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Die drei Schwestern

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Es war einmal ein reicher König, der war so reich, dass er glaubte, sein Reichtum könne gar nicht all werden, da lebte er in Saus und Braus, spielte auf goldenem Brett und mit silbernen Kegeln, und als das eine Zeitlang gewährt hatte, da nahm sein Reichtum ab, und darnach verpfändete er eine Stadt und ein Schloss nach dem andern, und endlich blieb nichts mehr übrig als ein altes Waldschloss. Dahin zog er nun mit der Königin und den drei Prinzessinnen, und sie mussten sich kümmerlich erhalten und hatten nichts mehr als Kartoffeln, die kamen alle Tage auf den Tisch. Einmal wollte der König auf die Jagd, ob er etwa einen Hasen schießen könnte, steckte sich also die Tasche voll Kartoffeln und ging aus. Es war aber in der Nähe ein großer Wald, in den wagte sich kein Mensch, weil fürchterliche Dinge erzählt wurden, was einem all darin begegne: Bären, die die Menschen auffräßen, Adler, die die Augen aushackten, Wölfe, Löwen und alle grausamen Tiere. Der König aber fürchtete sich kein bisschen und ging geradezu hinein. Anfangs sah er gar nichts, große mächtige Bäume standen da, aber es war alles still darunter; als er so eine Weile herumgegangen und hungrig geworden war, setzte er sich unter einen Baum und wollte seine Kartoffeln essen, da kam auf einmal aus dem Dickicht ein Bär hervor, trabte gerade auf ihn los und brummte: „Was unterstehst du dich, bei meinem Honigbaum zu sitzen? Das sollst du mir teuer bezahlen!“ Der König erschrak, reichte dem Bären seine Kartoffeln und wollte ihn damit besänftigen. Der Bär aber fing an zu sprechen und sagte: „Deine Kartoffeln mag ich nicht, ich will dich selber fressen, und davon kannst du dich nicht anders erretten, als dass du mir deine älteste Tochter gibst, wenn du das aber tust, gebe ich dir noch obendrein einen Zentner Gold.“ Der König, in der Angst, gefressen zu werden, sagte: „Die sollst du haben, lass mich nur in Frieden.“ Da wies ihm der Bär den Weg und brummte noch hintendrein: „In sieben Tagen komm ich und hol meine Braut.“
Der König aber ging getrost nach Haus und dachte, der Bär wird doch nicht durch ein Schlüsselloch kriechen können, und weiter soll gewiss nichts offen bleiben. Da ließ er alle Tore verschließen, die Zugbrücken aufziehen und hieß seine Tochter gutes Muts sein, damit sie aber recht sicher vor dem Bärenbräutigam war, gab er ihr ein Kämmerlein hoch unter der Zinne, darin sollte sie versteckt bleiben, bis die sieben Tage herum wären. Am siebenten Morgen aber ganz früh, wie noch alles schlief, kam ein prächtiger Wagen, mit sechs Pferden bespannt und von vielen golden gekleideten Reitern umringt, nach dem Schloss gefahren, und wie er davor war, ließen sich die Zugbrücken von selber herab, und die Schlösser sprangen ohne Schlüssel auf. Da fuhr der Wagen in den Hof, und ein junger schöner Prinz stieg heraus, und wie der König von dem Lärm aufwachte und zum Fenster hinaussah, sah er, wie der Prinz schon seine älteste Tochter oben aus dem verschlossenen Kämmerlein geholt und eben in den Wagen hob, und er konnte ihr nur noch nachrufen:
„Ade! du Fräulein traut,
fahr hin, du Bärenbraut!“
Sie winkte ihm mit ihrem weißen Tüchlein noch aus dem Wagen, und dann ging’s fort, als war der Wind vorgespannt, immer in den Zauberwald hinein. Dem König aber war’s recht schwer ums Herz, dass er seine Tochter an einen Bären hingegeben hatte, und weinte drei Tage mit der Königin, so traurig war er. Am vierten Tag aber, als er sich ausgeweint hatte, dachte er, was geschehen, ist einmal nicht zu ändern, stieg hinab in den Hof, da stand eine Kiste von Ebenholz und war gewaltig schwer zu heben, alsbald fiel ihm ein, was ihm der Bär versprochen hatte, und machte sie auf, da lag ein Zentner Goldes darin und glimmerte und flimmerte.
