht hatten, wurden in den Kerker geworfen, die Krieger bestiegen ihre Streitrosse und begaben sich an den gewiesenen Ort. Sie umzingelten das Haus, riefen den Räuberhäuptling und befahlen, umgehend den Teppichknüpfer ans Tageslicht zu führen. Als die Frau sah, in welch erschreckendem Zustand sich ihr Mann befand, geriet sie in Zorn und befahl ihren Kriegern, alle Wegelagerer zu töten. Die Frau befreite ihren Mann, kehrte mit ihm auf ihr Schloss zurück, und sie lebten weiter in Glück und in Freuden. Eines Tages sagte der Mann voller Dankbarkeit zu seiner Frau: „Wie gut, meine Liebste, dass du mich dieses Handwerk gelehrt hast, sonst wäre ich des Todes gewesen.“
Quelle:
(Märchen aus Dagestan)