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Märchenbasar

Der Zauberspiegel

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In einem Land in einem Reich lebte ein Kaufmann, der war Witwer. Er hatte einen Sohn und eine Tochter und sein eigener Bruder wohnte auch bei ihm. Einmal wollte der Kaufmann eine Reise in fremde Länder machen, um verschiedene Waren einzukaufen. Sein Sohn sollte ihn begleiten, die Tochter aber zu Hause bleiben. Er rief seinen Bruder zu sich und sagte ihm:
»Lieber Bruder, ich übergebe dir mein ganzes Haus und bitte dich inständig, sieh streng nach meiner Tochter. Lehre sie schreiben und lesen und erziehe sie sittsam!«
Hierauf nahm der Kaufmann Abschied von Bruder und Tochter und machte sich auf den Weg. Die Kaufmannstochter war schon erwachsen und von so unbeschreiblicher Schönheit, daß man auf der ganzen Welt nicht ihresgleichen finden konnte.
Dem Onkel kamen böse Gedanken in den Kopf, die ließen ihm Tag und Nacht keine Ruhe; da drang er schließlich in das Mädchen: »Begehe eine Sünde – oder du wirst deines Lebens nicht mehr froh werden. Sollte ich auch selbst darüber zugrunde gehen – ich würde dich verderben …«
Einmal ging das Mädchen ins Bad, da war der Onkel hinter ihr her. An der Tür ergriff sie ein Becken mit kochendem Wasser und übergoß ihn vom Kopfe bis zu den Füßen.
Er war drei Wochen krank und als er noch kaum gesund war, erfaßte sein Herz ein schrecklicher Haß gegen sie. Er sann nach, wie er den Spott vergelten, die Schmach rächen könnte. Er überlegte lange Zeit und schrieb dann seinem Bruder einen Brief: »Deine Tochter macht schlimme Dinge. Sie treibt sich in fremden Häusern herum, kommt nachts nicht nach Hause und gehorcht mir nicht.« Der Kaufmann erhielt diesen Brief, las ihn und wurde sehr zornig. Er sagte zu seinem Sohn:
»Deine Schwester hat dem ganzen Hause Schande gemacht! Ich will kein Erbarmen mit ihr haben, reise sofort heim, töte die Übeltäterin und bring mir auf dieser Messerspitze ihr Herz. Rechtschaffene Leute sollen nicht lachen über unser Haus!«
Der Sohn nahm das scharfe Messer und reiste heim. In aller Stille kam er in seine Vaterstadt zurück, sagte es niemand, sondern erkundigte sich allseits:
»Wie lebt die und die Kaufmannstochter?«
Einstimmig lobten sie alle. »Still ist sie und bescheiden, gottesfürchtig und gehorsam!« Als er das alles erfahren hatte, ging er zu seinem Schwesterchen. Die freute sich sehr, sprang ihm entgegen, umarmte und küßte ihn.
»Lieber Bruder, was führt dich her, wie geht es unserm Väterchen?«
»Ach liebes Schwesterchen! Freu dich nicht allzu schnell. Nichts Gutes bringt meine Ankunft. Väterchen sandte mich zu dir, er befahl mir, deinen weißen Leib zu zerstücken, dein Herz herauszureißen und es ihm auf dieser Messerspitze zu bringen.«
Die Schwester brach in Tränen aus:
»Mein Gott, weshalb diese Grausamkeit?«
»Deshalb«, sagte der Bruder und erzählte ihr von des Onkels Brief.
»Ach Brüderchen, ich bin ganz unschuldig!«
Der Kaufmannssohn ließ sich erzählen, was und wie alles geschehen war, und sprach:
»Weine nicht, Schwesterchen, ich weiß selbst, daß du unschuldig bist, und obwohl unser Vater befahl, keinerlei Rechtfertigung von dir anzunehmen, will ich dich doch nicht töten. Mach dich lieber auf, geh fort aus dem Vaterhaus, zieh in die weite Welt – Gott wird dich nicht verlassen!«
Die Kaufmannstochter überlegte nicht lange, nahm Abschied von ihrem Bruder und machte sich auf den Weg. Wohin? – das wußte sie selber nicht. Der Bruder erschlug den Hofhund, nahm sein Herz heraus, spießte es auf das scharfe Messer und brachte es dem Vater.