Wie der König das Gold erblickte, ward er getröstet und löste seine Städte und sein Reich ein und fing das vorige Wohlleben von vorne an. Das dauerte so lang, als der Zentner Gold dauerte, darnach musste er wieder alles verpfänden und auf das Waldschloss zurückziehen und Kartoffeln essen. Der König hatte noch einen Falken, den nahm er eines Tags mit hinaus auf das Feld und wollte mit ihm jagen, damit er etwas Besseres zu essen hätte. Der Falk stieg auf und flog nach dem dunkeln Zauberwald zu, in den sich der König nicht mehr getraute, kaum aber war er dort, so schoss ein Adler hervor und verfolgte den Falken, der zum König floh. Der König wollte mit seinem Spieß den Adler abhalten, der Adler aber packte den Spieß und zerbrach ihn wie ein Schilfrohr, dann zerdrückte er den Falken mit einer Kralle, die andern aber hackte er dem König in die Schulter und rief: „Warum störst du mein Luftreich, dafür sollst du sterben, oder du gibst mir deine zweite Tochter zur Frau!“ Der König sagte: „Ja, die sollst du haben, aber was gibst du mir dafür?“ „Zwei Zentner Gold“, sprach der Adler, „und in sieben Wochen komm ich und hol sie ab“; dann ließ er ihn los und flog fort in den Wald.
Der König war betrübt, dass er seine zweite Tochter auch einem wilden Tiere verkauft hatte, und getraute sich nicht, ihr etwas davon zu sagen. Sechs Wochen waren herum, in der siebenten ging die Prinzessin hinaus auf einen Rasenplatz vor der Burg und wollte ihre Leinwand begießen, da kam auf einmal ein prächtiger Zug von schönen Rittern, und zuvorderst ritt der allerschönste, der sprang ab und rief:
„Schwing, schwing dich auf, du Fräulein traut, komm mit, du schöne Adlerbraut!“
Und eh sie ihm antworten konnte, hatte er sie schon aufs Ross gehoben und jagte mit ihr in den Wald hinein, als flöge ein Vogel: Ade! Ade!!
In der Burg warteten sie lang auf die Prinzessin, aber die kam nicht und kam nicht, da entdeckte der König endlich, dass er einmal in der Not sie einem Adler versprochen, und der werde sie geholt haben. Als aber bei dem König die Traurigkeit ein wenig herum war, fiel ihm das Versprechen des Adlers ein, und er ging hinab und fand auf dem Rasen zwei goldne Eier, jedes einen Zentner schwer. Wer Gold hat, ist fromm genug, dachte er und schlug sich alle schwere Gedanken aus dem Sinn! Da fing das lustige Leben von neuem an und währte so lang, bis die zwei Zentner Gold auch durchgebracht waren, dann kehrte der König wieder ins Waldschloss zurück, und die Prinzessin, die noch übrig war, musste die Kartoffeln sieden.
Der König wollte keine Hasen im Wald und keine Vögel in der Luft mehr jagen, aber einen Fisch hätte er gern gegessen. Da musste die Prinzessin ein Netz stricken, damit ging er zu einem Teich, der nicht weit von dem Wald lag. Weil ein Nachen darauf war, setzte er sich ein und warf das Netz, da fing er auf einen Zug eine Menge schöner rot gefleckter Forellen. Wie er aber damit ans Land wollte, stand der Nachen fest, und er konnte ihn nicht loskriegen, er mochte sich stellen, wie er wollte. Da kam auf einmal ein gewaltiger Walfisch dahergeschnaubt: „Was fängst du mir meine Untertanen weg, das soll dir dein Leben kosten!“ Dabei sperrte er seinen Rachen auf, als wollte er den König samt dem Nachen verschlingen. Wie der König den entsetzlichen Rachen sah, verlor er allen Mut, da fiel ihm seine dritte Tochter ein, und er rief: „Schenk mir das Leben, und du sollst meine jüngste Tochter haben.“ „Meinetwegen“, brummte der Walfisch, „ich will dir auch etwas dafür geben; Gold hab ich nicht, das ist mir zu schlecht, aber der Grund meines Sees ist mit Zahlperlen gepflastert, davon will ich dir drei Säcke voll geben: im siebenten Mond komm ich und hol meine Braut.“ Dann tauchte er unter.
