Es war einmal ein Mädchen, das wurde gemeinhin von allen nur die Schwarze genannt. Dabei war ihre Haut doch so weiß wie frisch gefallener Schnee oder ein Blatt aus meinem Zeichenblock. Doch ihre Haare glänzten so schwarz wie die Holzkohle, die ihr Vater brannte, denn der war ein armer Köhler in einem dunklen Wald in einem dunklen Tal zwischen hohen und harten Felsen. Dort wuchs die Schwarze auf und freute sich ihres Lebens zwischen den Tieren, die vor der kargen Hütte das Gras kurz hielten. Greta, die Ziege, Franzl, das Schwein, Gloria, die Königin der Hennen, und Siegfried, der stolze Hahn, waren ihre vertrautesten Freunde.
Dann und wann stieg der Vater mit seiner Tochter, der Schwarzen, in das Dorf hinunter. Während er dort seinen Geschäften nachging, Vorräte kaufte und mit den Bauern über das Holz verhandelte, saß die Schwarze am Brunnen des Dorfes und schaute dem Treiben auf dem Markt zu. Sie liebte es, nur dazusitzen, auf dem steinernen Brunnenrand, und zu schauen, wie Bekannte und Fremde handelten und wandelten. Spielleute kamen und brachten die Sommerluft zum Schwingen mit dem Klang ihrer Saiten und der Fülle ihrer Stimmen, Kaufleute breiteten ihre Schätze aus aller Welt auf dem kleinen Markt aus. Hin und wieder fuhr vor dem Gasthaus eine Kutsche vor, und zarte Frauen stiegen heraus in bunten, glänzenden Kleidern um sich zu erfrischen.
Da liebte es die Schwarze, im Schatten der Linde beim Brunnen zu träumen, und sie sah sich aus solcher feinen Kutsche steigen, sah sich tanzen zur Melodie der Spielleute. In ihren schwarzen Haaren strahlte dann nicht mehr das Weiß und Gelb einer bescheidenen Gänseblume, sondern Diamanten und Edelsteine glitzerten in ihrer Krone, und ein schöner, junger Prinz mit blonden Haaren und in samtenen Wams fiel vor ihr auf seine Knie.
Doch diese Träume bekamen der Schwarzen nicht gut. Wenn sie hinter dem gebückten Rücken ihres Vaters wieder hinaufstieg zur armseligen Hütte des Köhlers, dann zehrte in ihrem Bauch ein großer Hunger, er nagte und brannte und wollte nicht vergehen, wie viele Kanten trocke-nen Brotes sie auch aß. Wie ein Feuer glomm es in ihrer Brust, wie ein Rauch verschleierte es ihre Augen. Ach, hätte sie doch auch schöne Kleider, ach, spielte doch die Musik nur für ihre flinken Füße, ach, käme doch der Prinz, sie zu erlösen. Doch wenn sie vor der Hütte saß, dann kam nur Franzl, das Schwein, und suhlte sich vor ihren Füßen im Staub.
Als sie so auf der Schwelle des Köhlerhäuschens saß, und die Sehnsucht zerschnitt ihr das Herz, da senkte sich ein Schlaf über sie und ein Traum hüllte sie ein. Sie sah sich in ihrem geflickten Rock und mit baren Sohlen vor dem Portal der Dorfkirche. Kaum hatte sie ihren Fuß auf die steinigen, ausgetretenen Stufen gesetzt, da schwang die schwere Tür auf, und der Gang in der Mitte der Kirche spannte sich vor ihr aus. Der rote Läufer zog sie durch die leeren Reihen der Kirchenbänke nach vorn, wo der Schmerzensmann an seinem Kreuze litt, dem sie nie ins Gesicht schauen mochte, weil es so voller Leiden war, daß sie hätte weinen müssen.