»So habe ich, aus Kindespflicht, nach deinem Befehl die Schwester getötet«, sagte er und gab ihm das Hundeherz.
»Ei nun, einem Hunde einen Hundetod«, entgegnete der Vater.
War es kurz oder lang? – Das schöne Mädchen irrte in der weiten Welt umher und gelangte endlich in einen sehr dichten Wald. Durch die hohen Bäume sah man den Himmel fast nicht.
In diesem Walde irrte sie umher, bis sie zufällig auf eine weite Wiese kam. Auf dieser Wiese stand ein weißsteinernes Schloß, umgeben von einem eisernen Gitter. »Ich werde in das Schloß gehen«, dachte das Mädchen. »Es gibt nicht nur schlechte Menschen, vielleicht geht es mir dort gut!«
Sie trat ein, doch sie traf keine Menschenseele. Schon wollte sie deshalb umkehren, als zwei starke, mächtige Ritter in den Hof sprengten, die traten ins Schloß und sahen das Mädchen.
»Sei gegrüßt, schönes Mädchen«, sagten sie.
»Seid gegrüßt, ehrbare Ritter«, sagte sie.
»Sieh, Bruder,« sprach der eine zum andern, »wir trauerten, daß niemand uns den Haushalt führe, da sendet uns Gott eine Schwester.« Die Ritter veranlaßten die Kaufmannstochter, bei ihnen zu bleiben und nannten sie Schwester. Sie übergaben ihr die Schlüssel und machten sie zur Hausfrau über alles. Dann nahmen sie ihre scharfen Säbel, zückten sie einer gegen des andern Brust und schworen:
»Wagt es einer von uns, die Schwester zu kränken, so soll ihn ohne Erbarmen dies Schwert hier fällen.«
So blieb das schöne Mädchen bei den zwei Rittern. Ihr Vater aber kaufte ausländische Waren, kehrte heim und nahm bald darauf wieder eine Frau. Diese Frau war unbeschreiblich schön und hatte einen Zauberspiegel; wenn sie da hinein schaute, erblickte sie alles, was anderswo vorging. Einmal gingen die Ritter auf die Jagd und befahlen ihrem Schwesterchen:
»Laß niemand zu dir herein, ehe wir wieder heimkommen.« Sie nahmen Abschied und ritten fort. Zu derselben Zeit sah die Kaufmannsfrau in ihren Spiegel, bewunderte ihre Schönheit und sprach:
»Nein, es gibt niemand Schöneren als mich auf dieser Welt.«
Aber der Spiegel gab zur Antwort:
»Du bist schön – zweifellos, aber du hast eine Stieftochter, die lebt bei zwei Rittern im dichten Wald, die ist noch viel schöner als du.«
Diese Rede gefiel der Stiefmutter nicht und sie berief sofort ein böses, altes Weib zu sich.
»Da«, sagte sie zu ihr, »hast du einen Ring, geh in den dichten Wald, dort steht ein weißsteinernes Schloß, dort lebt meine Stieftochter. Begrüße sie und gib ihr diesen Ring! Sag ihr, den schickt dir dein Bruder zur Erinnerung.«
Die Alte nahm den Ring und ging hin, wie ihr befohlen war. Sie kam zu dem weißsteinernen Schloß, da sah das schöne Mädchen die Alte und lief ihr entgegen, um Kunde von ihrer Heimat zu erlangen:
»Sei gegrüßt, Mütterchen, woher führt dich Gott? Sind alle gesund und froh daheim?«
»Sie leben und gedeihen, dein Bruder bat mich zu sehen, wie es dir geht und schickt dir diesen Ring zum Angedenken; hier, schmücke dich damit.« Das Mädchen war so froh, so froh darüber, daß man es gar nicht beschreiben kann. Sie führte die Alte in ihr Zimmer, bewirtete sie mit allerhand Essen und Trinken und trug ihr viele Grüße an ihren Bruder auf.
Nach einer Stunde ging die Alte wieder fort; das Mädchen bewunderte den Ring und steckte ihn an ihren Finger – da fiel sie sogleich tot nieder.
Als die Ritter heimkehrten und den Palast betraten, begrüßte sie die Schwester nicht. Was war das? Sie blickten in ihr Schlafgemach, dort lag sie tot, sprach kein Wörtchen. Die Ritter trauerten, daß die Allerschönste eh man’s geglaubt, der Tod geraubt.