Der König trieb nun ans Land und brachte seine Forellen heim, aber als sie gebacken waren, wollt er keine davon essen, und wenn er seine Tochter ansah, die einzige, die ihm noch übrig war, und die schönste und liebste von allen, war’s ihm, als zerschnitten tausend Messer sein Herz. So gingen sechs Monat herum, die Königin und die Prinzessin wussten nicht, was dem König fehle, der in all der Zeit keine vergnügte Miene machte. Im siebenten Mond stand die Prinzessin gerade im Hof vor einem Röhrbrunnen und ließ ein Glas vollaufen, da kam ein Wagen mit sechs weißen Pferden und ganz silbernen Leuten angefahren, und aus dem Wagen stieg ein Prinz, so schön, dass sie ihr Lebtag keinen schönern gesehen hatte, und bat sie um ein Glas Wasser. Und wie sie ihm das reichte, das sie in der Hand hielt, umfasste er sie und hob sie in den Wagen, und dann ging’s wieder zum Tor hinaus, über das Feld nach dem Teich zu.
„Ade, du Fräulein traut,
fahr hin, du schöne Walfischbraut!“
Die Königin stand am Fenster und sah den Wagen noch in der Ferne, und als sie ihre Tochter nicht sah, fiel’s ihr schwer aufs Herz, und sie rief und suchte nach ihr allenthalben; sie war aber nirgends zu hören und zu sehen. Da war es gewiss, und sie fing an zu weinen, und der König entdeckte ihr nun: ein Walfisch werde sie geholt haben, dem hab er sie versprechen müssen, und darum wäre er immer so traurig gewesen; er wollte sie auch trösten und sagte ihr von dem großen Reichtum, den sie dafür bekommen würden, die Königin wollt aber nichts davon wissen und sprach, ihr einziges Kind sei ihr lieber gewesen als alle Schätze der Welt. Während der Walfischprinz die Prinzessin geraubt, hatten seine Diener drei mächtige Säcke in das Schloss getragen, die fand der König an der Tür stehen, und als er sie aufmachte, waren sie voll schöner großer Zahlperlen, so groß wie die dicksten Erbsen. Da war er auf einmal wieder reich und reicher, als er je gewesen; er löste seine Städte und Schlösser ein, aber das Wohlleben fing er nicht wieder an, sondern war still und sparsam, und wenn er daran dachte, wie es seinen drei lieben Töchtern bei den wilden Tieren ergehen möchte, die sie vielleicht schon aufgefressen hätten, verging ihm alle Lust.
Die Königin aber wollt sich gar nicht trösten lassen und weinte mehr Tränen um ihre Tochter, als der Walfisch Perlen dafür gegeben hatte. Endlich ward’s ein wenig stiller, und nach einiger Zeit ward sie wieder ganz vergnügt, denn sie brachte einen schönen Knaben zur Welt, und weil Gott das Kind so unerwartet geschenkt hatte, ward es Reinald das Wunderkind genannt. Der Knabe ward groß und stark, und die Königin erzählte ihm oft von seinen drei Schwestern, die in dem Zauberwald von drei Tieren gefangen gehalten würden. Als er sechzehn Jahr alt war, verlangte er von dem König Rüstung und Schwert, und als er es nun erhalten, wollte er auf Abenteuer ausgehen, gesegnete seine Eltern und zog fort.
Er zog aber geradezu nach dem Zauberwald und hatte nichts anders im Sinn, als seine Schwestern zu suchen. Anfangs irrte er lange in dem großen Walde herum, ohne einem Menschen oder einem Tiere zu begegnen. Nach drei Tagen aber sah er vor einer Höhle eine junge Frau sitzen und mit einem jungen Bären spielen; einen andern, ganz jungen, hatte sie auf ihrem Schoß liegen. Reinald dachte, das ist gewiss meine älteste Schwester, ließ sein Pferd zurück und ging auf sie zu: „Liebste Schwester, ich bin dein Bruder Reinald, und bin gekommen, dich zu besuchen.“ Die Prinzessin sah ihn an, und da er ganz ihrem Vater glich, zweifelte sie nicht an seinen Worten, erschrak und sprach: „Ach liebster Bruder, eil und lauf fort, was du kannst, wenn dir dein Leben lieb ist, kommt mein Mann, der Bär, nach Haus und findet dich, so frisst er dich ohne Barmherzigkeit.“ Reinald aber sprach: „Ich fürchte mich nicht und weiche auch nicht von dir, bis ich weiß, wie es um dich steht.“ Wie die Prinzessin sah, dass er nicht zu bewegen war, führte sie ihn in ihre Höhle, die war finster und wie eine Bärenwohnung; auf der einen Seite lag ein Haufen Laub und Heu, worauf der Alte und seine Jungen schliefen, aber auf der andern Seite stand ein prächtiges Bett von rotem Zeug mit Gold, das gehörte der Prinzessin. Unter das Bett hieß sie ihn kriechen und reichte ihm etwas hinunter zu essen. Es dauerte nicht lang, so kam der Bär nach Haus: „Ich wittre, wittre Menschenfleisch“, und wollte seinen dicken Kopf unter das Bett stecken. Die Prinzessin aber rief: „Sei ruhig, wer soll hier hineinkommen!“ „Ich hab ein Pferd im Wald gefunden und gefressen“, brummte er und hatte noch eine blutige Schnauze davon, „dazu gehört ein Mensch, und den riech ich“, und wollte wieder unter das Bett. Da gab sie ihm einen Fußtritt in den Leib, dass er einen Burzelbaum machte, auf sein Lager ging, die Tatze ins Maul nahm und einschlief.
