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Die Ameise

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Während wir rasteten, betrachteten wir gelegentlich die fleißige Ameise bei ihrer Arbeit. Ich fand nichts Neues an ihr – ganz gewiss nichts, was meine Meinung von ihr hätte ändern können. Mir scheint, hinsichtlich ihrer Intelligenz muss die Ameise ein merkwürdig überschätzter Vogel sein. Ich habe sie nun viele Sommer hindurch beobachtet, während ich mich mit nützlicheren Dingen hätte beschäftigen sollen, und ich bin noch keiner lebenden Ameise begegnet, die mehr Verstand zu haben schien als eine tote.
Ich spreche natürlich von der gewöhnlichen Ameise; ich habe keine Erfahrung mit den erstaunlichen schweizerischen und afrikanischen Arten gesammelt, die wählen, stehende Heere besitzen, Sklaven halten und über religiöse Fragen disputieren. Diese besonderen Ameisen mögen ja durchaus so sein, wie sie der Naturforscher schildert, aber ich bin davon überzeugt, dass die Durchschnittsameise ein Schwindel ist. Ihren Fleiß gestehe ich natürlich ein – aber nur ihre Hohlköpfigkeit mache ich ihr zum Vorwurf. Sie geht fouragieren, sie fängt etwas, und was tut sie dann? Nach Hause gehen? Nein, sie geht sonstwohin, nur nicht nach Hause. Sie weiß nicht, wo ihr Zuhause ist. Ihr Zuhause ist vielleicht nur drei Fuß entfernt; egal, sie kann es nicht finden.
Wie gesagt, sie fängt etwas; gewöhnlich ist es etwas, das weder für sie noch für jemand anderen von Nutzen sein kann; meistens ist es siebenmal größer, als es sein dürfte; sie sucht sich die ungeschickteste Stelle aus, um es anzupacken; sie hebt es tatsächlich mit voller Kraft hoch und zieht los – nicht nach Hause, sondern in die entgegengesetzte Richtung; nicht ruhig und vernünftig, sondern mit wahnsinniger Hast, die ihre Kraft vergeudet; sie stößt auf ein Steinchen, und statt es zu umgehen, erklettert sie es rückwärts, wobei sie ihre Beute hinter sich herzerrt, purzelt auf der anderen Seite herunter, springt wutentbrannt auf, klopft sich den Staub von den Kleidern, spuckt in die Hände, schnappt sich zornig ihren Besitz, reißt ihn hierhin, dann dahin, schiebt ihn einen Augenblick vor sich her, dreht sich um und schleppt ihn noch einen Augenblick hinter sich her, wird immer wilder, dann stemmt sie ihn plötzlich hoch empor und rast in einer völlig neuen Richtung davon; stößt auf ein Unkrautpflänzchen; es fällt ihr überhaupt nicht ein, einen Bogen darum zu machen. Nein, sie muss hinaufklettern, und sie klettert hinauf, schleppt ihren wertlosen Besitz bis zur Spitze – was genauso schlau ist, als würde ich einen Mehlsack von Heidelberg nach Paris über den Turm des Straßburger Münsters tragen.
Wenn sie dort oben ankommt, stellt sie fest, dass das nicht der richtige Ort ist, wirft einen flüchtigen Blick auf die Landschaft, klettert oder aber purzelt wieder herunter und zieht wieder los – wie gewöhnlich in einer neuen Richtung. Nach einer halben Stunde kommt sie auf sechs Zoll an die Stelle heran, von der sie ausgegangen ist, und setzt ihre Last ab. Inzwischen hat sie den ganzen Boden auf zwei Yard im Umkreis abgelaufen und alle Steinchen und alle Pflanzen erklettert, auf die sie gestoßen ist.
Jetzt wischt sie sich den Schweiß von der Stirn, streicht sich die Glieder und läuft dann ziellos davon, in ebenso wahnsinnigem Tempo wie zuvor. Sie durchquert im Zickzack ein ziemlich großes Gebiet und stolpert schließlich wieder über ihre alte Beute. Sie erinnert sich nicht, diese jemals zuvor gesehen zu haben; sie hält Ausschau, um zu sehen, wo der Heimweg nicht ist, schnappt ihr Bündel und zieht los. Sie macht dieselben Abenteuer durch wie vorhin; hält endlich an, um auszuruhen, und nun kommt eine Freundin daher. Offensichtlich macht die Freundin die Bemerkung, ein Grashüpferbein vom vorigen Jahr sei eine ganz vortreffliche Errungenschaft, und erkundigt sich, wo sie es herhabe.
Offensichtlich erinnert sich die Besitzerin nicht genau daran, wo sie es herhat, glaubt aber, es „irgendwo hier herum“ herzuhaben. Offensichtlich verpflichtet sich die Freundin, ihr dabei zu helfen, es nach Hause zu befördern. Daraufhin ergreifen sie mit besonders emsigem (Wortspiel unbeabsichtigt) Scharfsinn die entgegengesetzten Enden dieses Grashüpferbeines und fangen an, mit aller Kraft in entgegengesetzte Richtungen zu zerren. Schließlich machen sie Rast und beraten mit einander. Sie kommen zu dem Schluss, dass etwas nicht stimme, sie können aber nicht herauskriegen, was. Dann legen sie wieder los, genau wie vorher. Mit dem gleichen Ergebnis. Es folgen gegenseitige Anschuldigungen. Offensichtlich klagt jede die andere an, der Saboteur zu sein. Sie erhitzen sich, und der Streit endet mit einer Schlägerei. Sie umklammern einander und kauen sich gegenseitig eine Zeit lang auf dem Kiefer herum, dann rollen und purzeln sie auf der Erde umher, bis eine von ihnen einen Fühler oder ein Bein verliert und zwecks Wiederherstellung abdrehen muss.