»Wir müssen sie neu kleiden und in einen Sarg legen«, sagten sie, hoben sie auf und bemerkten dabei den Ring an des Mädchens Finger.
»Sollen wir sie wirklich mit diesem Ring begraben? Behalten wir ihn uns lieber als Andenken.«
Kaum hatten sie ihr den Ring abgestreift, so öffnete sie die Augen, seufzte und kehrte zum Leben zurück.
»Was geschah mit dir, Schwesterchen? war jemand bei dir?«
»Es kam eine alte Frau, die ich von zu Hause kenne, die brachte mir diesen Ring.«
»Ach wie ungehorsam bist du! Wir geboten dir nicht umsonst, in unserer Abwesenheit niemand einzulassen. Nimm dich in acht und tue es ein zweitesmal nicht wieder.«
Nach einiger Zeit sah die Kaufmannsfrau wieder in ihren Spiegel und erfuhr durch ihn, daß ihre Stieftochter nach wie vor am Leben und schön sei.
Sie rief die Alte, gab ihr ein Band und sprach:
»Geh zu dem weißsteinernen Schlosse, wo meine Stieftochter lebt, und bring ihr das Geschenk, sag der Bruder schicke es ihr.«
Die Alte traf wieder das schöne Mädchen, kramte hunderterlei Neuigkeiten aus und gab ihr das Band. Das Mädchen war sehr erfreut und schlang das Band um den Hals und in demselben Augenblicke fiel sie tot auf ihr Bett zurück.
Die Ritter kamen von der Jagd zurück und fanden die Schwester tot, sie wollten ihr neue Kleider anlegen, aber kaum hatten sie ihr das Band gelöst, als sie die Augen öffnete, seufzte und zum Leben zurückkehrte.
»Schwesterchen, was war mit dir? War wieder die alte Hexe hier?«
»Ja, die Alte kam, erzählte mir von daheim und brachte dieses Band.«
»Ach, wir baten dich ja schon einmal, laß niemand ein, so lange wir fort sind.«
»Verzeiht, liebe Brüder, ich hielt es nicht aus, ich wollte die Nachrichten aus der Heimat hören.«
Als einige Tage vergangen waren, sah die Kaufmannsfrau in den Spiegel und da lebte die Stieftochter noch immer. Sie rief wieder die Alte und sagte:
»Da hast du ein Haar! Geh zur Stieftochter und töte sie damit ganz sicher.«
Die Alte wartete auf den Augenblick, da die Ritter auf der Jagd waren und ging zu dem weißsteinernen Schlosse.
Das schöne Mädchen sah sie vom Fenster, hielt es nicht aus und sprang ihr entgegen: »Sei gegrüßt, Alte, wie geht es dir?«
»Ei, ich lebe, mein Täubchen, wandere durch die Welt, und kam hieher, dich wiederzusehen.«
Das schöne Mädchen führte sie ins Zimmer, bewirtete sie mit mancherlei Speise und Trank, fragte nach allen Verwandten und sandte Grüße an den Bruder.
»Gut,« sprach die Alte, »ich werde die Grüße ausrichten, aber, mein Täubchen, hast du niemand, der dir die Haare ordnet? Laß mich dir Zöpfe flechten.«
»Gerne, Mütterchen!«
Die Alte kämmte sie und flocht ihr einen Zopf, in den sie das Zauberhaar einband.
Kaum war das geschehen, fiel das Mädchen tot hin. Die Alte lachte böse und eilte rasch davon, damit niemand sie antreffe oder erspähe.
Die Ritter kamen zurück und fanden die Schwester tot. Sie betrachteten sie lange, lange, ob nicht etwas Fremdes an ihr wäre, konnten aber nichts finden. Da machten sie einen kristallnen Sarg, so wunderbar schön, wie man es sich weder vorstellen noch ausmalen, nicht einmal im Märchen beschreiben kann. Sie trugen ihn in den Mittelsaal, errichteten darüber einen großen Baldachin aus rotem Samt mit Quasten aus Brillanten und Fransen aus Gold und steckten auf zwölf kristallene Säulen zwölf Lampen.
Sie weinten bittere Tränen und fühlten großes Leid.