Alle sieben Tage war der Bär in seiner natürlichen Gestalt und ein schöner Prinz und seine Höhle ein prächtiges Schloss, und die Tiere im Wald waren seine Diener. An einem solchen Tage hatte er die Prinzessin abgeholt; schöne junge Frauen kamen ihr vor dem Schloss entgegen, es war ein herrliches Fest, und sie schlief in Freuden ein, aber als sie erwachte, lag sie in einer dunkeln Bärenhöhle, und ihr Gemahl war ein Bär geworden und brummte zu ihren Füßen, nur das Bett und alles, was sie angerührt hatte, blieb in seinem natürlichen Zustand unverwandelt. So lebte sie sechs Tage in Leid, aber am siebenten ward sie getröstet, und da sie nicht alt ward und nur der eine Tag ihr zugerechnet wurde, so war sie zufrieden mit ihrem Leben. Sie hatte ihrem Gemahl zwei Prinzen geboren, die waren auch sechs Tage lang Bären und am siebenten in menschlicher Gestalt. Sie steckte sich jedes Mal ihr Bettstroh voll von den köstlichsten Speisen, Kuchen und Früchten, davon lebte sie die ganze Woche, und der Bär war ihr auch gehorsam und tat, was sie wollte.
Als Reinald erwachte, lag er in einem seidenen Bett, Diener kamen, ihm aufzuwarten und ihm die reichsten Kleider anzutun, denn es war gerade der siebente Tag eingefallen. Seine Schwester mit zwei schönen Prinzen und sein Schwager Bär traten ein und freuten sich seiner Ankunft. Da war alles in Pracht und Herrlichkeit und der ganze Tag voll Lust und Freude; am Abend aber sagte die Prinzessin: „Lieber Bruder, nun mach, dass du fort kommst, mit Tagesanbruch nimmt mein Gemahl wieder Bärengestalt an, und findet er dich morgen noch hier, kann er seiner Natur nicht widerstehen und frisst dich auf.“ Da kam der Prinz Bär und gab ihm drei Bärenhaare und sagte: „Wenn du in Not bist, so reib daran, und ich will dir zu Hülfe kommen.“ Darauf küssten sie sich und nahmen Abschied, und Reinald stieg in einen Wagen, mit sechs Rappen bespannt, und fuhr fort. So ging’s über Stock und Stein, bergauf, bergab, durch Wüsten und Wälder, Horst und Hecke, ohne Ruh und Rast, bis gegen Morgen, als der Himmel anfing, grau zu werden, da lag Reinald auf einmal auf der Erde, und Ross und Wagen war verschwunden, und beim Morgenrot erblickte er sechs Ameisen, die galoppierten dahin und zogen eine Nussschale.