Sie versöhnen sich und fangen wieder in der gleichen alten, verrückten Weise an zu arbeiten, aber die verstümmelte Ameise ist im Nachteil; sie mag zerren wie sie will, die andere schleppt die Beute davon und sie am anderen Ende gleich noch mit. Statt aufzugeben, hält sie sich fest und schlägt mit den Schienenbeinen gegen jedes Hindernis, das in den Weg kommt. Wenn dann das Grashüpferbein wieder über die ganze alte Strecke hinweggezottelt worden ist, wird es schließlich etwa an der Stelle fallen gelassen, wo es ursprünglich gelegen hatte. Die beiden schwitzenden Ameisen betrachten es nachdenklich und kommen zu dem Schluss, dass vertrocknete Grashüpferbeine ja doch ein armseliger Besitz seien, und dann ziehen sie in verschiedener Richtung ab, um zu sehen, ob sich nicht ein alter Nagel oder etwas anderes auftreiben lässt, das schwer genug ist, um dem Zeitvertrieb zu dienen, und gleichzeitig wertlos genug, um in einer Ameise den Wunsch zu erwecken, es zu besitzen.
Dort am Berghang im Schwarzwald habe ich zugesehen, wie eine Ameise mit einer toten Spinne, die mindestens zehnmal schwerer war als sie selbst, ein solches Theater veranstaltete. Die Spinne war nicht ganz tot, aber zu weit hinüber, um noch Widerstand zu leisten. Sie hatte einen runden, erbsengroßen Leib. Die kleine Ameise – die bemerkte, dass ich zusah – drehte sie auf den Rücken, schlug ihr die Zähne in die Kehle, hob sie hoch und zog energisch mit ihr los, stolperte dabei über kleine Steine, trat der Spinne auf die Beine und stellte sich dadurch selbst ein Bein, zerrte sie rückwärts, schob sie vor sich her, schleppte sie auf sechs Zoll hohe Steine hinauf, statt diese zu umgehen, erkletterte Pflanzen, die zwanzigmal höher waren als sie selbst, und sprang von deren Spitzen hinab – und ließ sie schließlich mitten auf dem Weg liegen, wo sie jede andere alberne Ameise mit Beschlag belegen konnte, die sie haben wollte. Ich maß die Strecke aus, die von dieser Gans zurückgelegt worden war, und kam zu dem Ergebnis, dass das, was sie binnen zwanzig Minuten geleistet hatte, für einen Menschen – relativ betrachtet – etwa folgende Tätigkeit bedeuten würde: zwei je achthundert Pfund schwere Pferde zusammenzubinden, sie achtzehnhundert Fuß weit zu tragen, größtenteils über Steinblöcke von durchschnittlich sechs Fuß Höhe hinweg (nicht um sie herum), und im Laufe der Strecke eine Steilwand wie den Niagara sowie drei Kirchtürme von je hundertzwanzig Fuß Höhe zu erklettern und von oben herabzuspringen; und dann die Pferde an einem freiliegenden Ort abzusetzen, ohne dass sie jemand bewacht, und davonzueilen, um sich aus bloßer Eitelkeit einer anderen idiotischen Großtat zu widmen.
Die Wissenschaft hat kürzlich entdeckt, dass die Ameise nichts für den Winter zurücklegt. Das wird sie in gewissem Umfang aus der Literatur verbannen. Sie arbeitet nur, wenn Leute zuschauen, und auch dann nur, wenn der Beobachter unerfahren und wie ein Naturfreund aussieht und sich Notizen zu machen scheint. Das läuft auf Betrug hinaus und wird ihr in den Sonntagsschulen schaden. Sie besitzt nicht genug Urteilskraft, um auseinanderzuhalten, was zum Essen gut ist und was nicht. Das läuft auf Unwissenheit hinaus und wird den Respekt, den die Welt für sie hegt, beeinträchtigen. Sie kann nicht um einen Baumstumpf herumschlendern und dann wieder nach Hause finden. Das läuft auf Schwachsinn hinaus, und wenn diese vernichtende Tatsache erst einmal feststeht, werden vernünftige Leute aufhören, zu ihr aufzublicken, und gefühlvolle werden aufhören, sie zu verhätscheln. Ihr vielgerühmter Fleiß ist nur Eitelkeit und hohler Schein, weil sie niemals mit etwas zu Hause ankommt, womit sie loszieht. Das erledigt den letzten Rest ihres Rufes und vernichtet gänzlich ihren Hauptnutzen als moralische Kraft, da der Faulenzer infolgedessen zögern wird, ihr weiterhin nachzueifern. Es ist unbegreiflich merkwürdig, dass ein so offensichtlicher Humbug wie die Ameise so viele Völker an der Nase herumführen und das so viele Jahrhunderte durchhalten konnte, ohne entlarvt zu werden.

Quelle:
Mark Twain

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