»Wozu sollen wir weiter leben auf dieser Erde? Gehen wir hin und töten wir uns.«
Sie umarmten einander zum Abschied, stiegen auf einen hohen Balkon, faßten einander bei der Hand und sprangen hinab. Sie fielen auf spitze Steine und endeten ihr Leben.
Viele, viele Jahre vergingen, da ritt einmal ein Zarewitsch auf die Jagd. Er kam in einen dichten Wald, ließ seine Hunde nach allen Seiten los, sonderte sich von seinen Jägern und ritt allein auf einem verwachsenen Pfade weiter. Wie er so weiter ritt, kam er zu einer Lichtung, auf der stand ein weißsteinernes Schloß.
Der Zarewitsch stieg vom Pferde, ging die Treppe hinauf und besah die Zimmer. Überall fand er reiches, kostbares Gerät, aber die Hand der Hausfrau war nicht daran zu sehen. Alles schien seit langem verlassen, alles lag verödet. In einem Saale stand ein kristallner Sarg und darin lag ein totes Mädchen von unbeschreiblicher Schönheit. Ihre Wangen waren gerötet, auf ihren Lippen lag ein Lächeln, gerade als schliefe sie nur. Der Zarewitsch trat an den Sarg und blieb stehen, als fesselte ihn eine unsichtbare Macht. So stand er vom Morgen bis zum späten Abend, konnte die Augen nicht abwenden. Sein Herz war erregt, die Schönheit des Mädchens hielt ihn fest, die wunderbare, die unerhörte Schönheit, die man auf der ganzen Welt nicht wieder finden konnte.
Die Jäger suchten ihn im ganzen Walde, bliesen die Hörner und riefen ihn. Der Zarewitsch stand aber vor dem Sarge und hörte nichts. Die Sonne ging unter, die Dämmerung brach an, da erst kam er zu sich, küßte das tote Mädchen und ritt zurück.
»Ach, Hoheit, wo waret Ihr?« fragten die Jäger.
»Ich jagte einem Wild nach und verirrte mich ein wenig.«
Am nächsten Tag, beim ersten Morgengrauen, zog der Zarewitsch auf die Jagd, sprengte in den Wald, trennte sich von den Jägern und gelangte auf demselben Pfade zu dem weißsteinernen Palaste. Wieder stand er den ganzen Tag vor dem Sarg aus Kristall, wandte die Augen nicht von dem schönen Mädchen und kehrte erst spät am Abend heim. Am dritten und vierten Tage war es ebenso und so verstrich eine ganze Woche.
»Was ist mit unserem Zarewitsch geschehen?« fragten die Jäger.
»Brüder, wir müssen ihm folgen und erfahren, was vorgeht.«
Der Zarewitsch ritt auf die Jagd, ließ die Hunde los, trennte sich von seinem Gefolge und wandte sich zum weißsteinernen Schlosse. Die Jäger folgten ihm aber sogleich, kamen auch auf die Wiese und ritten in den Schloßhof ein. Sie fanden den kristallnen Sarg, in dem das Mädchen lag, und sahen den Zarewitsch vor ihm stehen.
»Hoheit, umsonst habt Ihr Euch nicht diese ganze Woche im Walde verirrt. Jetzt können auch wir nicht mehr von dannen und bleiben bis zum Abend hier stehen.«
Sie bildeten einen Kreis um den Kristallsarg, betrachteten bewundernd die Schönheit des Mädchens und standen vom Morgen bis zum Abend auf einem Fleck.
Als es ganz dunkel war, sprach der Zarewitsch zu den Jägern:
»Brüder, erweist mir einen großen Dienst! Nehmt den Sarg mit dem toten Mädchen und tragt ihn in mein Schlafzimmer, aber tut es ganz still und heimlich, damit niemand etwas davon erfahre. Ich belohne jeden von euch mit so viel Geld, wie ihr noch niemals geschenkt erhalten habt.«
»Es ist dein Wille uns zu belohnen, Zarewitsch, wir sind auch ohne Lohn froh, dir dienen zu können«, sagten die Jäger und hoben den Sarg auf. Sie trugen ihn in den Hof und luden ihn auf die Pferde, so wurde er heimlich in des Zaren Schloß, auf des Zarewitsch Schlafzimmer, gebracht.
Seit diesem Tage ging der Zarewitsch nicht mehr auf die Jagd. Er blieb stets zu Hause, verließ sein Zimmer nicht und gestattete niemand es zu betreten.