Reinald sah, dass er noch in dem Zauberwald war, und wollte seine zweite Schwester suchen. Wieder drei Tage irrte er umsonst in der Einsamkeit, am vierten aber hörte er einen großen Adler daherrauschen, der sich auf ein Nest niederließ. Reinald stellte sich ins Gebüsch und wartete, bis er wieder wegflog, nach sieben Stunden hob er sich auch wieder in die Höhe. Da kam Reinald hervor, trat vor den Baum und rief: „Liebste Schwester, bist du droben, so lass mich deine Stimme hören, ich bin Reinald, dein Bruder, und bin gekommen, dich zu besuchen!“ Da hörte er es herunter rufen: „Bist du Reinald, mein liebster Bruder, den ich noch nicht gesehen habe, so komm herauf zu mir.“ Reinald wollte hinaufklettern, aber der Stamm war zu dick und glatt, dreimal versuchte er’s, aber umsonst, da fiel eine seidene Strickleiter hinab, auf der stieg er bald zu dem Adlernest, das war stark und fest wie eine Altane auf einer Linde. Seine Schwester saß unter einem Thronhimmel von rosenfarbener Seide, und auf ihrem Schoß lag ein Adlerei, das hielt sie warm und wollt es ausbrüten. Sie küssten sich und freuten sich, aber nach einer Weile sprach die Prinzessin: „Nun eil, liebster Bruder, dass du fort kommst, sieht dich der Adler, mein Gemahl, so hackt er dir die Augen aus und frisst dir das Herz ab, wie er dreien deiner Diener getan, die dich im Walde suchten.“ Reinald sagte: „Nein, ich bleibe hier, bis dein Gemahl verwandelt wird.“ „Das geschieht erst in sechs Wochen, doch wenn du es aushalten kannst, steck dich in den Baum, der inwendig hohl ist, ich will dir alle Tage Essen hinunterreichen.“ Reinald kroch in den Baum, die Prinzessin ließ ihm alle Tage Essen hinunter, und wenn der Adler wegflog, kam er herauf zu ihr. Nach sechs Wochen geschah die Umwandlung, da erwachte Reinald wieder in einem Bett wie bei seinem Schwager Bär, nur dass alles noch prächtiger war, und er lebte sieben Tage bei dem Adlerprinz in aller Freude. Am siebenten Abend nahmen sie Abschied, der Adler gab ihm drei Adlerfedern und sprach: „Wenn du in Not bist, so reib daran, und ich will dir zu Hülfe kommen.“ Dann gab er ihm Diener mit, ihm den Weg zu zeigen, als aber der Morgen kam, waren sie auf einmal fort und Reinald in einer furchtbaren Wildnis auf einer hohen Felsenwand allein.
Reinald blickte um sich her, da sah er in der Ferne den Spiegel einer großen See, auf dem eben die ersten Sonnenstrahlen glänzten. Er dachte an seine dritte Schwester, und dass sie dort sein werde. Da fing er an hinab zu steigen und arbeitete sich durch die Büsche und zwischen den Felsen durch; drei Tage verbrachte er damit und verlor oft den See aus den Augen, aber am vierten Morgen gelangte er hin. Er stellte sich an das Ufer und rief: „Liebste Schwester, bist du darin, so lass mich deine Stimme hören, ich bin Reinald, dein Bruder, und bin gekommen, dich zu besuchen“; aber es antwortete niemand, und war alles ganz still. Er bröselte Brotkrumen ins Wasser und sprach zu den Fischen: „Ihr lieben Fische, geht hin zu meiner Schwester und sagt ihr, dass Reinald das Wunderkind da ist und zu ihr will.“ Aber die rot gefleckten Forellen schnappten das Brot auf und hörten nicht auf seine Worte. Da sah er einen Nachen, alsbald warf er seine Rüstung ab und behielt nur sein blankes Schwert in der Hand, sprang in das Schiff und ruderte fort. So war er lang geschwommen, als er einen Schornstein von Bergkristall über dem Wasser ragen sah, aus dem ein angenehmer Geruch hervor stieg. Reinald ruderte darauf hin und dachte, da unten wohnt gewiss meine Schwester, dann setzte er sich in den Schornstein und rutsche hinab. Die Prinzessin erschrak recht, als sie auf einmal ein Paar Menschenbeine im Schornstein zappeln sah, bald kam ein ganzer Mann herunter und gab sich als ihren Bruder zu erkennen. Da freute sie sich von Herzen, dann aber ward sie betrübt und sagte: „Der Walfisch hat gehört, dass du mich aufsuchen willst, und hat geklagt, wenn du kämst und er sei Walfisch, könne er seiner Begierde, dich zu fressen, nicht widerstehen und würde mein kristallenes Haus zerbrechen, und dann würde ich auch in den Wasserfluten umkommen.“ „Kannst du mich nicht so lang verbergen, bis die Zeit kommt, wo der Zauber vorbei ist?“ „Ach nein, wie sollte das gehen, siehst du nicht, die Wände sind alle von Kristall und ganz durchsichtig“, doch sann sie und sann, endlich fiel ihr die Holzkammer ein, da legte sie das Holz so künstlich, dass von außen nichts zu sehen war, und dahinein versteckte sie das Wunderkind. Bald darauf kam der Walfisch, und die Prinzessin zitterte wie Espenlaub, er schwamm ein paar Mal um das Kristallhaus, und als er ein Stückchen von Reinalds Kleid aus dem Holz hervorgucken sah, schlug er mit dem Schwanz, schnaubte gewaltig, und wenn er mehr gesehen, hätte er gewiss das Haus eingeschlagen. Jeden Tag kam er einmal und schwamm darum, bis endlich im siebenten Monat der Zauber aufhörte. Da befand sich Reinald in einem Schloss, das an Pracht gar des Adlers seines übertraf und mitten auf einer schönen Insel stand; nun lebte er einen ganzen Monat mit seiner Schwester und Schwager in aller Lust, als der aber zu Ende war, gab ihm der Walfisch drei Schuppen und sprach: „Wenn du in Not bist, so reib daran, und ich will dir zu Hülfe kommen“, und ließ ihn wieder ans Ufer fahren, wo er noch seine Rüstung fand.