„Komm her zu mir“, sprach der Mann der Schmerzen. Er hatte eine gute, eine sanfte Stimme, die in der Kühle der Kirche wie ein Sonnenstrahl wärmte. „Du bist des Köhlers kleine Schwarze, nicht wahr?“ Sie nickte stumm ohne aufzublicken. „Ich will deinen Hunger stillen und deinen Durst löschen“, sagte der Gekreuzigte von seinem Marterholz herab. „Wie soll das gehen?“ fragte sie schüchtern, „Mein Vater ist arm, wir haben nicht mehr als unser Brot und etwas darauf.“ „Ich weiß es“, sprach der Leidende verständnisvoll, „wir teilen unsere Armut. Aber ich will dich reich machen. Ich werde dir einen Schatz zu eigen geben, wie ihn noch kein Mensch je besaß.“
Die Schwarze wagte kaum Luft zu holen, so lag es ihr schwer auf der Brust. Wie Orgelbrausen hörte sie das Schlagen ihres Herzens. „Schau her“, sagte der Mann vom Kreuz und streckte ihr seine Rechte entgegen. Sie hob für einen Wimpernschlag ihren Blick. Da sah sie das Nagelmal in seiner Hand und darin viele wasserklare Diamanten, deren Funkeln heller war als alle Sterne einer Winternacht. „Schau genau hin“, bat die gute Stimme. Und da gewahrte sie, wie durch das Glitzern der Steine in seiner Hand eine goldene Kutsche fuhr mit sechs Rössern davorgespannt. In der prächtigen Kutsche saß sie, die kleine Schwarze des Köhlers, aber niemand hätte sie wiedererkannt. Sie trug eine purpurrote Robe mit Hermelin besetzt, auf ihren pechschwarzen Haaren thronte eine Krone aus schierem Gold, Rubinen leuchteten blutig rot um ihren schlanken Hals. Und neben ihr saß der schönste Prinz, den ein Mädchen sich träumen kann. „Schau genau hin“, mahnte der Schmerzensmann freundlich. Da hob sie ihre Hände, um ihrem strahlenden Prinzen über seine blonden Locken zu streicheln. Da klirrten an ihren Handgelenken goldene Kettchen. Die Kutschen fuhren vor ein marmornes Schloß und ihr glanzvoller Gemahl bot ihr die Hand um sie hineinzugeleiten. Da klirrten die goldenen Kettchen über ihren zarten Füßen um ihre Fesseln. Auf der Schwelle des Portals zum gläsernen Thronsaal wollte die verzauberte Schwarze ihren Prinzen küssen. Aber noch bevor ihre roten Lippen seine Wange berührten, bemerkte sie den störenden goldenen Reif, der an ihrer kleinen Nase befestigt war. Und sie wurde an diesem Nasenring durch die Menge der Dienstboten und Lakaien geführt, und sie mußte auf den Stufen des Thrones niederhocken, zu Füßen ihres süßen Prinzen. Und für ihn und zu seiner Freude durfte sie singen und tanzen den ganzen Tag, und die Menge jubelte dem Prinzen zu.
„Und nun schau wieder her“, sprach der Gottessohn von seinem Kreuz, und er hielt ihr seine Linke hin. Im blutigen Nagelmal schaute sie nun ein ganz anderes Bild. In einem silbernen Tropfen des Wassers aus der Taufschale sah sie sich, des Köhlers Schwarze, sitzen auf einem Stein neben der schiefen Tür der kleinen Hütte. Zwischen dem kurzen Gras blühten wie Sterne bunte Blumen, Schmetterlinge tanzten schaukelnd im Sommerwind. Zu ihren bloßen Füßen spielten die Hunde, eine Katze schnurrte im Sonnenlicht. Auf ihrem Schoß hielt sie ein kleines Mädchen, und sie sang ihm mit bachklarer Stimme ein Wiegenlied, während die scheckig geflickte Wäsche an der gespannten Leine flatterte und den Takt dazu gab. Als ihr kleines Mädchen sich in Träumen wiegte, stand die Schwarze auf, die Geschäfte ihres Tages zu besorgen. Die Ziege Greta schenkte ihr schäumende Milch, die pelzigen Bienen brachten ihr Honig. Und ehe sie sich’s versah, tanzte sie frei und beschwingt vor ihrer Hütte, warf ihre Beine hoch hinauf, streckte ihre Arme frei in den blauen Himmel, und sie war so leicht wie eine Brise am Sommermorgen.
„Nun triff deine Wahl“, sagte der Mann am Kreuz, „Du kannst aus meiner Rechten oder Linken wählen, es wird dir so widerfahren.“ Sie brauchte nicht einen Atemzug, sich zu entscheiden. Sie ergriff die Linke des Schmerzensmanns und ließ sie nicht mehr los.
Da erwachte die kleine Schwarze des Köhlers aus ihrem Traum. Sie hörte das Summen der fleißigen Bienen, sie sah die Schmetterlinge tanzen im Sonnenlicht, die Hunde dösten vor ihren Füßen, die Katze lag zusammengerollt auf dem Fensterbrett. Da war mit einem Male ihr Hunger vergangen, der Brand in ihrem Herzen erloschen. Aber in der Nacht ihrer Seele ging eine Sonne auf, die heller glänzte als je zuvor.
Als sie wieder einmal hinter ihrem Vater ins Dorf hinabgestiegen war, da sagten die Leute hinter vorgehaltener Hand: Schaut mal, was strahlt die Schwarze des Köhlers! Ihr Lachen leuchtet ja heller als die Sonne! Man sieht in diesem Glanz ja kaum noch die Flicken auf ihrem Rock. Ob sie dort oben in ihrem dunklen Tal einen Schatz gehoben haben?
Und neidisch hörten die Mädchen im Dorf, wie die Schwarze am Brunnen so frei und so glücklich sang, und sie schauten scheel, als sie auch noch anfing, leicht und fröhlich zu tanzen am Rande des Marktplatzes.
Und wenn sie nicht gestorben ist, dann könnt ihr sie finden in ihrem dunklen Tal in ihrem dunklen Wald zwischen hohen und harten Felsen, und ihr werdet ihre Hütte für schöner halten als ein Schloß aus kaltem Marmor, und wenn ihr ganz still seid, damit ihre kleine Tochter nicht aus ihren Träumen schrickt, dann wird des Köhlers Tochter euch ihre Schätze zeigen, die Schätze einer freien Frau.
Quelle: Rudolf Wolter