»Was ist mit unserm Sohne geschehen?« dachte die Zarin, »schon seit langer Zeit sitzt er immer zu Hause, verläßt sein Zimmer nicht und läßt niemand ein. Traf ihn ein Kummer oder ein Schmerz? Ist er krank geworden? Ich muß da einmal nachsehen!«
Sie kam zu ihm in sein Schlafzimmer und sah den Kristallsarg. Sie fragte und forschte: »woher und wieso?« und gab alsogleich den Befehl, das Mädchen zu begraben in der feuchten Mutter Erde, wie es Brauch und Sitte war. Der Zarewitsch weinte und ging in den Garten, um die schönsten Blumen zu pflücken. Er trug sie in sein Zimmer und wollte sie dem Mädchen in ihren blonden Zopf flechten, um ihr das Haupt mit Blumen zu schmücken. Dabei fiel plötzlich das Zauberhaar aus ihrem Zopfe.
Das schöne Mädchen öffnete die Augen, seufzte, erhob sich aus dem Sarg und sagte: »Ach, wie lange habe ich geschlafen!«
Der Zarewitsch war unsagbar froh, nahm sie bei der Hand und führte sie zu Vater und Mutter:
»Gott hat sie mir beschert, ich kann keine einzige Minute ohne sie leben. Väterchen und du, Mütterchen, erlaubt mir, daß ich sie heirate.«
»Heirate sie, lieber Sohn. Wir widersetzen uns Gott nicht und so eine Schönheit findet man auch auf der ganzen Welt nicht wieder!«
Bei einem Zar gibt es keine Hindernisse. Am selben Tage noch wurde ein Ehrenmahl gefeiert und dann war gleich die Hochzeit.
Der Zarewitsch war mit der Kaufmannstochter verheiratet und überglücklich. Nach einiger Zeit wollte sie mit ihm ihren Vater besuchen und der Zarewitsch hatte nichts dagegen. Er nahm Abschied von seinem Vater.
»Gut, meine lieben Kinder, reiset,« sagte der Zar, »du Zarewitsch geh übers Land, lerne bei dieser Gelegenheit das Reich und die Ordnung überall kennen. Deine Frau soll zu Schiff den geraden Weg nehmen.«
Ein Schiff ward ausgerüstet, Matrosen angeworben und einem General der Befehl über das Ganze gegeben. Die Zarewna bestieg das Schiff und fuhr ins offene Meer hinaus, der Zarewitsch aber reiste auf dem festen Lande. Als der General die wunderschöne Zarewna sah, wurde er begierig auf ihre Schönheit und begann ihr nachzustellen.
»Was sollte ich fürchten?« dachte er. »Sie ist ja jetzt in meiner Macht; was ich will, das tue ich!«
»Liebe mich,« sagte er zu der Zarewna. »Liebst du mich nicht, werfe ich dich ins Meer!«
Die Zarewna wandte sich ab, gab ihm keine Antwort und weinte nur bitterlich. Ein junger Matrose hatte des Generals Reden gehört und sprach:
»Weine nicht, Zarewna! Wechseln wir die Kleider. Bleib auf dem Deck, ich gehe an deiner Stelle in die Kajüte. Der General kann mich ruhig ins Wasser werfen – ich fürchte mich nicht, ich komme schon zurecht, ich schwimme in den Hafen. – Das Land ist Gott sei Dank jetzt nahe.«
Sie tauschten die Kleider: die Zarewna ging aufs Deck und der Matrose legte sich in ihr Bett. Nachts erschien der General in der Kajüte, packte den Matrosen und warf ihn ins Meer. Der schwamm aber und erreichte gegen Morgen das Ufer.
Das Schiff lief in den Hafen ein und die Matrosen gingen ans Land. Die Zarewna auch, sie lief auf den Markt und kaufte das Gewand eines Koches, das zog sie an und sie verdingte sich in der Küche bei ihrem eigenen Vater. Kurz darauf kam der Zarewitsch gereist.