Das Wunderkind zog darauf sieben Tage in der Wildnis weiter, und sieben Nächte schlief es unter freiem Himmel, da erblickte es ein Schloss mit einem Stahltor und einem mächtigen Schloss daran. Vorn aber ging ein schwarzer Stier mit funkelnden Augen und bewachte den Eingang. Reinald ging auf ihn los und gab ihm auf den Hals einen gewaltigen Streich, aber der Hals war von Stahl, und das Schwert zerbrach darauf, als wäre es Glas. Er wollte seine Lanze brauchen, aber die zerknickte wie ein Strohhalm, und der Stier fasste ihn mit den Hörnern und warf ihn in die Luft, dass er auf den Ästen eines Baums hängen blieb. Da besann sich Reinald in der Not auf die drei Bärenhaare, rieb sie in der Hand, und in dem Augenblick kam ein Bär dahergetrabt, kämpfte mit dem Stier und zerriss ihn. Aber aus dem Bauch des Stiers flog ein Entvogel in die Höhe und eilig weiter; da rieb Reinald die drei Adlerfedern, alsbald kam ein mächtiger Adler durch die Luft und verfolgte den Vogel, der gerade nach einem Weiher floh, schoss auf ihn herab und zerfleischte ihn; aber Reinald hatte gesehen, wie er noch ein goldnes Ei hatte ins Wasser fallen lassen. Da rieb er die drei Fischschuppen in der Hand, gleich kam ein Walfisch geschwommen, verschluckte das Ei und spie es ans Land. Reinald nahm es und schlug es mit einem Stein auf, da lag ein kleiner Schlüssel darin, und das war der Schlüssel, der die Stahltür öffnete. Und wie er sie nur damit berührte, sprang sie von selber auf, und er trat ein, und vor den andern Türen schoben sich die Riegel von selber zurück, und durch ihrer sieben trat er in sieben prächtige hell erleuchtete Kammern, und in der letzten Kammer lag eine Jungfrau auf einem Bett und schlief. Die Jungfrau war aber so schön, dass er ganz geblendet davon ward, er wollte sie aufwecken, das war aber vergebens, sie schlief so fest, als wäre sie tot. Da schlug er vor Zorn auf eine schwarze Tafel, die neben dem Bett stand; in dem Augenblick erwachte die Jungfrau, fiel aber gleich wieder in den Schlaf zurück, da nahm er die Tafel und warf sie auf den steinernen Boden, dass sie in tausend Stücken zersprang. Kaum war das geschehen, so schlug die Jungfrau die Augen hell auf, und der Zauber war gelöst. Sie war aber die Schwester von den drei Schwägern Reinalds, und weil sie einem gottlosen Zauberer ihre Liebe versagt, hatte er sie in den Todesschlaf gesenkt und ihre Brüder in Tiere verwandelt, und das sollte so lang währen, als die schwarze Tafel unversehrt blieb.
Reinald führte die Jungfrau heraus, und wie er vor das Tor kam, da ritten von drei Seiten seine Schwäger heran und waren nun erlöst, und mit ihnen ihre Frauen und Kinder, und die Adlerbraut hatte das Ei ausgebrütet und ein schönes Fräulein auf dem Arm; da zogen sie alle zu dem alten König und der alten Königin, und das Wunderkind brachte seine drei Schwestern mit nach Haus, und bald vermählte es sich mit der schönen Jungfrau; da war Freude und Lust in allen Ecken; und die Katz läuft nach Haus, mein Märchen ist aus.

Quelle: Brüder Grimm

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