»Sei gegrüßt, Väterchen«, sagte er zu dem Kaufmann. »Nimm deinen Schwiegersohn gut auf. Ich habe deine Tochter geheiratet!«
»Wo ist sie denn? Sie ist nicht hier.«
Da kam der General hinzu und sagte:
»Hoheit, das war so: Die Zarewna stand auf dem Deck, da erhob sich ein Sturm, alles schwankte, ihr schwindelte, sie fiel ins Meer und ertrank im Augenblick, so geschah das Unglück.«
Der Zarewitsch weinte und trauerte, aber vom Grunde des Meeres kehrt niemand wieder. Es war ihr wohl so bestimmt gewesen. Der Zarewitsch blieb einige Zeit bei seinem Schwiegervater zu Gast und gebot dann seinem Gefolge, die Abreise vorzubereiten. Der Kaufmann gab ein großes Abschiedsmahl für ihn und dazu versammelten sich viele Kaufleute, Bojaren und alle Verwandten. Der Onkel der Zarewna war da, die böse Alte und der General. Man trank und ergötzte sich, da schlug ein Gast vor:
»Hört, werte Herren, immer nur trinken und trinken führt zu nichts Gutem, laßt uns Märchen erzählen.«
»Gut, gut«, schrien sie von allen Seiten. »Wer beginnt?«
Dieser und jener wußte nichts, dem dritten hatte der Wein das Gedächtnis getrübt. Was war da zu machen?
»Ich habe einen Küchenjungen« rief da der Verwalter des Kaufmanns, »der viele Länder gesehen und Wunder erlebt hat, und ein Meister ist im Erzählen von Geschichten.«
»Er soll kommen!«
Der Kaufmann rief den Küchenjungen und sagte ihm:
»Erheitere meine Gäste.«
Der Küchenjunge, die Zarewna, antwortete:
»Was soll ich erzählen? Ein Märchen oder eine wahre Geschichte?«
»Eine wahre Geschichte!«
»Das kann ich, aber nur unter der Bedingung, daß ich jeden, der mich unterbricht, mit dem Kochlöffel schlagen darf.« Alle waren damit einverstanden und die Zarewna erzählte, was sie selbst erlebt hatte.
»Also, es war einmal eine Kaufmannstochter. Ihr Vater verreiste und übertrug seinem Bruder die Aufsicht über das Mädchen. Der Onkel verschaute sich in ihre Schönheit und ließ ihr keine Minute Ruhe …«
Als der Onkel hörte, daß von ihm die Rede ging, sagte er: »Das ist nicht wahr, ihr Herren!«
Da schlug ihn die Zarewna mit dem Löffel auf den Kopf und sagte:
»So, das hältst du nicht für Wahrheit!«
Nun kam die Reihe an die Stiefmutter mit dem Zauberspiegel und an die böse, alte Frau, die zu den Rittern im weißsteinernen Palaste gekommen war, da riefen aber beide wie aus einem Munde: »Was für ein Unsinn, das ist unmöglich.«
Die Zarewna erzählte weiter, wie sie in dem Kristallsarg gelegen hatte, wie der Zarewitsch sie fand und zu neuem Leben erweckt hatte. Sie sprach von ihrer Hochzeit, und daß sie auszog, ihren Vater zu besuchen.
Der General ahnte, daß etwas nicht in Ordnung wäre und wollte von dem Zarewitsch Abschied nehmen.
»Erlaubt mir nach Hause zu gehen, ich habe so starkes Kopfweh.«
»Das macht nichts, bleib nur noch ein wenig.«
Die Zarewna erzählte von dem General und der konnte es nicht aushalten, sondern rief:
»Das ist alles nicht wahr!«
Die Zarewna schlug ihn, warf ihr Küchengewand ab und entdeckte sich dem Zarewitsch.
»Ich bin kein Küchenjunge, ich bin dein eheliches Weib.«
Der Zarewitsch war sehr froh und der Kaufmann auch. Sie umarmten und küßten sie und dann saßen sie zu Gericht.
Die böse alte Frau und der Onkel wurden vor den Toren der Stadt erschossen, die zaubernde Stiefmutter band man an den Schweif eines Hengstes, der trug sie ins freie Feld und zerstreute ihre Knochen über Sträucher und Schluchten. Den General steckte der Zarewitsch ins Gefängnis und verlieh seine Stelle dem Matrosen, der die Zarewna vom Unglück bewahrt hatte.
Von da an lebten der Zarewitsch, seine Frau und ihr Vater noch lange glücklich beisammen.

[Rußland: A.N. Afanaßjew: Russische Volksmärchen]

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